„Doomscrolling“ und „Digital Detox“: Warum Nachrichtenkonsum politisch ist
Die Krise ist in Medien ein Dauerzustand. Das macht Nutzer:innen müde und ausgebrannt. Als Gegenmittel locken digitale Wellnesskonzepte – doch die Frage nach dem richtigen Umgang mit Nachrichten ist in einer demokratischen Gesellschaft hochpolitisch.
Wenn die Nachrichten auf einen einprasseln, verspricht digitale Wellness eine Auszeit von der medialen Dauerkrise. Aber kann das eine Lösung sein? Foto: Canva
Eigentlich wollte ich diesen Monat einen Text über den Skandal um den Psychiater Michael Winterhoff schreiben. Ihm wird vorgeworfen, zahlreiche Kinder mit seinen Behandlungsmethoden geschädigt zu haben. Der Text sollte zeigen, wie Medien aufgrund der Dauerpräsenz Winterhoffs als Talkshowgast und Interview-Experte zu der Macht beigetragen hatten, die er dann missbrauchen konnte. Während ich aber an dieser Aufgabe saß, wanderte meine Aufmerksamkeit immer wieder in Richtung „Spiegel Online“ und den Sozialen Medien. Es ist schwer, sich zu konzentrieren, wenn in den USA die demokratischen Strukturen zerstört werden und weltweit die Finanzmärkte auf Talfahrt gehen.
Ich muss in diesem Zusammenhang an einen Satz denken, den Donald Trump am Ende seines katastrophalen und würdelosen Zusammenstoßes mit Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus geäußert hatte: „This is going to be great television“.
In gewisser Weise hatte er recht. Nämlich dann, wenn man „great television“ als Performance definiert, die unweigerlich die Aufmerksamkeit der Zuschauer:innen fesselt. Und vor allem darum geht es Menschen wie Trump. Wenn die Ereignisse der letzten Monate eines gezeigt haben, dann, dass hinter ihrem Verhalten kein elaborierter Plan, keine höhere Intelligenz, kein komplexer Zynismus steht, sondern die reine Sucht nach Aufmerksamkeit – das pathologische Bedürfnis, im Rampenlicht zu stehen.
Die Kolumne
Johannes Franzen ist Literaturwissenschaftler und Kulturjournalist. Er arbeitet an der Universität Siegen, wo er zu kulturellen Konflikten und ihrer medialen und gesellschaftlichen Bedeutung forscht. Zudem schreibt er Essays für FAZ, taz, Zeit Online u.a. und ist Mitbegründer des Online-Feuilletons 54books. Für Übermedien blickt er einmal im Monat auf die Mechanismen der Aufmerksamkeitsökonomie.
Konzentrierte Unkonzentriertheit
Noch vor der Machtgier steht bei diesen Menschen die Gier nach medialer Relevanz. Die ständigen Grenzüberschreitungen und Provokationen scheinen vor allem im Dienst dieser Gier zu stehen. Trump und seine Leute sind wild gewordene Geschichtenerzähler, die die Aufmerksamkeit der Zuschauer:innen auf keinen Fall loslassen wollen.
Das führt bei ihrem unfreiwilligen Publikum zu einer gravierenden Konzentrationsschwäche in Bezug auf andere Dinge. Die meisten Leser:innen werden das aus ihrem Alltag kennen: Man stellt plötzlich fest, dass man – anstatt zu arbeiten oder ein gutes Buch zu lesen – Stunden vor dem Bildschirm verbracht hat, um sich wie gebannt die Schreckensnachrichten des Tages anzuschauen.
Aber nicht nur das: Alles andere, die E-Mail, die man gerade schreibt, der Text, den man liest, das Gespräch, das man führt – erscheinen einem unbedeutend, wenn sie sich nicht auf die konkrete Krise beziehen, die gerade durch die Medien jagt. Es ist zermürbend, wenn einen ständig alarmierende Ereignisse umgeben, während man sich selbst so bedeutungslos fühlt.
Ab in die digitale Wellnesskur
Vor einigen Jahren kam dazu passend der Begriff „Doomscrolling“ auf. Damit war vor allem das stumpfe Scrollen durch Soziale Medien während der Pandemie gemeint, der Zustand des hypnotisierten Verharrens vor dem Bildschirm. Als Antwort auf dieses Problem entstand damals so etwas wie mediale Wellness, ein Kult digitaler Achtsamkeit. Es gab auf Twitter etwa den „Doomscrolling-Bot“, der immer wieder sanft daran erinnerte, auch mal eine Pause zu machen, etwas zu trinken.
