Geht doch! (1)

Von wegen „Proll-Soap“

Im seichten Vorabendprogramm finden sich selten gesellschaftskritische Themen. Eine Ausnahme ist ausgerechnet das Reality-Format „Berlin Tag & Nacht“. Die Soap macht gut recherchiert auf häusliche Gewalt aufmerksam.
Anna (r.) und ihre Freundin Cleo
Anna (r.) und ihre Freundin Cleo Screenshot: Youtube / Berlin Tag & Nacht

Hinweis: Im folgenden Text geht es um die mediale Darstellung von Gewalt, insbesondere gegen Frauen.


In den Feuilletons werden Reality-Soaps entweder ignoriert oder belächelt. „Einfalls- und geschmacklos“, schrieb „Spiegel Online“ über „Berlin – Tag & Nacht“, die „Süddeutsche Zeitung“ konstatierte erst „Proll-Soap“ und legte wenig später nach: „Die Dialoge gruselig, die Darsteller unterirdisch, die Handlung lebensfremd.“

In der Reality-Soap, die seit 14 Jahren auf RTL Zwei läuft, spielen überwiegend Laiendarsteller:innen mit, es wird viel improvisiert. Lebensfremd ist das allerdings nicht. In BTN, wie Fans die Serie nennen, geht es um erste Dates, Beziehungspausen und Stress in der WG. Es kommen aber auch Themen vor, die im Vorabendprogramm sonst kaum auftauchen. Diese Zeit ist überwiegend für Schmunzelkrimis, Landarztserien, Quizshows und „perfekte Dinner“ reserviert. Gesellschaftskritisches oder Unbequemes wird da lieber ausgespart.

Serie mit großer Reichweite

„Berlin – Tag & Nacht“ scheint das nicht zu kümmern. Die Reality-Soap griff schon Themen wie Selbstverletzung, Totgeburt und sexualisierte Gewalt unter Männern auf. Zuletzt waren Figuren mit Catcalling, also Belästigung im öffentlichen Raum, konfrontiert und machten sich Gedanken über Konsens beim Sex.

In den vergangenen Wochen ging es um sogenannte „häusliche“, also Partnerschaftsgewalt, die meistens Männer an ihren (Ex-)Partnerinnen verüben. Im Februar eskalierte der Handlungsstrang um Anna und Lars Wagner (gespielt von Theres Eglinski und Alexander Neumann). Schon in den Folgen zuvor waren Annas Freundin Cleo (Jenny Bumaye) Verletzungen an Annas Hals und Unterarmen aufgefallen, die diese als „Schusseligkeit“ abtat. Annas blaues Auge machte es schließlich offensichtlich, dass ihr Mann sie geschlagen hatte.

„Berlin – Tag & Nacht“ ist eine der meistgestreamten Sendungen der Privatsender, über Kanäle wie Instagram, Tiktok, Youtube und eine App erreicht das Format vor allem junge Menschen. Man wolle „maximale Aufmerksamkeit“ für das Thema und hoffe, dass „Betroffene ermutigt werden, sich Hilfe zu suchen“, heißt es in einer Pressemitteilung von RTL Zwei.

Aus Perspektive des Opfers

Das ist erfreulich, aber auch die Art, wie die Sendung das Thema Partnerschaftsgewalt erzählt, ist ungewöhnlich. Denn anders als in vielen Fernsehproduktionen, in denen Gewalt gegen Frauen dargestellt wird, geht es hier um die Perspektive des Opfers und ihres Umfelds.

Anna ringt über mehrere Folgen hinweg mit den Worten. Das mag rhetorisch nicht perfekt sein, manchmal sogar holprig, doch genau das macht es so echt, nachvollziehbar und zugänglich. Die Betroffene sucht zunächst die Schuld bei sich. Ihrem Mann sei „die Hand ausgerutscht“, erzählt sie ihrer Freundin. Er, der Polizist, habe „viel Stress bei der Arbeit“, das sei „seine Art, mit Konflikten umzugehen“, was habe sie auch staubsaugen müssen, wenn er „Ruhe haben will“, sie habe ihn also „provoziert“. Später, als sie einsieht, dass ihr Unrecht geschieht, hat sie Sorge, dass man ihr nicht glaubt, weil ihr Mann der angesehene Beamte ist.

