Erregung und Ärgernis (6)

Eine Plattform aus der Hölle

Konflikte und Gemeinheiten sind schon immer Teil öffentlicher Diskurse gewesen. Doch auf X nimmt die politische Aggression überhand – und macht eine vernünftige Nutzung der Plattform bis auf Weiteres unmöglich.

Konflikte und Gemeinheiten sind schon immer Teil öffentlicher Diskurse gewesen. Doch auf X nimmt die politische Aggression überhand – und macht eine vernünftige Nutzung der Plattform bis auf Weiteres unmöglich.


Der Umbau von Twitter zu X hat unter Journalist:innen, Wissenschaftler:innen und Institutionen zu großem Händeringen geführt. Sollte man die Plattform verlassen, um die reaktionäre Politik des neuen Besitzers nicht zu unterstützen?* Sollte man bleiben, um aufzuklären, um weiterzukämpfen?

Der Soziologe Rudolf Stichweh plädierte zuletzt in einem Post auf X für den Verbleib auf der Plattform. Allerdings mit der nicht ganz ernstgemeinten heroischen Begründung, man dürfe die Augen vor dem Grauen, das unsere Gesellschaft prägt, nicht abwenden. Stichweh schreibt: „Das beste Argument für X ist, dass die Plattform ein anschauliches Bild erlaubt, wie es in der Hölle aussieht. Täglich Millionen kleiner und größerer Teufel, mit denen man aber leben muß, weil man nun mal in der Hölle ist. Sie können es auch Gesellschaft nennen.“

„Höllenplattform“: Auch vor der Übernahme durch Elon Musk gab es auf Twitter Belästigung und Beschimpfung, Frauenhass und Rassismus. Foto: Canva

Stichwehs pessimistische Soziologie verweist darauf, dass jede Öffentlichkeit immer auch ein Ort ständiger Irritation ist – wo sich Menschen zwar oft die Hand reichen, die meiste Zeit aber gegenseitig auf die Füße treten. Das ist nicht erst seit der Digitalisierung so. Die Geschichte der Öffentlichkeit zeigt, dass heftige Konflikte, zwischenmenschliche Gemeinheit, Bitterkeit und Hohn schon immer dazugehört haben.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass auch Twitter vor X ein Ort war, auf den viel öffentlichkeitskritische Paranoia projiziert wurde. Schon lange, bevor Elon Musk die Plattform übernahm, hatten regelmäßige Benutzer:innen sie oft halb liebevoll, halb hasserfüllt „Höllenplattform“ genannt. Schon damals waren Doomscrolling und ständiges Angeschrienwerden für viele belastend. Es gab regelmäßig Belästigung und Beschimpfung, Frauenhass und Rassismus.

Zudem muss man zugeben, dass es anderswo nicht immer viel besser ist. Auch auf Bluesky, wohin zahlreiche ehemalige X-Nutzer:innen abgewandert sind, gehen die Menschen teils mit großer Bitterkeit aufeinander los. Auch dort bekommt man immer wieder freche oder anmaßende Kommentare, oder ist selbst der freche und anmaßende Kommentator (immer eine Frage der Perspektive).

Was X aber besonders macht, ist zum einen natürlich der neue Besitzer selbst. Dieser hat in den letzten Tagen gefährliche Falschinformationen verbreitet und offene Wahlwerbung für die AfD betrieben. Zum anderen hat sich aber auch abseits der großen politischen Gesten eines Elon Musk etwas verändert: Die politische Aggression nimmt in Quantität und Intensität zu – und macht eine vernünftige Nutzung der Plattform bis auf Weiteres unmöglich.

Eine Flut aggressiver Kommentare

Diese Veränderung bekam ich in meinem digitalen Alltag zu spüren, als die Beschimpfungen immer mehr zunahmen. Aus einem anfangs leichten Tröpfeln feindseliger und aggressiver Kommentare unter meinen Posts wurde ein sichtbares Rinnsal und dann – man muss sagen: recht plötzlich – eine heftige Flut. Ein harmloser linksliberaler Kommentar wie „Es gibt eigentlich niemand, dem ein Semester Gender Studies nicht massiv guttun würde“, erzeugte bereits im März dieses Jahres über 300 oft sehr negative Kommentare. Viele davon waren Empfehlungen, endlich mal etwas Anständiges zu studieren (Physik oder Biologie) oder höhnische Kommentare darüber, dass man da ja genauso gut in die Clownsschule gehen könne oder dass ein solches Studium nur für eine Arbeit bei McDonald’s vorbereite.

