Erregung und Ärgernis (11)

Aufstieg und Fall großer Experten

Der Kinderpsychiater Michael Winterhoff galt einmal als „Erziehungsberater der Nation“, obwohl seine Thesen in der Fachwelt hochumstritten sind. Jetzt wird ihm vor Gericht gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Welche Rolle spielen in dieser Geschichte die Medien, die Winterhoff jahrelang geradezu hofierten?

Eine ARD-Doku beleuchtet den Fall Winterhoff ausführlich. Screenshot: WDR/Midjourney/KNA/Peter Wirtz

In der vorigen Ausgabe dieser Kolumne hatte ich den Fall des Psychiaters Michael Winterhoff bereits kurz erwähnt. Gegen ihn läuft derzeit am Landgericht Bonn ein Prozess wegen gefährlicher Körperverletzung. Unter anderem soll er zahlreiche Kinder auf eine nachhaltig schädliche Art medikamentös behandelt haben.

Über den Fall wurde viel berichtet. So lief etwa in der ARD die Dokumentation „Der Kinderpsychiater – Die Macht des Dr. Winterhoff“, in der auch zahlreiche der Opfer zu Wort kommen. Sie berichten davon, in den von Winterhoff mitbetreuten Einrichtungen auf eine gewaltvolle Art behandelt worden zu sein. Viele leiden bis heute darunter.

Die Medien haben ihn groß gemacht

Der Fall Winterhoff ist aber auch eine Geschichte über die Medien. Denn Winterhoff war lange Zeit ein begehrter Interviewpartner und gern gesehener Gast in Talkshows, wo er lautstark seine These eines angeblich weitverbreiteten frühkindlichen Narzissmus äußern konnte. Martin Spiewak kommentierte in der „Zeit“ daher, die Medien hätten Winterhoff „groß gemacht“. Dessen Thesen „von den Monsterkindern, Versagereltern und inkompetenten Bildungspolitikern“ hätten dem Autor eine mediale Allgegenwärtigkeit verschafft. Dank Maischberger, Anne Will oder „Stern TV“ sei er zum „bekanntesten Erziehungsberater der Nation“ geworden.

Auch die Dokumentation in der ARD geht auf diesen Aspekt des Skandals ein. In der ersten Folge, die den Titel „Der Star“ trägt, werden Szenen aus den zahlreichen TV-Auftritten eindrucksvoll zusammengeschnitten. Und der ehemalige Talkshow-Moderator Reinhold Beckmann, in dessen Sendung Winterhoff ebenfalls zu Gast war, kann sich sogar zu einer Form der Selbstkritik durchringen: „Im Nachhinein muss ich sagen, wir hätten das mehr hinterfragen müssen.“

Aber reichen diese Ansätze einer Selbstkritik aus, um eine medienethische Katastrophe wie den Fall Winterhoff angemessen aufzuarbeiten? Das grundsätzliche Problem, das dazu geführt hat, einen Mann wie Winterhoff „groß“ zu machen, sitzt schließlich tief in den Strukturen der Aufmerksamkeitsökonomie und lässt sich durch eine rasche und oberflächliche Thematisierung nicht wegwischen. Was fehlt, ist eine nachhaltige Reflexion darüber, wie in den Medien Experten „gemacht“ werden.

Immer schön die Ressentiments bedienen

Bei Winterhoff wie bei vielen anderen begann es damit, dass er einen Bestseller geschrieben hatte, der ein in der Gesellschaft waberndes Ressentiment aufgriff, und es in der Ästhetik der Expertenmeinung an die Öffentlichkeit verkaufte. „Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Oder: Die Abschaffung der Kindheit“, hieß dieser Bestseller, der 2008 im Gütersloher Verlagshaus veröffentlicht wurde. Das darin aufgegriffene Ressentiment ist altbewährt: Die heranwachsende Generation von Kindern ist verzogen und verhätschelt, die Erziehungsmethoden stecken in einer Krise.

