Der Medienbenutzer
Eigentlich hat Richter Müller keine Zeit, und gegessen hat er auch noch nichts. Es ist Samstag Vormittag, kurz nach zehn, die Stimmung: so mittel. Müller steht in seiner Küche, Kaffee in der einen Hand, Zigarette in der anderen. Jetzt dieses Interview hier, um zwölf kommt dann „RTL Extra“. Danach der WDR. Und gestern waren auch schon Interviews. Und vorgestern. Und die Live-Schalte im ZDF. Und am Montag drauf sitzt Müller bei „Unter den Linden“ auf Phoenix und diskutiert mit Alice Schwarzer.
Das geht nun noch eine Weile so weiter. Obwohl Müller dieses Jahr weniger Interviews geben, weniger im Fernsehen sein wollte. Aber seit in Köln an Silvester hunderte Frauen sexuell belästigt wurden, steht sein Telefon nicht mehr still. Mal wieder. Wenn irgendwo etwas passiert, wenn junge Menschen Straftaten begehen, es um Gewalt, vor allem Jugendgewalt geht, um Rechtsextremismus oder Drogen, rufen Journalisten ihn an: Andreas Müller, Jugendrichter in Bernau, Brandenburg, in der Nähe von Berlin.
„Das sind wahnsinnig anstrengende Tage“, sagt Müller. Sieht man auch. Er wirkt müde, macht es aber doch wieder, er gibt Interviews ohne Ende, weil er nicht absagen kann, seit Jahren geht das jetzt schon so. Als Müller 1997 am Amtsgericht Bernau begann, war der Ort als Neonazi-Hochburg gefürchtet. Lief ein linker Kiffer mit langen Haaren durch die Straßen, holte mit großer Wahrscheinlichkeit an der nächsten Ecke eine Glatze aus. Bis plötzlich dieser rotblonde Mann auftauchte, der ein bisschen spricht wie Udo Lindenberg: tief, nasal, sehr bedächtig; der aber auch laut kann, laut und sehr deutlich.
„Ich habe Zeitung und Fernsehen benutzt“
So hat er bisweilen geurteilt, wenn es um rechte Gewalt ging. Harte Urteile, schnell gefällt. Damit die Straftäter nicht noch ewig rumspazieren, als wäre nichts gewesen. Müller setzt auf Abschreckung: „Zu den rechtsradikalen Übergriffen wurde damals gar nicht so viel geschrieben, das wurde alles bagatellisiert“, sagt er. „Ich habe dann das Medium Zeitung und auch Fernsehen benutzt.“ Das letzte Wort betont er. Benutzt, damit alle mitkriegen, dass da jetzt einer im Gericht ist, der hart durchgreift.
Es dauerte nicht lange, bis Journalisten auf Müller aufmerksam wurden, auch weil er Gerichtssprecher bat, möglichst viele davon einzuladen, damit seine Urteile bekannt werden. Das klappte schon mal. Populär wurde Müller aber vor allem dadurch, wie er urteilte. Nicht: Sozialstunden, Knast, das Übliche, sondern ungewöhnlich. Rechte Schläger schickte er zum Moschee-Besuch und Döner-Essen nach Kreuzberg, ließ sie Aufsätze schreiben über den Holocaust, 20 Seiten, vorzulegen bei ihm. Oder der Neonazi, der es wagte, in Springerstiefeln vor Gericht aufzutauchen. Müller ließ ihm die Wahl: in die Stadt gehen, neue Schuhe kaufen – oder die Stiefel ausziehen. Wenig später saß der Neonazi dann tatsächlich auf Socken vor Richter Müller. Eigentlich verpönt, aber weil Müller Springerstiefel für Waffen hält, war es okay.
Das war der Anfang von Müllers Medienpräsenz. Irgendwann meldete sich der „Stern“, fragte ihn für eine Titelstory über rechte Gewalt an. Und Müller – zögerte. Er, der die Öffentlichkeit für seine Zwecke nutzte, überlegte: Macht das ein Richter? Ist das meine Aufgabe? Wie wird das wahrgenommen?
