Die Kolumne
Michalis Pantelouris ist Journalist und hat an vielen Magazin-Erfindungen und -Relaunches mitgewirkt. Er geht für uns jede Woche zum Bahnhofskiosk, um Zeitschriften zu entdecken.
Michalis Pantelouris ist Journalist und hat an vielen Magazin-Erfindungen und -Relaunches mitgewirkt. Er geht für uns jede Woche zum Bahnhofskiosk, um Zeitschriften zu entdecken.
Wir alle wachen morgens auf und suchen unseren Platz in der Welt. Es ist der urmenschlichste Impuls: Sobald wir nicht mehr frieren, hungern oder sonst irgendwie um unser Leben fürchten, suchen wir den Ort, an den wir gehören, inner- und äußerlich. Wir überprüfen und justieren uns dabei ständig, und eines der wichtigsten Werkzeuge dieser ständigen Wartung ist, dass wir einander Geschichten erzählen. Jede Geschichte gibt uns wieder die Möglichkeit, ein weiteres Spurenelement zur hoffentlich einzigartigen Mischung unseres Lebens hinzuzufügen. Die Frage ist dabei regelmäßig binär: Wo möchtest du dazugehören? Wovon grenzt du dich ab? Was würdest du tun?
In dem Kanon der Informationen, die jeder Mensch jeden Tag zu sich nimmt, kommt Journalisten eine besondere Funktion zu. Sie erzählen Geschichten mit den technischen und ästhetischen Mitteln der Künstler, aber ihr Rohmaterial beschränkt sich auf Fakten. Sie sind Informationshandwerker, manchmal Informations-Kunsthandwerker, aber sie bleiben an die Fakten gebunden. Das mal vorweg.*
Weil es anstrengend ist, seinen Platz zu suchen, innerlich und äußerlich, in der Herde und auf dem Planeten, entwickeln wir Abkürzungen zu temporären Orten der Zugehörigkeit. Wir suchen Dinge, die wir tun, bei denen wir sofort fühlen, dass wir am richtigen Ort sind. Das können Betäubungsmittel sein oder Yoga, Sex oder Modelleisenbahnbau, Musikhören oder -machen. Bei erstaunlich vielen Leuten funktioniert es so, dass sie sich bunte Turnschuhe anziehen und loslaufen. Dann sind sie bei sich selbst. Der Weg ist ihr Ziel, so lange sie ihn rennend zurücklegen.
„Runner’s World – Das größte Laufmagazin der Welt“ ist ein Heft für solche Menschen. Auch wenn es das selbst so nie formuliert. Vielleicht weiß es das gar nicht. Rein formal betrachtet ist das Thema von „Runner’s World“ die Selbstoptimierung des laufenden Körpers durch Training, Ernährung und Equipment – wie wir alle sind auch Läufer heute offenbar nicht besonders gut darin, die Reise ihrer Seele zu beschreiben. So etwas überlassen wir Künstlern und sprechen lieber über Equipment, das bei Läufern natürlich ein bisschen begrenzt ist, weil man praktisch keins braucht, aber darum geht es wahrscheinlich auch gar nicht wirklich.
Ich möchte die These aufstellen: Was der Leser einer Laufzeitschrift sucht, ist eine emotionale Brücke hinüber in das Laufgefühl in Zeiten, in denen er gerade nicht läuft. „Sechs einfache Hähnchen-Rezepte für Läufer“ sind an sich wahrscheinlich nichts, das zu lesen ich wertvolle Lebenszeit einsetzen würde, aber die Assoziation, wie gut diese speziellen Geflügelportionen meinem dann schlank und sehnig wirkenden Körper tun werden, wenn ich mit meinen perfekt auf meinen Laufstil abgestimmten, von einer endlichen Zahl Affen auf LSD gestalteten High-Tech-Turnschuhen rehgleich durch den Park springe, kann einen befriedigenden Moment schaffen.
Es ist einer der Widersprüche beim Machen von Magazinen, dass Menschen Rezepte kaufen, sie aber meistens nicht nachkochen. Läufer lesen offenbar regelmäßig Laufschuhtests, obwohl sie wahrscheinlich höchstens ein- oder zweimal im Jahr wirklich neue Schuhe kaufen. Oder Jacken mit Leuchtstreifen und Funktionsoberteile mit wärmend angerauter Innenseite. Dabei geht es meiner Meinung nach weniger um den Informationswert des Tests, sondern eben um die Assoziation, die er auslöst. Ich lese, also laufe ich in Gedanken. Wer einen Geländewagen kauft, fährt damit meist auch nicht ins Gelände, sondern zu Edeka.
Ich schreibe das natürlich auch deswegen alles, weil „Runner’s World“ für Menschen wie mich, die zwar gelegentlich auch mal laufen, dabei aber kein Glück spüren sondern ihre Knie, ein bemerkenswert unbemerkenswertes Heft ist. Mir war sehr lange nichts so egal wie dieses Magazin. Rein als Zeitschrift halte ich nichts daran für so gut, dass es mich freut, oder für so schlecht, dass es mich ärgert. Es ist ein professionell gemachtes Heft, alles irgendwie okay, aber meiner Meinung nach nicht genug, um damit nachhaltig dem sicher auch unter Läufern verbreiteten Trend hin zu digitalen Medien etwas entgegenzusetzen.
