In dieser Rubrik geben wir Autorinnen und Autoren die Gelegenheit, über ihr persönliches Hasswort zu schimpfen. Eine Redewendung oder Formulierung, die nervt, sinnlos ist oder falsch eingesetzt wird – die aber ständig auftaucht, in Texten, im Radio oder im Fernsehen. Alle Hasswörter finden Sie hier.
Spaltung der Gesellschaft
Anfang 2021. Die Coronapandemie ist auf ihrem Höhepunkt – und wir sind im Lockdown. Um nicht völlig zu vereinsamen, telefoniere ich mit einer alten Freundin. Wir kennen uns seit Schulzeiten und haben trotz unterschiedlicher Lebenswege Kontakt gehalten. Wir plaudern über Leben, Studium, Arbeit. Doch immer wieder quetscht sich ein alles überschattendes Thema in unsere Unterhaltung: das Virus. Und schnell zeigt sich: Wir haben hier grundverschiedene Ansichten. Ich bin für die Impfung, sie dagegen. Ich stehe hinter der Maskenpflicht, sie lehnt sie ab.
Egal, wie lange wir miteinander diskutieren, wir finden keinen gemeinsamen Nenner. Das Gespräch soll nicht unser letztes bleiben, leitet aber den finalen Kontaktabbruch ein. Und nein, die Coronapandemie war nicht der einzige Grund dafür, aber ein wesentlicher.
Inflationäre Verwendung
Ich bin nicht die Einzige, die solche Erfahrungen gemacht hat. Die deutschen Medien titeln in dieser Zeit:
- „Corona: Die Spaltung der Gesellschaft verhindert einen rationalen Diskurs“ („Frankfurter Rundschau“)
- „Spaltet Corona die Gesellschaft?“ (Deutsche Welle)
- „Das gespaltene Land: die Wut der Geimpften“ (RND)
- „Corona-Proteste: Mehrheit bereitet Spaltung der Gesellschaft Sorgen“ (MDR)
Corona liegt mittlerweile hinter uns (drei Kreuze, dass das erstmal die letzte große Pandemie gewesen ist). Doch die Spaltung der Gesellschaft bleibt Krisenthema: Jung gegen Alt (#Rente); Arm gegen Reich (#Umverteilung); Pro-Israel gegen Pro-Palästina (#Zweistaatenlösung). Konfliktlinien dieser Art verstärken den Eindruck, dass die deutsche Gesellschaft mehr denn je und multithematisch gespalten ist.
Beängstigender als der Ukraine-Krieg
Laut einer aktuellen Umfrage der Universität Freiburg empfinden rund 74 Prozent der Befragten die Spaltung der Gesellschaft als ziemlich oder sehr bedrohliche Krise. Im Vergleich zum Vorjahr löst sie damit den Ukrainekrieg als drängendste Gefahr ab.
Der Begriff Spaltung der Gesellschaft wurde in den Medien noch nie so viel genutzt wie im vergangenen Jahrzehnt. Der Höhepunkt seiner Verwendung im Jahr 2021 lässt sich vermutlich auf die angespannte Lage in der Coronapandemie zurückführen. Mittlerweile wird das Schlagwort längst in neuen Zusammenhängen genutzt. Ob Medien über das Erstarken rechtsgerichteter Parteien, Migration oder den russischen Angriffskrieg berichten: Immer geht es um die angebliche Spaltung der Gesellschaft.
Die Autorin
Ciara Cesaro-Tadic ist freie Investigativ- und Datenjournalistin. Aktuell arbeitet sie unter anderem für den Politik-Podcast „Lage der Nation“ sowie den NDR. Parallel ist sie Host und Autorin für das investigative ZDF-Dokumentationsformat „Die Spur“. Sie recherchierte unter anderem zu den Facebook Files, der Rolle von sozialen Medien für rechtsextreme Akteur*innen sowie den Abzug der deutschen Bundeswehr aus Afghanistan.
Die Spaltung gibt es so nicht
Dass unsere Gesellschaft gar nicht so gespalten ist, wissen wir spätestens seit dem Bestseller „Triggerpunkte“ der Forscher Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser von 2023. Sie stellen fest, dass es zwar Unterschiede in der Wahrnehmung und den Ansichten über zentrale Themen wie Armut, Migration oder Klimaschutz gibt, diese jedoch nicht zwangsläufig zu einer tiefen Spaltung der Gesellschaft führen. Denn bei vielen Themen, von denen man annehmen könnte, sie würden polarisieren, nehmen die meisten Menschen eine Mittelposition ein oder tendieren mehrheitlich klar zu einer Seite.
