Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz am Sonntag zu seinem ersten Besuch in Zentralasien eintrifft, wird er von einer hochkarätigen Wirtschaftsdelegation begleitet, darunter Vertreter von Siemens Energy, Svevind Energy, Knauf, Claas und anderer wichtiger Unternehmen. Zentralasien hat seit dem deutschen Rückzug aus Afghanistan an Bedeutung gewonnen. Auch der russische Angriffskrieg in der Ukraine trägt dazu bei, dass EU, Russland, China und die Golfstaaten dort verstärkt um Einfluss ringen.
Scholz besucht an zwei Tagen Usbekistan und Kasachstan sowie das Z5-Gipfeltreffen, um die Regionalpartnerschaft zu vertiefen. Deutschland ist an erhöhten Öl- und Gasimporten interessiert, will in der Terrorismusabwehr, beim Klimaschutz und beim Thema Migration enger zusammenarbeiten. Vor allem das bevölkerungsreichste Land Usbekistan gilt bei der Bundesregierung seit seiner Liberalisierung und Marktöffnung 2017 als attraktiver Partner.
Die Autorin
Gemma Pörzgen ist freie Journalistin mit Osteuropa-Schwerpunkt in Berlin. Sie ist Chefredakteurin der Zeitschrift „Ost-West. Europäische Perspektiven“, Online-Redakteurin beim Deutschlandfunk und arbeitet als Autorin und Veranstaltungsmoderatorin. Davor war sie Auslandskorrespondentin für verschiedene Zeitungen in Belgrad und Tel Aviv. Sie ist Mitgründerin und ehrenamtliches Vorstandsmitglied von Reporter ohne Grenzen Deutschland.
82-Millionen-Einwohner-Region ist ein weißer Fleck
Die Kanzlerreise wäre also für Redaktionen eine gute Gelegenheit, die Aufmerksamkeit auf Länder zu lenken, von denen viele Deutsche vermutlich nicht einmal wissen, wo genau sie sich befinden. Auch einige Korrespondenten der Berliner Hauptstadtbüros reisen bei der Kanzlerreise mit nach Zentralasien. Erfahrungsgemäß werden sie sich aber vor allem auf Scholz fokussieren. Bei den Pressekonferenzen dürfte die Lage in den Gastländern im Vergleich zu Fragen nach dem Zustand der Ampelkoalition kaum eine Rolle spielen.
In den Berichten vorab ging es vor allem um das geplante Migrationsabkommen mit Usbekistan und Wirtschaftsvorhaben. So rückt Zentralasien wenigstens für den Moment einmal in das Licht medialer Aufmerksamkeit. Denn die Region ist sonst ein weitgehend weißer Fleck in der deutschen Berichterstattung. In den fünf Ländern Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan mit rund 82 Millionen Menschen gibt es heute keinen einzigen Auslandskorrespondenten aus Deutschland mehr.
Die freie Journalistin Edda Schlager war fast 18 Jahre lang vor Ort. Die Autorin und Fotografin lebte in der kasachischen Stadt Almaty und reiste regelmäßig durch die fünf Staaten. Sie berichtete für zahlreiche deutsche Medien, machte Radiobeiträge für den Deutschlandfunk, schrieb unter anderem für „Spiegel Online“, „Zeit Online“, die „Berliner Zeitung“ und das Magazin „Cicero“. Mit ihrem Weggang 2023 in eine feste Anstellung in Berlin hinterlässt sie bei der Berichterstattung aus der Region eine große Lücke.
Auch mehr als 30 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der jungen Nationalstaaten kommen die Meldungen der Deutschen Presseagentur (dpa) aus dem Moskauer Büro und sind eher spärlich. Auch bei ARD und ZDF ist unverändert das Studio in Moskau zuständig. Keine der großen Tages- und Wochenzeitungen berichtet kontinuierlich von vor Ort.