Auf den ersten Blick erscheinen solche Kommentare harmlos. Wer lange Zeit in den Sozialen Medien verbringt, entwickelt ein dickes Fell gegen die ständigen kleinen und großen Unverschämtheiten, die Menschen sich im Alltag der öffentlichen Kommunikation gegenseitig ins Gesicht werfen. Allerdings wird das dickste Fell irgendwann durchlässig, wenn die Anzahl und Intensität der Kommentare ständig zunimmt. Je mehr Kommentare sich unter meinem Post sammelten, desto aggressiver und beleidigender wurden sie. Schließlich tauchten auch heftige Beleidigungen auf. Ein repräsentatives Beispiel: „Steck dir deinen geisteskranken Schmutz sonst wo hin.“

Der Mechanismus hinter dieser Steigerungslogik ist bekannt: Die Sichtbarkeit der ersten Kommentare hatte dazu geführt, dass andere Menschen sich legitimiert fühlen, ähnliche Wortmeldung abzusetzen. Je mehr Menschen das Wort „Geisteskrankheit“ verwenden, desto stärker wird es normalisiert und desto stärker schwindet die Scheu, es selbst hinzuschreiben. Hier greift die bekannte Dynamik des „Wenn der das darf, darf ich das auch“. So braucht es gar nicht viel, um eine kommunikative Hölle aufzubauen. Die Betreiber der Plattform schaffen eine algorithmische Grundlage an Sichtbarkeit für eine bestimmte Form von Kommentar und können sich darauf verlassen, dass die soziale Dynamik des Nachtretens ihr Übriges tut.

Die Tragik der Trolle

Ein Ereignis aus den letzten Monaten illustriert den Flurschaden, den dieser Umbau angerichtet hat. Die Doktorandin Ally Louks verkündete am 27. November stolz, sie habe gerade ihre Dissertation zum Thema „Olfactory Ethics: The Politics of Smell in Modern and Contemporary Prose“ verteidigt. Dazu postete sie, wie das üblich ist, ein Foto mit der gedruckten Arbeit. Es handelt sich also um eine Wortmeldung, die an Harmlosigkeit kaum zu überbieten ist – ein Anlass eigentlich für versprengte wohlwollende Glückwünsche der eigenen Bubble. Was folgte, war allerdings eine Flut an hasserfüllten Kommentaren, die sich in ihrem Anti-Akademismus und geifernden Frauenhass immer mehr hochschaukelten. Eine solche Arbeit sei wertlos, eine Verschwendung von Steuergeldern, Ausdruck einer pervertierten Universitätsbildung etc. Aus der Flut dieser scheinbar institutionskritischen Kommentare rauschten immer wieder Wortmeldungen hervor, die von offener Misogynie geprägt waren.

Der Journalist Ryan Broderick schreibt in seinem Newsletter „Garbage Day“, einer der Gründe, warum sich die Trolle und Polarisierungsunternehmer so gierig auf Ally Louks gestürzt hätten, sei schlicht, dass gar nicht mehr so viele normale Menschen auf X seien, auf die sie lautstark und gut sichtbar wütend sein können. Denn auf solche potenziellen Ziele sind diejenigen, die ihre ganze politische Identität auf politischer Wut aufbauen, natürlich angewiesen. Man könnte es die Tragik der Trolle nennen, dass sie ihre Ziele gerade in dem Moment verlieren, in dem sie durch den neuen Besitzer der Plattform zu ihrem Treiben ermächtigt wurden.

