Und jetzt: das Positive!
Mein Gott, wie klein dieses Magazin ist. Es ist kleiner als eine DIN-A5-Seite, passt bequem in eine Sakkotasche, und man kann es auf den Spülkasten einer Toilette legen, ohne dass es herunterfällt. Kaum ist es gekauft, hat man Appetit auf den Stachelbeerkuchen der lange verstorbenen Oma, die das „Reader’s digest“ nicht auf dem Spülkasten der Toilette, sondern auf einem kleinen Stapel im Bücherregal liegen hatte. Gleich vor dem Bildband mit den Traumstraßen Nordamerikas, den der Buchclub einst als Treuegabe verschickte.
Die April-Ausgabe hat den „Kennenlernpreis“ von nur einem Euro, was gut ist. Und schlecht, weil ich jetzt nachsehen muss, was das Heft normalerweise kostet. Es sind 3,90 Euro, die man für eine Art Taschenbuch mit 162 Seiten, wenigen Anzeigen und vielen verschiedenen Themen zwischen Bierbrauen und Baumaschinen ausgibt. Dass der Blick auf die Dinge ein positiver ist, deutet Chefredakteur Michael Kallinger schon im Editorial „Zuallererst“ an: „Der Terror des sogenannten Islamischen Staates sorgt nach wie vor für Angst und Leid, der Syrienkonflikt lässt den Strom der Flüchtlinge nicht abschwellen“, beginnt er und verweist auf die Fähigkeit von uns Menschen, „in Krisen über uns hinauszuwachsen“. Deshalb sehe er am liebsten „die vielen guten Beispiele“ und kündigt ein Heft voller Optimismus an.
Das Inhaltsverzeichnis ist dann auch wie ein strahlend blauer Himmel über einer Modellbahnplatte. Der Queen wird mit einem Quiz zum Geburtstag gratuliert, die schlanke Linie kann mit 15 Tipps dauerhaft gehalten werden, und das Gehirn bleibt bis ins hohe Alter fit – Forscher verraten die Tricks, wie das funktioniert. Es folgen zwei Doppelseiten mit Fotos, die bis zum Beschnitt des kleinen Heftformats reichen und Ben Wilson zeigen, der bereits 10.000 festgetretene Kaugummis in London mit Pinsel und Acrylfarbe in Kleinstkunstwerke verwandelt hat. Das hat man vielleicht schon mal gesehen, aber die großen Fotos funktionieren in dem kleinen Heft erstaunlich gut.
Das Miniformat ist ungewohnt, und gestalterisch ist nicht viel mehr als ein zweispaltiges Layout drin. Damit sich das Auge nach nur 35 Zeichen einer Zeile nicht aus Versehen in eine andere Spalte verirrt, ist durchgehend ein feiner Spiegelstrich in der Mitte der Seiten. Das Kunstdruckpapier ist ein bisschen sehr dünn, und Seiten mit viel Farbauftrag wellen sich leicht, aber hässlich das alles nicht. Das Layout ist recht konventionell, aber aufgeräumt, und fast jede Seite hat einen Blickfang – mal ist es ein größeres Zitat in der Mitte, mal sind es Initialbuchstaben an den Absatzanfängen.
Die erste Geschichte der April-Ausgabe handelt von einem Raubüberfall „in einer Stadt am Rande des Ruhrgebiets“. Also auf den ersten Blick ein durchaus nicht so heiterer Stoff, wie von Chefredakteur Kallinger versprochen. Aber vielleicht ist ein positiver Aspekt in der Geschichte versteckt, die Rubrik heißt schließlich „Helden“. Der Text handelt von einem Taxifahrer, der am Standplatz wartend Zeuge einer brutalen Prügelei in einer Fußgängerzone wird. Zwei Täter haben einen Mann niedergestreckt und flüchten in die Nacht. Während sich eine Kollegin um den Verletzten kümmert, nimmt er mit einem Kollegen die Verfolgung im Taxi auf. Sie alarmieren die Polizei, die aber längst nicht so eine gute Ortskenntnis wie die beiden Taxler haben. Nur durch ihre Raffinesse können die Täter gestellt werden.
Die Sprache der Geschichte von Annette Lübbers ist optimiert für ein Lesealter von 8 bis 88. Oder besser: für Achtjährige und für 88-Jährige. Die Sätze sind kurz, und der Ablauf ist sehr linear. Zwischendurch gibt es zur Auflockerung wörtliche Rede, und die ist wie aus einer Kinderfibel: „Los, komm!“, „Ich sehe niemanden.“ und „Da sind sie!“. Ob die Story auf Tatsachen beruht, lässt sich nicht sagen – es fehlen der Ort und die genaue Zeit, und die Fotos stammen von einem Editorial- und Corporate-Fotografen, der häufiger für „Reader’s digest“ arbeitet. Man könnte diesem Zwittertext im Niemandsland zwischen Journalismus und Kinderbuch – wäre man böswillig – eine Art Bürgerwehrmentalität unterstellen, aber nicht einmal das ist eindeutig herauszulesen. Was bleibt, ist ein großes Fragezeichen, was diese Geschichte eigentlich will.