Zuständige Journalisten oft Tausende Kilometer entfernt
Bei der „Süddeutschen Zeitung“ werde Zentralasien mit Hilfe verschiedener Experten sowie von den Korrespondenten in Moskau und Wien und zwei Kollegen in der Zentrale betreut, sagt Auslandschef Stefan Kornelius im Gespräch mit Übermedien. Alle vier reisten regelmäßig in die Region: „Wir berichten bei den gebotenen Anlässen wie Wahlen oder innenpolitischen Zäsuren, vor allem aber auch im Zusammenhang mit folgenden Themen: Energieversorgung, demokratische Entwicklung, Islamismus, Rolle im geopolitischen Kräfteverhältnis besonderen mit Bezug auf Russland und den Einfluss Chinas.“
Bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ sitzt neben dem zuständigen Moskau-Korrespondenten in der Frankfurter Redaktion die politische Redakteurin Othmara Glas, die 2021 ein Jahr als freie Journalistin in Almaty gelebt und gearbeitet hat. Sie habe immer noch ein besonderes Augenmerk auf Zentralasien, erzählt sie im Gespräch mit Übermedien, verfüge über viele Kontakte in der Region und verfolge die lokalen Quellen, wenn auch aus der Ferne.
Bei aller Expertise: Beobachtungen aus dem Alltag in der Region sind so nicht möglich. Der ehemaligen Korrespondentin Schlager zufolge wird es immer schwieriger, Leben und Arbeit im Ausland zu finanzieren. Als sie 2005 in Kasachstan ankam, berichteten von dort zunächst noch zwei weitere freie Kollegen für deutsche Medien, schließlich blieb sie allein vor Ort. Es mangelte ihr nicht an Aufträgen aus deutschen Redaktionen, trotzdem bot die journalistische Arbeit auch für die Zentralasien-Enthusiastin auf Dauer keine Perspektive.
„Das Hauptproblem ist, dass die Honorare viel zu niedrig sind für die viele Arbeit, die man täglich leistet“, sagt Schlager im Gespräch mit Übermedien. Vor allem an Reisespesen werde in Redaktionen zunehmend gespart, allein über die Honorare könnten Freie in einer weitläufigen Region wie Zentralasien die aber nicht aufbringen. Schlagers Versuche mit häufigen Auftraggebern ein stabileres Arbeitsverhältnis, auch finanziell, aufzubauen, schlugen fehl. Die früher üblichen Pauschalen, die Redaktionen jeden Monat fest vereinbart zahlen, gibt es heute kaum noch.
Korrespondenten bleiben heute nicht mehr so lange
Die Journalistenorganisation „Weltreporter“ beklagt die schwierige Lage freier Auslandskorrespondenten schon lange. Sie hat unter ihren Mitgliedern seit Jahren niemanden mehr in Zentralasien und sieht mit Sorge, dass in immer mehr Weltgegenden freie Korrespondenten fehlen. Die Honorare seien zu niedrig, viele Redaktionen auch nicht mehr bereit, die Kosten und Garantien für Visa oder die Akkreditierung zu übernehmen, sagt Weltreporter-Geschäftsführerin Christina Schott gegenüber Übermedien. Da heiße es meistens eher: „Wenn ihr einen Artikel habt, schickt ihn gerne.“ Nur der einzelne Beitrag werde dann honoriert. Aber davon könne man als Freie im Ausland nicht leben.
Hinzu kommt, dass viele junge Auslandsreporter heute nicht mehr dazu bereit seien, sich wie Edda Schlager in einer Region über längere Zeit niederzulassen, die Landessprachen zu lernen und Entwicklungen vor Ort über Jahre zu begleiten. Das „digitale Nomadentum“ mit dem häufigen Wechsel von einem Land zum anderen werde stärker zum Modell im Auslandsjournalismus, sagt Schott. „Da bekommt man das Lebensgefühl in einem Land halt nicht so richtig mit.“
In Zentralasien sind die Arbeitsbedingungen für ausländische Journalistinnen und Journalisten sehr unterschiedlich. Das diktatorisch regierte Turkmenistan bleibt verschlossen. Auch in Tadschikistan war die Einreise oft schwierig. In diesem Sommer reisten im Zusammenhang mit einer internationalen Wasserkonferenz einige deutsche Kollegen erstmals ins Land und recherchierten unter schwierigen Bedingungen zu islamistischem Terrorismus. So war der „Stern“-Auslandsreporter Moritz Gathmann im Juli erstmals im Land, um zu recherchieren, warum islamistische Terroristen in letzter Zeit wiederholt aus Tadschikistan stammten. Unproblematisch ist die journalistische Arbeit dagegen in Kasachstan, Kirgistan und Usbekistan.