Ich muss zugeben, dass ich mich über diesen medialen Wellnessdiskurs früher manchmal lustig gemacht habe. Bücher wie Rolf Dobellis „Die Kunst des digitalen Lebens: Wie Sie auf News verzichten und die Informationsflut meistern“ mit ihren digitalen Diätplänen und medialen Fastenkuren erschienen mir apolitisch und saturiert. Wer kann es sich leisten, auf News zu verzichten, wenn die Welt untergeht?
Ein fieberhafter Zustand
Aber in den letzten Jahren gab es immer wieder Momente, in denen ich mich gefragt habe, ob Dobelli nicht doch einen Punkt hat. In Momenten, in denen die Nachrichten mal wieder unbarmherzig auf einen einprasseln, zweifelt man daran, ob es zur Lösung der Probleme beiträgt, so gut und lückenlos informiert zu sein. Würde es nicht reichen, wenn man die Berichterstattung einmal am Tag gebündelt wahrnimmt? Oder vielleicht sogar nur einmal die Woche?
Stattdessen dämmert man in dieser frenetischen Gegenwart müde vor sich hin und ist gleichzeitig doch ständig erregt – ein fieberhafter Zustand, der auch auf eine eigentümliche Art moralisch aufgeladen ist. Wie soll man sich verhalten? Hinschauen, wegschauen? Wann kippt das wichtige Sich-informieren, das tugendhafte Informiert-sein ins Voyeuristische oder Masochistische? Wann artet Wegschauen in ein apolitisches Kopf-in-den-Sand-Stecken aus?
Nachrichtenkonsum ist politisch
Auch für dieses Gefühl gibt es einen Begriff. In ihrem Buch „Resilienz in der digitalen Gesellschaft“, das im vergangenen Jahr erschienen ist, gehen Leif Kramp und Stephan Weichert auf das Problem des „News-Burnout“ ein: „Krisen verstärken die Neigung zur digitalen Erschöpfung, viele Menschen schalten ab, wollen Nachrichten weder sehen, hören noch lesen.“ Die Dauerberichterstattung über Krisen, Katastrophen, Gefahren habe – gerade in den letzten Jahren – zu „Nachrichtenvermeidung“ und „Nachrichtenmüdigkeit“ geführt. Menschen folgen demnach einem immer stärker werdenden „Abschaltimpuls“.
Begriffe wie „Resilienz“ und „Doomscrolling“ erzeugen einen gewissen Abwehrreflex, weil sie oft inflationär und vage verwendet werden. Dahinter steckt allerdings, wie Kramp und Weichert zeigen, eine wichtige politische Komponente. Müde und ständig abgelenkte Menschen sind politisch wenig handlungsfähig. Die ständige mediale Präsenz von Krisen lässt sie sich machtlos und wie gelähmt fühlen.
Die Folgen der Bullshit-Flut
Es ist vor diesem Hintergrund naheliegend, in der frenetischen Abfolge von bewusst erzeugten Krisenereignissen ein politisches Instrument zu sehen. Der rechtsradikale Aktivist und ehemalige Trump-Stratege Steve Bannon sprach einmal davon, man müsse den öffentlichen Diskurs mit „Scheiße fluten“ („flood the zone with shit“). Es geht ihm darum, so viel Erregungsmaterial in die Öffentlichkeit zu spülen, dass deren Rezeptoren überlastet werden. Medien und Gesellschaft verlieren so die Fähigkeit, zwischen künstlichen und echten Reizen zu unterscheiden und entsprechend zu handeln. Der überstrapazierte Begriff der „Resilienz“ bezieht sich daher eben nicht nur auf das persönliche Wohlbefinden, sondern auch auf die politische Handlungsfähigkeit, die man zu verlieren droht, wenn einen der „News-Burnout“ einholt.