Das entspricht – leider – oft der Realität und ist deshalb gut recherchiert. Viele Frauen, die Opfer von Partnerschaftsgewalt waren oder sind, dürften solche Gedanken kennen und sich damit identifizieren. Auch wenn klar ist, dass die Geschichte von Anna fiktiv ist, zeigen die Kommentare in Sozialen Medien, dass sich Frauen darin offenbar wiedererkennen. Unter einem Tiktok-Reel, in dem die Figur Anna ihren Zuschauerinnen rät, sich Hilfe zu suchen, berichten einige Userinnen, dass sie ähnliches erfahren haben.

@berlintagundnacht

⚠️Triggerwarnung⚠️ Wusstest du, dass jede vierte Frau zwischen 16 und 85 Jahren in ihrem Leben schon einmal von ihrem Partner oder Ex-Partner misshandelt wurde? Häusliche Gewalt ist nicht nur körperlich, sondern auch seelisch extrem belastend. Falls du so eine Situation schon erlebt hast, suche dir bitte Hilfe. Wir haben dir eine Anlaufstelle sowie eine Telefonnummer unten verlinkt. Du bist nicht allein! Bist du von psychischer oder physischer Gewalt im häuslichen Umfeld betroffen oder kennst jemanden, dem es so geht? Anonyme Hilfe findest du hier unter diesem Link: https://www.rtl2.de/sendungen/berlin-tag-nacht/seite/anonyme-hilfe-bei-allen-problemen oder dieser Nummer: 116 006

♬ Originalton – Berlin – Tag & Nacht

Im linearen Fernsehen und auf seinen Social-Media-Kanälen verwies „Berlin – Tag & Nacht“ auch auf das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“. Solche Hinweise fehlen in anderen Formaten häufig, wie eine von der MaLisa-Stiftung initiierte Studie zeigte.

Verzicht auf Voyeurismus

Die Soap begleitet Anna dabei, wie sie sich langsam öffnet und die Hilfe ihrer Freundinnen annimmt. Als Lars sie erneut angreift, wird die Gewalt nicht explizit zur Schau gestellt. In einer späteren Szene zeigt Anna ihre Verletzungen am Bauch ihren Freundinnen, aber nicht in die Kamera. Das sind Entscheidungen, von denen andere Film- und Serienmacher:innen noch lernen können. Denn gerade im klassischen Krimi wird Gewalt oft detailreich, gar voyeuristisch inszeniert – und das überwiegend aus Tätersicht.

„Berlin – Tag & Nacht“ würde das Publikum auch mit Sauna-Sex und Beziehungskrisen erreichen, die Serie nutzt ihre Reichweite aber, um auf ein wichtiges Thema aufmerksam zu machen. Dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zufolge wird jede vierte Frau mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner. Jede vierte Frau, das bedeutet auch jede vierte Zuschauerin von „Berlin – Tag & Nacht“.

 

4 Kommentare

  1. Vorbildlich, diese Soap – das hört sich überzeugend an.
    Und ich finde es super, dass es jetzt auch ein festes Format für Lob gibt! Es ist ja nicht alles nur schlecht :-)

  2. Der Titel der Rubrik, „Geht doch!“, implizit die Absicht, dass man, anstatt sich an den vielen schlechten Beispielen abzuarbeiten, einfach die lobenswerten Ausnahmen nennt.
    Ist auch leichter zu lesen. ;-)

  3. Toll, dass sich ein Soap Format dazu entschlossen hat, die hohe Reichweite für wirklich Sinnvolles nutzt. Das ist sehr vorbildlich. Auch – und das finde ich sehr wichtig – weil sie den Zuschauer nicht gänzlich allein mit dem gerade gesehenen lässt.

  4. Die Rubrik finde ich richtig gut. Ich habe seit vielen Jahren kein RTL Zwei geschaut. Erfreulich zu hören, dass dort ein solches Format läuft. Danke für die Recherche und den detailreichen Einblick!

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