Die amerikanische Autorin Anne Helen Petersen schreibt dazu, Louks‘ Fehler sei es gewesen, so auf X zu posten, als handele es sich immer noch um das Twitter von 2019, auf dem Akademiker:innen sich recht unbeschwert präsentieren und austauschen konnten. Wenn man sich also die Frage stellt, was sich konkret im Zeitalter von X verändert hat, dann ist es der Verlust einer kommunikativen Stabilität. Dadurch sind selbst harmlose Posts zu Doktorarbeiten nicht mehr sicher davor, zur Zielscheibe einer hungrigen Meute zu werden, die in einem schrumpfenden Feld gierig nach neuen Opfern sucht.

Man muss deswegen auch grundsätzliche Zweifel daran anmelden, dass etablierte Medien sich auf X weiter aufhalten. Einige Publikationen wie etwa der „Guardian“ haben sich auch schon verabschiedet, die meisten (wie auch „Übermedien“) harren jedoch weiter dort aus. Die Probleme, die dadurch entstehen können, sind nicht nur politisch (unterstützt man Musk und seine Agenda?), sondern auch medienethisch. Denn die Autor:innen der Texte, die auf X gepostet werden, laufen natürlich Gefahr, unter dem neuen Regime der schlimmsten Schreihälse ständig übel beschimpft zu werden. Je weniger Medien auf X noch zu finden sind, desto mehr wird sich das Bedürfnis nach affektpolitischem Druckabbau auf diejenigen konzentrieren, die dort noch sind. Diese Reaktionen kann man, im Gegensatz zur eigenen Kommentarfunktion, nicht wirklich gut moderieren. Man muss sich also auch die Frage stellen, ob man die eigenen Autoren hier nicht einer hungrigen Meute zum Fraß vorwirft.

*Offenlegung: Ich habe den Aufruf zum eXit unterzeichnet.

16 Kommentare

  1. Es gibt eine Plattform ohne Algorithmen, ohne Werbung und ohne all die zerstörenden Mechanismen. Aber die ist wohl zu langweilig.

  2. Ich persönlich bin direkt am Tag der Übernahme durch Elon Musk raus. Und es grämt mich, wenn Staatsoberhäupter, Ministerien u.ä. sich weiter auf X äußern. Speziell in Deutschland ist es auch eigentlich völlig unangebracht, da der Marktanteil eigentlich sehr gering ist (die mir von Google eben präsentierten 8-11 Millionen erscheinen mir bei weitem zu hoch geschätzt, aus der täglichen Erfahrung mit der Umwelt völlig unplausibel, Instagrams 45 Millionen daneben sind z.B. auch absolut unplausibel).
    Es sind einzig die politischen und medialen Kreise, die X‘ Bedeutung in Deutschland künstlich am Leben erhalten. Habecks Rückkehr ein tragischer Irrtum. Das Niveau wird dabei den marktschreierischen Verhältnissen angepasst. Absolut unnötig.

  3. Ich stimme #4 zu einhundert Prozent zu. Für mich ist es ein Unding, dass sich nach wie vor Politiker in einem solchen zerstörerischen Medium aufhalten. Und was noch schlimmer ist, bei einem solchen Typen mit Allmachtsfantasien halte ich es schon fast für töricht, dass nicht früher oder später auch der Missbrauch von sensiblen Daten (eben auch und vorrangig von seinen politischen Gegnern) befürchtet werden muss.

  4. X ist die Hölle. Für Lügner, Hetzer, Schmarotzer und Faschisten.

    X ist die Hölle für die, die es sich in der Echokammer im Zustand der Realitäts- und Diskursverweigerung bequem gemacht haben.
    Die dort den Spiegel vorgehalten kriegen. Denen ihre Lügen und Verbalinjurien um die Ohren fliegen.

    Mir gefällts.

  5. Die einzigen Personen für die es wirklich wichtig ist so eine Plattform sind doch Journalisten. Alle die möglichst zeitnah über die wichtigsten Ereignissen auf der Welt informiert werden sollten um ihren Beruf auszuüben. Bei denen verstehe ich das zögern sich von der Plattform abzuwenden.
    Beim Rest hab ich gar kein Verständnis mehr dafür und mache sie auch allesamt mit verantwortlich das dieser „Höllenpfuhl“ noch besteht.
    Und die ganzen Journalisten/Medienschaffenden können sich doch einfach absprechen auf ein „eXit Datum“ an dem sie zusammen auf eine andere Plattform wechseln. Und schon ist das Problem erledigt und das Ars****** mit Gottkomplex kann dort rumschreien wie er will.
    Aber anstatt dessen wird mittlerweile jeder Gedankenfurz den er hat auch von seriösen und wichtigen Medien wiedergegeben.
    Es gibt auch keinerlei Mitleid mehr für Leute die dort Shitstorms erfahren, geht einfach weg!