Was ist also zu tun? Jeder Versuch, sich auf individueller Ebene zu überlegen, wie man medialer Ermüdung entgehen kann, klingt fast automatisch wie eine Neuauflage des anti-digitalen Wellnessdiskurses, dem auch nichts Besseres einfällt, als ab und zu mal das Handy wegzulegen und in die Natur zu gehen. Und doch sollte man diese Debatte nicht vernachlässigen, nur weil sie zum Kitsch tendiert. Was wären also Formen von Resilienz in der Mediennutzung, die vor allem auf eine Stärkung der politischen Handlungsfähigkeit abzielen? Vielleicht zunächst einmal: sich dem Echtzeitcharakter der Berichterstattung zu entziehen, der uns vorgaukelt, man würde sich immer jetzt direkt in einem Ereignis befinden, als gäbe es keine Möglichkeit, innezuhalten, gedanklich auf Distanz zu gehen.
Das würde bedeuten, sich von Formaten abzuwenden, die ein Ereignis atemlos auf der reinen Handlungsebene erzählen – Newsticker, Eilmeldungen (Was ist heute keine Eilmeldung?), Social-Media-Feeds. Das kann aber nur ein erster Schritt sein. Danach muss man das Ticken der Echtzeitberichterstattung dann tatsächlich abschalten und sich auf längere Formate konzentrieren. Auf Reportagen, Essays, Bücher, Dokumentationen, die auf strukturelle und historische Faktoren eingehen, die nicht nur erzählen, sondern auch analysieren, und die auf tiefliegende gesellschaftliche Probleme verweisen, die möglicherweise auf den ersten Blick gar nichts mit dem tagesaktuellen Aufreger zu tun haben.
Was ich damit eigentlich sagen möchte: Es müssten endlich auch mal wieder Konzentration und Zeit zur Verfügung stehen, um einen längeren Essay über das Medienversagen im Fall Michael Winterhoff schreiben – und lesen – zu können.
4 Kommentare
Stattdessen dämmert man in dieser frenetischen Gegenwart müde vor sich hin und ist gleichzeitig doch ständig erregt – ein fieberhafter Zustand, der auch auf eine eigentümliche Art moralisch aufgeladen ist.
Wo kommt diese moralische Aufladung her? Warum bildet „man“ sich ein, ein besserer Mensch zu sein, wenn man im 5-Minuten-Takt Nachrichten in den Sozialen Medien wegsuchtet? Es ist doch kein moralischer Wert, das zu tun. Und am Zustand der Welt ändert es gar nichts.
Ich empfehle von X, Insta und Co. die Finger zu lassen, Push-Meldungen zu deaktivieren und zweimal am Tag Nachrichten im Radio zu hören. Zur Vertiefung gerne politische Podcasts mit etwas Abstand oder analytische Artikel. Das erspart eine Menge Stress und beugt der Illusion vor, durch Nachrichten-Dauerbeschuss sei man besser informiert – oder gar besser als Person.
Hinschauen, wegschauen?
Meines Erachtens ein falsches Dilemma. Es gibt doch nicht nur gar nicht oder rund um die Uhr! Wenn man sich einredet, man würde „wegschauen“, weil man von Trumps neuester Zoll-Volte erst nach fünf Stunden statt nach fünf Minuten gehört hat – dann überschätzt man vielleicht einfach den Einfluss des persönlichen Informiertseins auf den Gang der Dinge (als hätte man es verhindern können, wenn man es sofort gewusst hätte).
Es wird ja auch immer gleich Deutungshoheit verhandelt. Die Union und SPD halten noch die PK und schon gibt es erste oberflächliche Analysen und (vorbereitete) Pressemeldungen, welcher Verband mit dem Ergebnis unzufrieden ist.
Es wird ja nicht nur berichtet, was passiert, sondern im Anschluss immer noch 5 Leute, die das kritisieren. Ich bin ja eher linksgrün, aber können wir vielleicht der neuen Regierung mal ein paar Monate geben, bevor wir ihre Arbeit kritisieren? Oder bevor wir Wahlumfragen zu Schlagzeilen machen, obwohl die nächste Bundestagswahl noch 4 Jahre hin ist?
@Paddepat (#2)
Die Union und SPD halten noch die PK und schon gibt es erste oberflächliche Analysen und (vorbereitete) Pressemeldungen, welcher Verband mit dem Ergebnis unzufrieden ist.
Da ich in genau der Branche arbeite, muss ich das verteidigen: Du musst eine schnelle Reaktion raushauen, damit Du in der ersten dpa-Meldung landest, sonst kommst Du mit Deinen Positionen in der Berichterstattung nicht vor. Denn setzt Schwarz-Rot allein die Schlagzeilen, wie grandios das alles sei – und die Lücken in der Klima- oder Sozialpolitik kommen nicht vor.