ARD berichtet noch immer von Moskau aus
„Kasachstan, der einflussreichste und wirtschaftlich wichtigste Staat der Region, spielt eine weit größere Rolle als etwa die ‚black box‘ Turkmenistan“, teilt der WDR mit, der im ARD-Senderverbund für das Moskauer Büro und damit auch für Zentralasien zuständig ist. Über Kasachstan werde deshalb am meisten berichtet. Auch vor dem Kanzlerbesuch sei Studioleiterin Ina Ruck aus Moskau dorthin gereist, um zu recherchieren, was vor Ort von dem Besuch erwartet werde. Sie besuchte auch für eine TV-Reportage die Nomaden-Festspiele. Die „World Nomad Games“ wurden 2014 von Kirgisistan ins Leben gerufen, um das Land und seine nomadische Kultur international zu präsentieren. Nach zwei erfolgreichen Austragungen in Kirgistan und einer Episode in der Türkei übernahm in diesem Jahr Kasachstan die Organisation der Spiele, die sich an den Olympischen Spielen orientieren.
Angesichts der internationalen Großkrisen wie dem Ukraine-Krieg oder dem Krieg im Nahen Osten scheinen viele Redaktionen zufrieden damit, was sie aus Zentralasien mitbekommen. Der WDR teilt mit, dass das Studio in Moskau auch in Zukunft für die Region zuständig bleibe und keine Veränderungen geplant seien. Schlager wundert sich darüber, denn die Moskauer Studios von ARD und ZDF decken ein so großes Territorium ab, dass das schwer zu bewältigen sei.
Die Region mit ihrer sehr jungen Bevölkerung bietet weit mehr Themen als Wirtschaft und Politik, vom Alltag und Leben der Menschen dort, über die Diskussionen im Land und die Kultur bis hin zur weit fortgeschrittenen Digitalisierung. Außerdem besteht die Gefahr, dass deutsche Medien bei der Neuordnung der multipolaren Welt in der Aufstellung ihrer Korrespondentenposten und Berichtsgebiete hinterherhinken. So hat der WDR beispielsweise erst im Oktober 2023 ein eigenständiges ARD-Studio in Kiew eröffnet, anderthalb Jahre nach dem russischen Überfall auf die Ukraine.
Auch die aus Kasachstan stammende politische Analystin Alexandra Sitenko in Berlin sieht den tradierten Blick aus Moskau auf die früheren Sowjetrepubliken kritisch und hält ihn für überholt. „Die deutsche Berichterstattung über Zentralasien ist meistens sehr oberflächlich und von Stereotypen dominiert“, sagt sie. Hochkarätige Gipfeltreffen in der Region würden medial zu oft als „Autokratentreffen“ abgetan, statt sich für deren Initiativen zu interessieren und Debatten mitzuverfolgen. „Ganz nach dem Motto, das sind keine Demokratien, also nicht der Rede wert.“ Sitenko stört sich an einem verbreiteten „Schwarz-Weiß-Denken“, das der großen Dynamik dieser jungen Gesellschaften nicht gerecht werde. „Die Deutschen haben dadurch ein unvollständiges Bild von der Welt.“ Dabei werde Zentralasien gerade zu einem weltpolitischen Akteur, der mehr Beachtung verdiene.
Online-Redaktion will „anderes Bild“ vermitteln
Die Redaktion des deutschen Online-Portals „Novastan“ versucht deshalb, mehr Informationen aus Zentralasien anzubieten. „Wir verstehen uns als journalistisches Projekt, das ein anderes Bild von Zentralasien jenseits der Nachrichten vermitteln will“, sagt Redaktionsleiter Florian Coppenrath, der in Berlin Zentralasienstudien studiert hat und über „Hip-Hop in Kirgistan“ promoviert. Das engagierte Projekt wird von etwa 15 Ehrenamtlern ohne journalistischen Hintergrund getragen und bietet für Zentralasien-Interessierte neben der Webseite einen Newsletter mit politischen Analysen, Kulturberichten, aber auch übersetzten Artikeln aus den Ländern selbst. Das Projekt ist eher ein Nischenprodukt, der Newsletter erreicht gerade mal 1.300 Leser. Aber er bietet eine Vielfalt von Themen aus der Region, darunter die Lage von Staatenlosen, die aktuelle Debatte über „LGBT-Propaganda“ in Kasachstan oder einen Reisebericht aus dem Nachtzug in die tadschikische Hauptstadt Duschanbe.