  6. Ich glaube gar nicht, dass Musk Wahlempfehlung irgendwie größeren Einfluss auf die BT Wahl hat. Diejenigen, die ihm da folgen, wählen sowieso schon AfD.
    Das Attentat von Magdeburg ist da viel bedrohlicher in seiner Wirkung.
    Trump und Musk werden sowieso demnächst aneinandergeraten. Zwei solche Egos und Narzissten nebeneinander sprengen jedes Team.

  7. Ich nutze X nur noch mit meinem Porno Account. Dort folge ich den Accounts und Bots mit den Fetischen, die mir so reinlaufen gerade. Ist alles total unreguliert und immer wenn man draufgeht, bekommt man mehr oder weniger frisches Masturbationsmaterial in seinen Pornofeed gespült. Zum schnellen Masturbieren besser als Pornhub. Mir gefällts. Danke Elon!

  8. @#10, #11: Wir stellen uns als Redaktion natürlich regelmäßig die Frage, ob es für uns geboten wäre, X zu verlassen. Bisher überwiegt für uns aber vor allem ein Argument für den Verbleib:
    X ist für uns weiterhin relevant zur Themenrecherche. Denn dort äußern sich immer noch sehr viele Journalist:innen zur eigenen Berichterstattung, Branchendebatten werden geführt etc. – diese Quellen können wir (noch) nicht ignorieren. Aber auch zu anderen Phänomenen, über die wir berichten, lässt sich spezifisch dort recherchieren.
    Soll heißen: X mit all seinen negativen Aspekten ist unmittelbarer Teil unseres Berichterstattungsgebiets als Medienjournalist*innen. Daraus können wir uns nicht einfach zurückziehen.

    Zudem erlauben wir uns den Idealismus, mit unseren Texten Teil einer kleinen kritischen Gegenöffentlichkeit auf X zu sein.

    Wir schließen aber nicht aus, dass wir in Zukunft zu einem anderen Schluss kommen werden.

    Beste Grüße
    Alexander Graf // Übermedien

  9. Ausnehmend guter Kommentar im FAZ Feuilleton von Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey:

    Elon Musk:
    Nach Rechtsaußen abgebogen

    „[…]Theodor W. Adorno notierte in seinem Aufsatz „Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda“ im Anschluss an seinen Kollegen Löwenthal: „Der Faschismus ist als Rebellion gegen die Zivilisation nicht einfach eine Wiederholung des Archaischen, sondern dessen Wiedererzeugung in der Zivilisation durch die Zivilisation selbst.“ Musks disruptive Rebellion gegen die liberale Demokratie ist indes keine barbarische Verrohung. Sie stammt aus der radikalisierten kalifornischen Ideologie, in der die Technologie die Welt verbessern und den Einzelnen befreien soll. Um die Welt zu verbessern, will Musk die sozial regulierte Demokratie destruieren. Das befreite Individuums soll verteidigt werden gegen die Interventionskraft moderner Staatlichkeit.“
    https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/elon-musk-der-chef-verstaerker-des-autoritarismus-110206861.html

  10. Und weiter gehts.
    Elon Musk auf Twitter:
    „Algorithm Tweak coming soon
    to promote more informational / entertaining content.
    We will publish the changes to @X.Eng.
    Our goal is to maximize unregretted user-seconds.
    Too much negativity is being pushed that technically grows user-time,
    but not unregretted user-time.“

    Oder, wie ein user schon anmerkte:
    Improve Propaganda as the government changes. Es trifft aber auch viele aus der Maga Crowd und nicht wenige ahnen, wo die Reise hingeht, nachdem die Einwanderungskritiker von Musk scharenweise geblockt wurden.

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