Aber sonst hast Du recht: Politik braucht Zeit, und die Analyse des Vertrags auch. Deshalb sollte man sich als Rezipient der Nachrichten auch Zeit nehmen, sein Urteil zu fällen. Und das gelingt nur, wenn man nicht aufgeregt irgendwelche Ticker verfolgt, sondern tiefer einsteigt. Am besten erst mit etwas Abstand, wenn sich die Neuigkeiten gesetzt haben.
Auch wenn es mir noch nicht durchgängig gelingt: X und Insta sowieso nicht (mangels Account), keine News-Feeds, online-Portale von taz, faz und Tagesspiegel (nicht alle täglich), dlf reduziert auf zwei Mal täglich die Nachrichten zur vollen Stunde, plus deutsche und internationale Presseschau plus @mediasres plus abends die Kommentare. Spiegel und Konkret als Printmedien.
Wo kommt diese moralische Aufladung her? Warum bildet „man“ sich ein, ein besserer Mensch zu sein, wenn man im 5-Minuten-Takt Nachrichten in den Sozialen Medien wegsuchtet? Es ist doch kein moralischer Wert, das zu tun. Und am Zustand der Welt ändert es gar nichts.
Ich empfehle von X, Insta und Co. die Finger zu lassen, Push-Meldungen zu deaktivieren und zweimal am Tag Nachrichten im Radio zu hören. Zur Vertiefung gerne politische Podcasts mit etwas Abstand oder analytische Artikel. Das erspart eine Menge Stress und beugt der Illusion vor, durch Nachrichten-Dauerbeschuss sei man besser informiert – oder gar besser als Person.
Meines Erachtens ein falsches Dilemma. Es gibt doch nicht nur gar nicht oder rund um die Uhr! Wenn man sich einredet, man würde „wegschauen“, weil man von Trumps neuester Zoll-Volte erst nach fünf Stunden statt nach fünf Minuten gehört hat – dann überschätzt man vielleicht einfach den Einfluss des persönlichen Informiertseins auf den Gang der Dinge (als hätte man es verhindern können, wenn man es sofort gewusst hätte).
Es wird ja auch immer gleich Deutungshoheit verhandelt. Die Union und SPD halten noch die PK und schon gibt es erste oberflächliche Analysen und (vorbereitete) Pressemeldungen, welcher Verband mit dem Ergebnis unzufrieden ist.
Es wird ja nicht nur berichtet, was passiert, sondern im Anschluss immer noch 5 Leute, die das kritisieren. Ich bin ja eher linksgrün, aber können wir vielleicht der neuen Regierung mal ein paar Monate geben, bevor wir ihre Arbeit kritisieren? Oder bevor wir Wahlumfragen zu Schlagzeilen machen, obwohl die nächste Bundestagswahl noch 4 Jahre hin ist?
@Paddepat (#2)
Da ich in genau der Branche arbeite, muss ich das verteidigen: Du musst eine schnelle Reaktion raushauen, damit Du in der ersten dpa-Meldung landest, sonst kommst Du mit Deinen Positionen in der Berichterstattung nicht vor. Denn setzt Schwarz-Rot allein die Schlagzeilen, wie grandios das alles sei – und die Lücken in der Klima- oder Sozialpolitik kommen nicht vor.
Aber sonst hast Du recht: Politik braucht Zeit, und die Analyse des Vertrags auch. Deshalb sollte man sich als Rezipient der Nachrichten auch Zeit nehmen, sein Urteil zu fällen. Und das gelingt nur, wenn man nicht aufgeregt irgendwelche Ticker verfolgt, sondern tiefer einsteigt. Am besten erst mit etwas Abstand, wenn sich die Neuigkeiten gesetzt haben.
Auch wenn es mir noch nicht durchgängig gelingt: X und Insta sowieso nicht (mangels Account), keine News-Feeds, online-Portale von taz, faz und Tagesspiegel (nicht alle täglich), dlf reduziert auf zwei Mal täglich die Nachrichten zur vollen Stunde, plus deutsche und internationale Presseschau plus @mediasres plus abends die Kommentare. Spiegel und Konkret als Printmedien.