Hasswort (49)

Spaltung der Gesellschaft

Exklusiv für Übonnenten

Anfang 2021. Die Coronapandemie ist auf ihrem Höhepunkt – und wir sind im Lockdown. Um nicht völlig zu vereinsamen, telefoniere ich mit einer alten Freundin. Wir kennen uns seit Schulzeiten und haben trotz unterschiedlicher Lebenswege Kontakt gehalten. Wir plaudern über Leben, Studium, Arbeit. Doch immer wieder quetscht sich ein alles überschattendes Thema in unsere Unterhaltung: das Virus. Und schnell zeigt sich: Wir haben hier grundverschiedene Ansichten. Ich bin für die Impfung, sie dagegen. Ich stehe hinter der Maskenpflicht, sie lehnt sie ab.

Egal, wie lange wir miteinander diskutieren, wir finden keinen gemeinsamen Nenner. Das Gespräch soll nicht unser letztes bleiben, leitet aber den finalen Kontaktabbruch ein. Und nein, die Coronapandemie war nicht der einzige Grund dafür, aber ein wesentlicher.

Inflationäre Verwendung

Ich bin nicht die Einzige, die solche Erfahrungen gemacht hat. Die deutschen Medien titeln in dieser Zeit:

  • „Corona: Die Spaltung der Gesellschaft verhindert einen rationalen Diskurs“ („Frankfurter Rundschau“)
  • „Spaltet Corona die Gesellschaft?“ (Deutsche Welle)
  • „Das gespaltene Land: die Wut der Geimpften“ (RND)
  • „Corona-Proteste: Mehrheit bereitet Spaltung der Gesellschaft Sorgen“ (MDR)

Corona liegt mittlerweile hinter uns (drei Kreuze, dass das erstmal die letzte große Pandemie gewesen ist). Doch die Spaltung der Gesellschaft bleibt Krisenthema: Jung gegen Alt (#Rente); Arm gegen Reich (#Umverteilung); Pro-Israel gegen Pro-Palästina (#Zweistaatenlösung). Konfliktlinien dieser Art verstärken den Eindruck, dass die deutsche Gesellschaft mehr denn je und multithematisch gespalten ist.

Beängstigender als der Ukraine-Krieg

Laut einer aktuellen Umfrage der Universität Freiburg empfinden rund 74 Prozent der Befragten die Spaltung der Gesellschaft als ziemlich oder sehr bedrohliche Krise. Im Vergleich zum Vorjahr löst sie damit den Ukrainekrieg als drängendste Gefahr ab.

Der Begriff Spaltung der Gesellschaft wurde in den Medien noch nie so viel genutzt wie im vergangenen Jahrzehnt. Der Höhepunkt seiner Verwendung im Jahr 2021 lässt sich vermutlich auf die angespannte Lage in der Coronapandemie zurückführen. Mittlerweile wird das Schlagwort längst in neuen Zusammenhängen genutzt. Ob Medien über das Erstarken rechtsgerichteter Parteien, Migration oder den russischen Angriffskrieg berichten: Immer geht es um die angebliche Spaltung der Gesellschaft.