Die allermeisten Menschen sind besorgt über den Klimawandel. Die allermeisten Menschen unterstützen die Rechte von Trans-Personen und Homosexuellen. Die allermeisten Menschen finden die Einkommens- und Vermögensunterschiede in Deutschland zu groß. Wenn überhaupt, entstehe Spaltung heute bei konkreten Maßnahmen, schreiben die Forscher, wie der Besteuerung von SUVs. Hier seien die meisten Menschen entweder dafür oder dagegen. Eine neutrale Mitte gebe es kaum. Unsere Wahrnehmung und das Bild, das die Medien zeichnen, decken sich also nicht mit den empirischen Befunden der Wissenschaft.
Hauptsache, es knallt
Aber warum ist es für Journalistinnen und Journalisten so reizvoll, immer wieder eine Spaltung der Gesellschaft zu diagnostizieren? Erstens, Konflikte und Extreme wirken für uns Menschen spannender als Konsens. Geschichten über gesellschaftliche Spaltung sind emotional geladen und wecken Interesse. Wenn zum Beispiel über Demos berichtet wird, liefern die absolut Überzeugten natürlich die eindeutigeren O-Töne als die Unsicheren, Abwägenden, Unentschiedenen.
Darüber hinaus neigen Medien dazu, komplexe Themen zu vereinfachen, um sie für das Publikum zugänglicher zu machen. Dabei helfen klare, emotionale Narrative und extreme Positionen. Eine nuancierte und differenzierte Berichterstattung hingegen, die die Vielfalt der Meinungen und Erfahrungen berücksichtigt, wird häufig als zu kompliziert oder uninteressant wahrgenommen.
So greifen Medien bei fast jedem kontroversen Thema reflexartig auf die Spaltung der Gesellschaft zurück: Welche Auswirkungen hat die Migrationsdebatte? Eine Spaltung der Gesellschaft. Welche Folgen hat die Diskussion über Waffenlieferungen an die Ukraine? Eine Spaltung der Gesellschaft. Was ist das Resultat der Debatte zum Thema Arbeitslosengeld? Eine Spaltung der Gesellschaft. Wer da genau gespalten sein soll, zu welchen Positionen und mit welchen Mehrheiten, geht aus dieser Diagnose oft gar nicht hervor.
Sowohl-als-auch-Positionen fehlen
Dass Medien sich der Rhetorik der Spaltung der Gesellschaft aktuell so leichtfertig und inflationär bedienen, hat längst das gesellschaftliche Klima beeinflusst. Medien prägen nicht nur die Meinungsbildung. Sie können auch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit ermöglichen – oder das Gegenteil bewirken, indem sie das Vertrauen in Institutionen und Mitmenschen untergraben. Und das wiederum kann zu einer allgemeinen Verunsicherung und realer Polarisierung führen.
Medien können zudem dazu beitragen, dass sich Menschen genötigt fühlen, klare Positionen zu beziehen und sich einer zweipoligen Logik entsprechend unterkomplex-einseitig zu entscheiden – schlicht, weil Sowohl-als-auch-Haltungen in der Öffentlichkeit kaum präsent sind. Solch ein binäres Klima macht es wahrscheinlicher, dass sich gemäßigte Stimmen zurückhalten. Das erschwert den Dialog und die Möglichkeit, gemeinsame Lösungen zu finden.
Nährboden für Populismus
So fungiert die Berichterstattung als Nährboden für extreme politische Positionen und für Populismus, der an die vermeintliche Polarisierung direkt anknüpft nach dem Motto „Wir gegen die“. Zusätzlich schwächt eine mediale Berichterstattung, die ständig die Spaltung der Gesellschaft beschwört, das Vertrauen in journalistische Institutionen, weil Menschen die Medienberichterstattung als übertrieben oder rein sensationsgetrieben empfinden.
Mit der Freundin, die zu Impfungen so ganz anderer Meinung war, habe ich übrigens bis heute nicht mehr gesprochen. Und ja, in meinem Freundes- und Familienkreis gibt es weitere Fälle, in denen Meinungsverschiedenheiten Beziehungen sprengen. Aus diesen individuellen Erfahrungen gleich einer ganzen Gesellschaft eine Spaltung zu attestieren, ist und bleibt trotzdem empirisch falsch.
Das ist der entscheidende Satz: „Solch ein binäres Klima macht es wahrscheinlicher, dass sich gemäßigte Stimmen zurückhalten. Das erschwert den Dialog und die Möglichkeit, gemeinsame Lösungen zu finden.“
Genauso ist es und – ja! – es IST die Verantwortung von Medien (vor allem ÖRR) den gesellschaftlichen Dialog zu ermöglichen. Das ist dezidiert NICHT die Aufgabe von Politik – die kann es nicht und könnte es ohnehin nicht ohne Massenmedien. Wie oft höre ich aus Journamistenmund bei Lanz, Presseclub etc.: Scholz/Habeck/Politiker x müssen besser kommunizieren. Nein, das müssen die Medien.
Und da ist es zerstörerisch, bei jeder Sache eine Spaltung herbeizukommentieren. Wahrscheinlich ist Deutschland heute gespalten wegen Neuwahltermins. Die Autorin spießt das zurecht anhand dieses Beispiels auf – danke!