Coppenrath ist optimistisch, dass das mediale Interesse an Zentralasien in Deutschland zunimmt. Er beobachtet schon jetzt, dass deutsche Regional- und Lokalzeitungen inzwischen häufiger Themen aus der Region aufgreifen, was auch mit der verstärkten Arbeitsmigration aus Zentralasien zu tun hat. „Das ist mal der Fall einer Mutter aus Kasachstan, die gegen ihre Abschiebung protestiert, oder das Porträt eines Usbeken, der jetzt in München arbeitet.“ Coppenrath glaubt daran, dass „uns die Region durch zunehmende menschliche Kontakte etwas näher rückt“.
4 Kommentare
Hmmm, bei der Größe des Aralsees auf der Karte oben, scheint die nicht ganz taufrisch zu sein…
Lateinamerika schifft bei der Berichterstattung auch seit Jahren ab.
Wie sollen wir die Welt verstehen, wenn darüber nicht berichtet wird?
Es ist doch relativ normal, dass sich stark verändernde Gewässer nicht korrekt eingetragen werden. Auch auf neuesten Karten wird der Kachowkaer Stausee
in der Ukraine noch auf der Größe vor der Zerstörung des Staudammes durch die Russen aufgezeigt.
Der Kartenenthusiast in mir kann aber sagen; Diese Karte stammt von 2019 – 2022, da die Hauptstadt Kasachstans Nursultan heißt. Davor und danach hieß sie Astana. 2-5 Jahre alt ist vollkommen in Ordnung. Problematisch ist eher die allgemeine Darstellung z.B. des Aralsees, so als ob einer der größten Seen der Erde sich aufgrund des Klimawandels nicht verändern würde, obwohl er beinahe ausgetrocknet ist.
#3
Ja, ich hätte beifügen sollen – der Gedanke kam mir dann nur später erst – dass mir völlig unklar ist, ob und wie man sowas handhabt auf Karten, wenn Gewässer überhaupt nicht mehr dem entsprechen, was mal war. Vom Aral-See ist ja kaum noch was übrig… da hätte es wohl tatsächlich einer entsprechenden redaktionellen Entscheidung bedurft.
Und da wir so drüber schreiben wünschte ich mir gleich eine Doku der nicht-mehr-anwesenden Korrespondentin, wie die riesigen freigewordenen Flächen des Aral-Sees eigentlich aussehen und was mit ihnen durch Natur und Mensch geschieht…
Hmmm, bei der Größe des Aralsees auf der Karte oben, scheint die nicht ganz taufrisch zu sein…
Lateinamerika schifft bei der Berichterstattung auch seit Jahren ab.
Wie sollen wir die Welt verstehen, wenn darüber nicht berichtet wird?
Es ist doch relativ normal, dass sich stark verändernde Gewässer nicht korrekt eingetragen werden. Auch auf neuesten Karten wird der Kachowkaer Stausee
in der Ukraine noch auf der Größe vor der Zerstörung des Staudammes durch die Russen aufgezeigt.
Der Kartenenthusiast in mir kann aber sagen; Diese Karte stammt von 2019 – 2022, da die Hauptstadt Kasachstans Nursultan heißt. Davor und danach hieß sie Astana. 2-5 Jahre alt ist vollkommen in Ordnung. Problematisch ist eher die allgemeine Darstellung z.B. des Aralsees, so als ob einer der größten Seen der Erde sich aufgrund des Klimawandels nicht verändern würde, obwohl er beinahe ausgetrocknet ist.
#3
Ja, ich hätte beifügen sollen – der Gedanke kam mir dann nur später erst – dass mir völlig unklar ist, ob und wie man sowas handhabt auf Karten, wenn Gewässer überhaupt nicht mehr dem entsprechen, was mal war. Vom Aral-See ist ja kaum noch was übrig… da hätte es wohl tatsächlich einer entsprechenden redaktionellen Entscheidung bedurft.
Und da wir so drüber schreiben wünschte ich mir gleich eine Doku der nicht-mehr-anwesenden Korrespondentin, wie die riesigen freigewordenen Flächen des Aral-Sees eigentlich aussehen und was mit ihnen durch Natur und Mensch geschieht…