Es handelt sich um eine gut eingeübte Paranoia. Bereits 2006 hatte Bernhard Bueb, der langjährige Schulleiter des „Eliteinternats“ Schloss Salem, mit seiner Streitschrift „Lob der Disziplin“ große Aufmerksamkeit erzeugt. Im Klappentext zu diesem Buch heißt es: „Es gibt keinen Konsens mehr darüber, wie man Kinder und Jugendliche erzieht, mit der fatalen Folge, dass viele Eltern verunsichert sind. Sie haben Skrupel, klare Regeln vorzugeben und Grenzen zu ziehen, und leiden gleichzeitig darunter, dass ihnen die Kinder auf der Nase herumtanzen.“

Das Schreckensszenario einer entfesselten Meute von Kindern, die ihren Eltern auf der Nase herumtanzen, ist einer der ältesten Bestandteile von Generationenkonflikten. Experten, die diesem Szenario ihre Autorität verleihen, werden daher immer gefragt sein. Autoren wie Bueb oder eben Winterhoff befriedigen diese Nachfrage. So heißt es im Klappentext von „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“: „Kleinkinder außer Rand und Band, Zehnjährige, für die Respekt vor Eltern und Lehrern ein Fremdwort ist, 17-Jährige, die nicht mehr arbeitsfähig sind – Kinder an die Macht?“

Die Vorstellung, dass Kinder, die zu den machtlosesten Menschen in unserer Gesellschaft gehören, mehr Macht bekommen sollten, wird hier direkt als Absurdität eines dekadenten pädagogischen Diskurses verhöhnt. Damit ist das gesellschaftliche Ressentiment mobilisiert, das ein Buch zum Bestseller machen kann.

Niemand hat recherchiert

Wie aber legitimiert sich die Autorschaft als Experte? Viele Menschen denken ja so, aber nicht alle dürfen darüber ein Buch schreiben oder Interviews geben. Im Fall von Bueb liefert die Erfahrung als Schulleiter die nötige Autorität, im Fall von Winterhoff seine professionelle Identität als Kinderpsychiater.

Diese Professionalität muss aber nicht sonderlich fundiert sein. Winterhoffs Theorie des frühkindlichen Narzissmus ist – das zeigt etwa die ARD-Dokumentation – im Feld der Kinderpsychiatrie höchst umstritten. Es handelt sich um die pädagogische Theorie eines Einzelgängers, der in seinem professionellen Umfeld alles andere als respektiert wurde. Kein „renommierter Kinderpsychiater oder Erziehungsexperte“, schreibt Martin Spiewak in der „Zeit“, habe seine Theorien aufgegriffen.

Das wäre durch einen Minimalaufwand an Recherche herauszufinden gewesen. Und so hätte von Anfang an klar sein müssen, dass Winterhoff kein angemessener Fachmann ist, um den medialen Diskurs über Kindererziehung derart zu dominieren.

Der Fall zeigt allerdings erneut, dass es in den Formaten, in denen Experten auftreten, nicht darum geht, über echte wissenschaftliche Erkenntnisse und Debatten zu informieren. Stattdessen geht es um die möglichst unterhaltsame Simulation solcher Debatten, in denen eigentlich nur weitverbreitete Ressentiments mit möglichst großem Identifikationspotential verhandelt werden.

Inszenierung statt Argumente

Winterhoff, mit seinem herrischen Auftreten und seinen klaren harten Thesen war eine perfekte Figur für das Diskurstheater, das dort jeden Tag inszeniert wird. Ein „Thema“ muss auf der Bühne dieses Theaters so aufbereitet werden, dass es die Aufmerksamkeit des Publikums bindet – und das gelingt am besten, wenn man es möglichst einfach und polemisch herunterbricht.

Debatte ist aus dieser Perspektive eben nie allein der Austausch von Argumenten, sondern immer auch Unterhaltung. Das ist der Grund dafür, warum Menschen wie Nina Hagen, Wolfgang Grupp, Jan Josef Liefers oder Sahra Wagenknecht in Talkshows zu Themen auftreten, bei denen sie eine allenfalls prekäre Expertise vertreten – sie liefern „gutes Fernsehen“, weil sie einen Standpunkt spektakulär vertreten können, der in der Lage ist, das Publikum emotional und politisch zu mobilisieren. Im Vordergrund stehen nicht die Argumente selbst, sondern die Qualität ihrer Inszenierung.

Tragen Medien eine Mitschuld am Leid der Kinder?

Das ist verantwortungslos – wird in Redaktion aber kaum reflektiert. Denn Medien haben die Macht, Macht zu verleihen – und die kann missbraucht werden. Man könnte daher sogar sagen: Die Medien, die Winterhoff „groß“ gemacht haben, tragen eine Mitschuld am Leid der Kinder und Eltern, die von Winterhoff behandelt wurden.