„Ich hatte das Glück, eine Stimme zu bekommen“
Aber dann sagte er zu. „Ich wollte verändern, aufklären“, sagt Müller heute. Und das Interesse an seiner Person gab ihm die Möglichkeit, noch mehr Öffentlichkeit zu bekommen für seine Themen. „Ich hatte einfach das Glück, eine Stimme zu bekommen, und die habe ich genutzt. Wer politisch denkt, will auf irgendeine Art die Welt verändern, besser machen. Da ist die vierte Gewalt wichtig, um diese Stimme multiplizieren zu können. Und wer hat schon das Glück, vor fünf Millionen Leuten zu sagen, was falsch läuft?“
Ein Glück, auch für die Journalisten, denen so ein einfaches „Richter“ natürlich zu schnöde ist: Mit der Zeit bekam Müller Attribute verliehen, die ihn bis heute begleiten. „Der härteste Jugendrichter Deutschlands“ zum Beispiel. Damit hat Müller kein Problem, das geht. Am besten gefiel ihm: „Der kreativste Jugendrichter“, weil das ja auch trifft. Bei „Richter Gnadenlos“ aber schwillt seine Halsschlagader: „Das ist eine Beleidigung“, sagt Müller. Als würde er als Richter keine Gnade kennen! In solchen Fällen kann er dann unangenehm werden, der Beruf bringt es mit sich: Den ein oder anderen („Bild“-)Journalisten hat er schon angerufen und belehrt, dass „gnadenlos“ gnadenloser Unsinn sei. Das Urteil: „Bitte nicht mehr verwenden!“ Am liebsten würde Müller noch mehr lenken, was so berichtet wird über ihn.
Ein anderer Titel, den er bekam: „Der rote Schill“, als Anspielung auf den früheren Hamburger Richter Ronald Schill. Das sei auch eine Beleidigung, mit dem verglichen zu werden, sagt Müller. Aber so ist das eben: Er und Schill waren die ersten Richter, die so medienpräsent waren; da wird man schon mal in einen Topf geworfen. Zumal Schill eines Tages in die Politik ging, Innensenator wurde, ein rechter Provokateur. Müller wollte auch mal in die Politik, aber auf der anderen Seite. 2002, mit 41 Jahren, trat er als Parteiloser auf der Liste der PDS zur Bundestagswahl an, überwarf sich allerdings mit den Genossen. Die Agenda ist geblieben. Richter Müller will Politik machen, Einfluss nehmen. Das sollten Journalisten mitdenken, wenn sie ihn einladen. Dass sie immer auch ein wenig benutzt werden.
Müller brennt für seine Themen. Das eine ist und bleibt: rechte Gewalt. Die hasst er. Außerdem fordert Müller, das Jugendstrafrecht zu reformieren, ein Zentralregister einzuführen, damit alle Richter auf einen Blick sehen können, wo der Jugendliche, der vor ihnen sitzt, schon in Erscheinung getreten ist. Nächstes Thema: die Legalisierung von Cannabis. Der Mann, der über Rechte hart richtet, erhielt mit der Zeit noch einen Ruf: bei Kiffern milde zu sein. Die Prohibition sei gescheitert, sagt er. Konsumenten würden zu Unrecht kriminalisiert. Der Staat täte gut daran, Cannabis kontrolliert abzugeben, für Erwachsene. Das brächte Steuern und würde die Gerichte entlasten. Und das Geld könne man dann in Aufklärung stecken, in Jugendschutz.
Dass Müller sich dieser Themen annimmt, liegt auch an seiner Biographie. Rechte Gewalt kennt er aus Jugendtagen, aus dem Emsland, wo er geboren wurde, und aus Bernau. Wenn es um Drogen geht, ist er ebenfalls Fachmann, nicht nur, weil er als junger Mann auch kiffte, sondern weil er die Macht von Drogen selbst erfuhr: Müllers Vater war Alkoholiker. Er trank und wurde in der Kneipe von den Kumpels dafür beklatscht. Als sein Sohn elf war, starb er. Totgesoffen. Und später, da war Müller bereits Richter, starb sein jüngerer Bruder. An Heroin. Er hatte eine lange Drogenkarriere hinter sich. Noch kurz vor seinem Tod, da war er schon lange im Methadon-Programm, wurde er wegen des Besitzes von Cannabis verurteilt. Für Müller unbegreiflich.
Das muss man wissen, um zu verstehen, was ihn antreibt. Für manche, auch für Journalisten, wirkt es dennoch wie ein Widerspruch: Ausgerechnet der harte Jugendrichter setzt sich für die Legalisierung von Cannabis ein? Für Kiffer? Eine super Geschichte, vor allem für den Boulevard. Und wenn mal wieder jemand schreibt, Cannabis sei eine Einstiegsdroge, platzt Müller. Weil das nicht stimme. Oder wenn Journalisten in Geschichten übers Kiffen zerstörte Menschen abbilden, die nicht gekifft, sondern harten Stoff genommen haben. Sowas macht Müller wütend. Und doch sagt er, dass die meisten Journalisten, die ihm begegnet sind, vernünftige Menschen seien. Manche hätten ihren Job verfehlt, okay. Gibt’s überall.