„Corona liegt mittlerweile hinter uns“ – sorry, aber diesen Mythos könnte man meiner Meinung nach auch mal in dieser Kolumne besprechen: hinter uns liegen hauptsächlich nur die Maßnahmen zur Bekämpfung der weiterhin andauernden Pandemie.
Die Spaltungsorgie geht noch viel weiter. Es gibt mittlerweile so viele Nationen, die immer wieder und wieder als „zutiefst gespaltenes Land“ bezeichnet werden, dass man versucht ist zu fragen: „Noch jemand ohne Spaltung?“ Dass verschiedene Meinungen in einer Gesellschaft vorkommen und Menschen verschiedene Parteien wählen, ist noch lange keine Spaltung, sondern völlig normal.
„Freiheit statt Sozialismus“ – Wahlkampfparole der CDU/CSU 1976 gegen Helmut Schmidt und die SPD. Von Spaltung hat damals niemand gesprochen.
Allmählich bekomme ich den Eindruck, dass die Medien diese Spaltung eigentlich wollen…
Ich kann ‚Chateaudur‘ nur zustimmen: Die Kommunikation ist Sache der Medien. Alles was wir von außerhalb unserer unmittelbaren Reichweite wissen, ist medial vermittelt; die Sicht auf Dinge und Vorkommnisse, die Anschauung von der Welt.
Doch allzu oft kommen die Medienschaffenden dieser Aufgabe nicht nach. Oft leider auch in jenen Medien, die sich dem Qualitätsjournalismus verpflichtet zeigen. Auch dort nehme ich zunehmend Bequemlichkeit und Schludrigkeit wahr, bis hin zu sprachlichem Unvermögen. Zuweilen sogar Angst, wie Arne Semsrott kürzlich in diesem Blog („Ich fordere: Der Forderungsjournalismus muss sterben!“) skizziert hat. Aber vielleicht war das ja schon immer so.
Ein „werteorientierter Journalismus“ nach Georg Restle scheint mir nicht die Lösung zu sein. Jene Werteorientierung empfinde ich zuweilen als euphemistische Überhöhung einer verengten Sichtweise. Als recht fleißig in dieser Hinsicht fällt mir zurzeit „Correctiv“ auf: mehr Kampagne als Recherche.
Freilich möchte ich nicht einem „Er-sagte-sie-sagte-Journalismus“ das Wort reden, der sich sich neutral gibt und damit Gefahr läuft, sich vor den Karren anderer spannen zu lassen. Denn „rechte Parolen gehören nicht unwidersprochen in Überschriften.“ (Semsrott, a.a.O.)
Bestenfalls entwertet sich ein solcher Journalismus selbst. Soche in diesem Sinne wertlosen Beiträge finden sich oft in den Hauptnachrichten mit ihrem inneren Zwang zur Verkürzung.
Aber es gibt auch Ermutigendes, wie jüngst der Umgang der „Tagesschau“-Redaktion mit dem eigenen Missgriff bei der Berichterstattung über die gewaltförmigen Auseinandersetzungen in Amsterdam zeigt.
„Alles was wir von außerhalb unserer unmittelbaren Reichweite wissen, ist medial vermittelt; die Sicht auf Dinge und Vorkommnisse, die Anschauung von der Welt.“
Wir leben aber nicht mehr in den Zeiten, in denen ein Peter Scholl-Latour in Kolonial-Klamotte den Erklärbär für die Zuhausegebliebenen spielte, wobei er verbal noch einmal gutmütig den Eingeborenen über den Kopf streichelte. „Die Medien“ haben sich in Form, Inhalt und Personen grundlegend gewandelt.
Und die alten Medien müssen sich vorwerfen lassen, dass sie in der Summe ein Bild der Welt perpetuiert haben, welches heute mit der Masse an Informationsvermittlungen durchaus auch berechtigt seine Mühe hat. Es ist eben nicht der Maßstab, an dem sich Fakenews heute messen lassen. Jeder aufgedeckte Fehler der „Qualitätsmedien“ läßt die Gruppe derjenigen anwachsen, für die Nachrichtenquellen und Inhalte komplett beliebig geworden sind.
Und, gibt es eine Spaltung nicht mehr, wenn aufgehört wird, darüber zu berichten?
Spaltung ist gewünscht. Sie gehört zur Grundvoraussetzung jeder faschistischen Agenda, sowie zum Kampf gegen eben diese, dazu. Poppers Toleranz Paradoxon und „How facism works“ von Jason Stanley beschreiben die Hintergründe dazu.
Der Kulturkampf intendiert diese Spaltung.
Darüber zu berichten, ohne sie zu betreiben, das wäre die Aufgabe. Und das dann noch ohne Toleranz gegen die Intoleranten und mit dem Bewusstsein, dass in Teilen bis zu 100% des medial Vermittelten gar nicht mehr aus Quellen stammen, die Profis bespielen.