Ein wunderschönes Detail habe ich allerdings gefunden (neben einem sehr schönen, nebligen Eingangsfoto am Anfang, das war auch toll): In der wahrscheinlich regelmäßig erscheinenden Rubrik „Warum wir laufen“ wurde sechs Läufern direkt nach der Ziellinie des Berlin-Marathons die Frage gestellt „Warum läufst du einen Marathon?“ Martin, ein 48-jähriger Bankangestellter antwortet darauf: „[…] Bei langen Distanzen schütte ich viele Endorphine aus und kann gut entspannen.“ Wie unfassbar ist das? Er entspannt bei einem Marathon? Teufelskerl!
Das ist es, was ich meine. Das ist sein Ort. Die Preisfrage wäre: Kann er sich auch entspannen, wenn er ein Magazin liest, dass über Laufschuh-Informationen Assoziationen an seinen Platz weckt und ihn sozusagen innerlich an „seinen Ort“ bringt? Manche Zeitschriften können das nämlich, wie Bücher ja oft auch, sie sind beim Lesen schon Ort genug, nicht nur eine emotionale Brücke.
Ich bin der Meinung, es sind diese Zeitschriften, die nachhaltig überleben werden.
Titelzeile auf „Runner’s World“ ist übrigens: „Bewiesen – Läufer leben länger“. Das nimmt ein bisschen den Schluss der wirklich faktenreichen Geschichte über die sich teilweise widersprechenden Studien zu diesem Thema vorweg, was schade ist. Der schlechteste Eindruck, den man von einer Geschichte – oder einer Zeitschrift – haben kann, wäre ja, man müsste sie gar nicht mehr lesen. Allerdings könnte man dann stattdessen endlich mal wieder laufen gehen**.
Runner’s World
Rodale-Motor-Presse GmbH & Co KG
4,50 Euro
*) Insiderinformation: Bis zu diesem Punkt habe ich in der Regel in dieser Kolumne virtuos mindestens vier Sätze oder Absätze in Klammern gesetzt, manchmal sogar ganz großkotzig mit weiteren Klammern in den Klammern, die regelmäßig von missmutigen Redaktionsdiktatoren in den ehrwürdigen, von Star-Architekten gestalteten Hallen der Übermedien-Redaktion (ich war noch nie da, aber irgendwie so wird es sein) aufgelöst und der stromlinienförmigen Interpunktion der tl;dr-Ära geopfert werden (danke, Merkel!). Diesmal bin ich ohne Klammern ausgekommen, weil ich den Eindruck vermeiden will, ich benutzte sie, weil ich nicht anders könnte. Kann ich! Ich will nur nicht! Wartet nur auf nächste Woche!
**) Bestmöglich absurde Wortkombination: laufen gehen. Beschreibt es bei mir aber ganz gut.
Bedeutet das, ich lese Übermedien, um mich kritisch und meta-nachdenklich zu fühlen, während ich das gerade gar nicht tue? Ist dies mein Lifestyle-Magazin über’s aufmerksam Medien anschauen, das ich lese während ich gerade nicht aufmerksam die Medien anschaue?
Ja.
Wie hat der Mann es geschafft, beim Berlin-Marathon zu entspannen? Ich konnte da gar nicht in den Flow kommen, weil es so viel zu sehen gab, bei der netten Volksfest-Atmosphäre (erm, nein, mein Körper ist nicht und war nie rehgleich. Das war mein einziger Marathon, nette Erfahrung, mehr muss nicht*).
Netter Bericht, Michaelis, danke schön. Und sehr interessante These über die Gründe, solche Zeitschriften zu lesen. Zugegebenermaßen, ich stricke auch, während ich meine Strickzeitschriften lese, da findet also keine solche Übertragung statt, aber bei z.B. der Landlust (bzw. der hiesigen Entsprechung*) kann ich mir das sehr gut vorstellen.
*Klammern for President! Hoch die Klammer! Klammert! Klammert, doppelt und dreifach, goddammich! :)
„Schlafen gehen“ könnte das noch toppen oder ist zumindest dicht dran.
Ich kann mir vorstellen, das man beim Lesen so eines Magazins bei Seinesgleichen ist, zumindest mental, was ja auch schön sein kann.
Technische Aufrüstung ist bei mir gefährlich. Schon paar mal bemerkt, dass wenn ich quasi alles habe, was man zur Ausübung eines Sports benötigt, ich das Interesse daran verliere.
Deswegen habe ich als (regelmässig unregelmässig) laufender Läufer nur in Funktionshemd, Outlet-Laufschuh und Läufer-App investiert.
Jetzt weiß ich, warum ich mich bei Pantelouris-Texten immer so aufgehoben fühle: Der Mann leidet – genau wie ich – an Parenthesitis!
„Es ist einer der Widersprüche beim Machen von Magazinen, dass Menschen Rezepte kaufen, sie aber meistens nicht nachkochen. Läufer lesen offenbar regelmäßig Laufschuhtests, obwohl sie wahrscheinlich höchstens ein- oder zweimal im Jahr wirklich neue Schuhe kaufen.“
Ich weiß gar nicht. Mir erschließt sich der konzessive Aspekt nicht ganz, und der Widerspruch.
Ich lese ja auch nicht über Politik, „obwohl“ ich nur alle paar Jahre wählen gehe(n darf. Ich persönlich gehe ja nicht. Aber darum geht es hier nicht. Ich erwähne es trotzdem. Weil das mein Platz ist. Schätze ich.), und der regelmäßig aufgefrischte Erste-Hilfe-Kurs widerspricht sich nicht unbedingt mit dem Umstand, dass ich hoffentlich nur wenige Male im Leben eine Anwendung dafür finde.