So wird in der ARD-Dokumentation von den Opfern immer wieder berichtet, dass die anfängliche Skepsis gegen die harschen Diagnosen und die verordneten Behandlungsmethoden vom Respekt, den man vor diesem doch bekannten Menschen hatte, weggeweht wurde. In seinem Artikel in der „Zeit“ berichtet Martin Spiewak von einer Mutter, die die Behandlung nicht sofort abgebrochen habe, obwohl Winterhoff sie wegen ihrer Erziehungsmethode regelrecht beschimpft habe: „Der Arzt hatte schließlich einen prominenten Namen.“

Prominenz und Autorität aber sind Produkte, die erst hergestellt werden müssen. Es sollte deshalb zur Aufarbeitung des Falles gehören, dass sich etwa die Redaktionen von Maischberger oder Lanz fragen, wie sie an dieser Produktion beteiligt waren. Es reicht nicht aus, eine Figur, die man mit großem Aufwand selbst aufgebaut hat, nun wiederum spektakulär abzureißen und weiterzuziehen. Ansonsten werden nur die Figuren, die man erst als Helden aufgebaut hat, ein zweites Mal als Schurken narrativ abgefrühstückt, während schon der nächste „Experte“ für das Diskurstheater aufgebaut wird.

4 Kommentare

  1. Danke für den Artikel, dem ich vollendst zustimme! Das ist ein sehr zentrales Thema, für das es vermutlich viele weitere auch sehr bedrückende Beispiele gibt: Und natürlich tragen Medien hier eine ganz entscheidende Mitverantwortung, was für Talkshows gilt, ebenso wie die Wahl von Interviewpartnern in Reportagen, O-Tönen auf der Straße usw…
    Und hin und wieder hat man eben schon den Eindruck, dass Person A oder B eher ausgewählt wurde, weil die Zitate knalliger sind und nicht, weil sie wirklich Expertise oder eine differenzierte Meinung mit sich bringt…

    „Es reicht nicht aus, eine Figur, die man mit großem Aufwand selbst aufgebaut hat, nun wiederum spektakulär abzureißen und weiterzuziehen. Ansonsten werden nur die Figuren, die man erst als Helden aufgebaut hat, ein zweites Mal als Schurken narrativ abgefrühstückt, während schon der nächste „Experte“ für das Diskurstheater aufgebaut wird.“
    > auf den Punkt getroffen!

    Ich hoffe, Übermedien und andere MedienjournalistInnen bleiben an dem Thema dran, vielleicht kann man dann ja sogar bereits begründete Kritik an dem einen oder der anderen ExpertIn anbringen, noch während die Person für das Diskurstheater aufgebaut wird. So ließe sich das Leid von Betroffenen verhindern und im Idealfall findet irgendwann mal ein Umdenken bei den Verantwortlichen statt…

  2. Das ist nur eines von leider sehr vielen Beispielen dafür, dass sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk inzwischen weitestgehend besinnungslos den Mechanismen bzw. Automatismen ausliefert, die den „Diskurs“ im durchkommerzialisierten Markt der elektronischen Medien bestimmen. Für diese Art des Eventjournalismus zählen allein Quote und Klickzahlen. Dabei wäre es seine Aufgabe, stets die Metaebene in den Vordergrund zu rücken und sowohl aktuelle wie auch – erst recht – langfristige (Klimakatastrophe!) Entwicklungen zu reflektieren, also gründlich und argumentativ differenziert aufzubereiten und einzuordnen. Dies kann und muss in jedem beliebigen Format (aktuelles Magazin, Talkshow, Reportage etc.) und laufend bzw. nachhaltig stattfinden und darf sich nicht auf gelegentliche Dokumentationen wie im Falle Winterhoff beschränken, die ohnehin mittlerweile viel zu selten produziert und zudem im Zweifel in den Programmnischen versteckt werden, wo sie dann kaum Resonanz finden. Dieses journalistische Grundverständnis ist leider sowohl der ARD (kein Wunder bei einer Programmdirektorin, die zuvor die Spielfilmtochter Degeto geführt hat) bzw. den Landesrundfunkanstalten (siehe deren verflachte „Dritte“ Fernsehprogramme sowie vor allem die meisten Hörfunkwellen) als auch dem ZDF (Tiefpunkt: Precht und Lanz) weitestgehend abhanden gekommen.

  3. Danke für diese gute Analyse. Leider bin ich völlig desillusioniert, dass die Medien, hier also Maischberger und Lanz, ihr eigenes Versagen auch nur ein bisschen angemessen aufarbeiten. Selbstkritik und kritische Selbstreflektion der eigenen Macht geht scheinbar den meisten Journalisten beziehungsweise Redaktionen ab. Oder sie haben dafür keine Zeit oder geben dem kein Gewicht. Schade! Und natürlich muss auch Macht kontrolliert werden. Auch der Medien Macht, allerdings, der Presserat ist ja nun auch eher zahnloses Zeugs.

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