Einer der lustigsten Artikel über Müller erschien voriges Jahr, in der „Bild am Sonntag“: „Nanu, Deutschlands härtester Jugendrichter will das Kiffen erlauben?“, stand dort. Das ist deshalb lustig, weil Müller das, nanu, schon seit vielen Jahren fordert. Aber manche streuen den Widerspruch immer wieder neu auf, wie die „BamS“:
Er ist für seine knallharten Urteile bundesweit bekannt. Doch nun steht der Berliner Jugendrichter Andreas Müller (54) in einer Cannabis-Plantage und fordert überraschend liberal: ‚Die rechtliche Verfolgung von Kiffern schafft Opfer. Wir müssen Cannabis als Suchtmittel endlich legalisieren.‘
Klingt, als wäre der „BamS“-Reporter an der Plantage vorbeigefahren, in der zufällig der Richter stand. Nanu?
Müller sind so doofe Texte egal, weil er auch so seine Botschaft transportieren kann. Müller und die Medien, das ist deshalb die perfekte Co-Existenz: Journalisten rufen bei ihm an, weil sie wissen, dass er schnell überschriftentaugliche Zitate liefert, auch wenn er noch nichts gegessen hat. Er ist gut erreichbar, autorisiert schnell. In Talkshows kann er unterhaltsam sein, aber auch emotional und streitlustig. Ab und an redet er sich so in Rage, dass er ganz verblüfft schaut, wenn er unterbrochen wird. Vermutlich hatte er dann vergessen, Freunde zu bitten, ihn vor der Sendung per SMS zu erinnern, nicht so aufbrausend zu sein. Gelegentlich macht er das so. Gelegentlich hilft das überhaupt nichts.
So einen lieben Medienmacher. Richter Müller ist quasi das, was Ferdinand Dudenhöffer unter den Auto-Experten ist, nur das er noch nie als „Jugendkriminalitäts-Papst“ bezeichnet wurde.
Als wir uns für ein Übermedien-Interview verabredeten, sagte er kurzfristig ab. Er müsse zu einer Live-Schalte ins ZDF, eine Sondersendung. Am Telefon entschuldigte er sich: „Ich muss die fünf Millionen Zuschauer Einschaltquote leider vorziehen.“ War klar: Nach jedem Auftritt, jedem Text in einer Zeitung verkauften sich seine Bücher besser. „Ein Autor will gelesen werden“, sagt er. „Und ich bin viel mehr von den Journalisten abhängig, als die von mir. Die können auch irgendeinen anderen Richter nehmen, einen von der Staatsanwaltschaft oder den Pressesprecher des Richterbundes. Aber sie wollen mich – und damit kann ich Botschaften loswerden.“
Anfangs wurde Müller von seinen Kollegen noch geschmäht für seinen Öffentlichkeitsdrang. Eitel sei das, selbstverliebt, sagten sie. Das kann so wirken, wenn Müller cool, mit wehender Robe durchs Gericht läuft, wie in dieser Phoenix-Doku von 2004: „Richter Müller – ein Mann greift durch“.
Aber vielleicht war die Kritik der Kollegen auch bloß Neid. Andere, erzählt Müller, seien auch in Talkshows gegangen und wollten anschließend nie wieder dort hin. Weil es ihnen nicht lag. Weil sie das nicht konnten, so reden, so tun. Müller kann das. Mittlerweile wird er dafür auch von seinem Gericht geschätzt. In einer Beurteilung stand: „Macht hervorragende Pressearbeit“.
Trotzdem hatte er es satt zwischendurch, wollte aufhören, oder wenigstens kürzer treten. Eine Zeitlang hatte ihm die Berliner Richterin Kirsten Heisig, „meine Weggefährtin“, viel Pressearbeit abgenommen. Auch sie hatte eine Botschaft und ein Buch, mit Müller teilte sie Themen und Überzeugung, das war gut für ihn. Bis Kirsten Heisig im Jahr 2010 Suizid beging. Auch Müller war selbst schon am Limit, überarbeitet, erschöpft. Aber er macht weiter, getrieben fast, machmal weiß er selbst nicht so genau, warum noch mal.
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