Es folgen Gesundheitstipps gegen einen schmerzenden Nacken, unter dem „weltweit schätzungsweise rund 39 Prozent aller Menschen über 65 Jahren“ leiden. Die Tipps sind relativ allgemein gehalten: Viel Schlaf, gute Matratze, Monitor mit Bücherstapel auf Augenhöhe bringen. Andererseits gibt es auch keine falschen Heilsversprechen und die Aufforderung, doch einfach den Therapeuten nach Übungen zu fragen, die einem guttun. Sollten die Schmerzen chronisch sein und ein chirurgischer Eingriff nötig: unbedingt „eine zweite Meinung einholen“.
Mit Gesundheit geht es auch weiter. Zum Start in die Frühlingssaison wird über die Gefährlichkeit von Zecken aufgeklärt, und „Neues aus der Welt der Medizin“ spricht über Brustkrebs-Früherkennung, Testosteron-Ersatztherapie und den gesundheitsfördernden Aspekt des Blutspendens. Eher in den Bereich der Fun-Facts fällt der Text „Denken Männer alle sieben Sekunden an Sex?“. Wie nicht anders zu erwarten, wird der Mythos entkräftet und zwar mit einer simplen Rechnung: „Ein Mann ist im Durchschnitt etwa 16 Stunden am Tag wach. Das bedeutet, er müsste 57.000 Mal pro Tag an Sex denken! Wie hätte er da noch Zeit, etwas anderes zu tun?“ Hier liegt zufällig ein Taschenrechner. Bei 8,57 Sexgedanken in einer Minute mal 60 Minuten mal 16 Stunden sind es 8.227,2 Sexgedanken. Fazit: Der Text ist wissenschaftlich nicht haltbar.
Auf aktuelle Kurznachrichten, zusammengetragen aus „The Christian Science Monitor“, „The Telegraph“ und den BBC News, folgen Witze, die aus dem guten alten Graf-Bobby-Fundus stammen. Danach endlich: Das Titelthema „Bringen Sie Ihr Gehirn in Schwung“. Und zwar mit schmackhaften Infohappen. Omega-3-Fettsäuren optimieren den Frontallappen, ein Klaviervirtuose kann man auch im hohen Alter noch werden, und mit mentalen Bildern lässt sich leichter lernen.
Jeder einzelne Aspekt wird in 1.200 Zeichen abgehandelt, mit einer kleinen Headline eingeleitet und durch kurze Aussagen von Medizinern gestützt. Vermutlich ist das alles gar nicht falsch und das meiste hat man schon mal im Mitgliederjournal seiner Krankenkasse gelesen, aber es wirkt in seiner betulichen Aufbereitung wie aus einer anderen Zeit. Der Zeit der Stachelbeerkuchen, der lieben Omas und der einfachen Lösungen. Vielleicht tut man dem Magazin Unrecht, wenn man sich darüber lustig macht. Es will nicht mehr sein als ein leicht verdaulicher Lesestoff mit sessellehnentauglicher Größe.
Wirklich ärgerlich wird es nur, wenn die Grenzen zwischen Nachricht, urbanem Mythos und Märchen verschwimmen: Lisa Fitterman, eine Autorin aus Toronto, schreibt mit „Aus heiterem Himmel“ eine reißerische Story im Groschenromanstil über den Angriff eines Kampfhundes, die – ähnlich wie die Taxi-Geschichte – im Ungefähren angesiedelt ist. Sie basiert auf einer Meldung, die vor 15 Monaten lediglich in einem französischen Gratisblatt erschien. Inzwischen ist die 15-monatige Bewährungsstrafe für den Hundebesitzer abgelaufen. Vielleicht ist das die gute Nachricht.
Reader’s digest
4/2016, 162 Seiten, 1 Euro / sonst 3,90 Euro
Verlag: Reader’s digest Deutschland, Verlag Das Beste GmbH, Stuttgart
Also, bei meiner Oma war’s Stachelbeerkuchen und kein Stachelkuchen. Im letzten Absatz stimmt es.
Aber sonst ist das doch alles sehr positiv.
…ich erinnere mich, auch damit Lesen gelernt zu haben. Meine Oma hatte es, glaube ich, abonniert. War immer gemütlich bei ihr, wenn ihre Raucherei das Wohnzimmer vernebelte und sie mit Kognac ihrem Rede- und Erzählfluss Auftrieb gab. Wusste wirklich nicht, dass es den RD noch gibt.
Immerhin bin ich jetzt auch schon im Opa-Alter.
Früher wurde damit geworben, dass Artikel, die bereits in anderen Zeitschriften erschienen waren, überarbeitet und gekürzt abgedruckt wurden. Dies wurde „kondensieren“ genannt. Ist dies heute noch so?
Gleiches geschah mit den „Auswahlbüchern“, auch die Bibel sollte „kondensiert“ werden, nach Protesten wurde wohl das gestoppt.
In Erinnerung sind mir die Rubriken „Menschen wie du und ich“, „Humor in Uniform“ geblieben.
Auf der dritten Umschlagseite erzählte irgendein Zeitgenosse, wie wichtig RD während einer Haft, besonders in kommunistischen Gefängnissen, war.