Notizblog (19)

Wo anderer Leute Artikel am Fließband durch den KI-Fleischwolf gedreht werden

Das hier ist der Kollege Moritz Gathmann, wie ihn der „Stern“ über einem Artikel zeigt:

Screenshot: „Stern“

Und das hier ist jemand, der fast so heißt wie Moritz Gathmann und, naja, fast so aussieht wie Moritz Gathmann, wie ihn der „Aussiedlerbote“ über einem Artikel zeigt:

Screenshot: „Aussiedlerbote“

Die Ähnlichkeit ist ebenso wenig zufällig wie die Unähnlichkeit: Der „Aussiedlerbote“, der sich auch „ASB Zeitung“ nennt, hat sich seit einiger Zeit darauf spezialisiert, Inhalte anderer Medien zu nehmen, sie mithilfe künstlicher Intelligenz zu verfremden und dann selbst zu veröffentlichen.

Zum Beispiel den „Stern“-Artikel, in dem Moritz Gathmann beschreibt, wie ihn Recherchen in Tadschikistan in ein ethisches Dilemma stürzten. Im Original trägt er die Überschrift:

Wieso mich Terrorismus-Recherchen in Tadschikistan in Zwiespalt brachten

In der Kopie des „Aussiedlerboten“ heißt er:

Warum ich mich in Konflikte mit der Terrorforschung in Tadschikistan verwickelte

Es ist der gleiche Text: Absatz für Absatz, Satz für Satz – nur nicht Wort für Wort. Formulierungen wurden geändert, Begriffe durch Synonyme oder ähnliche Ausdrücke ersetzt. Gelegentlich ergibt sich nach der Bearbeitung tatsächlich eine sehr ähnliche Bedeutung; manchmal ändert sich der Sinn; häufig entsteht einfach Unsinn.

Das Zitat einer Mutter lautet im Original:

„Wenn Sie helfen können, tun Sie es. Aber wenn Sie nicht helfen können, dann schaden Sie uns wenigstens nicht.“

In der „Aussiedlerbote“-Version kauderweltscht sie:

„Wenn du helfen kannst, tu es. Aber wenn du nicht helfen kannst, least du uns nicht schaden.“

Womöglich ist die deutsche Kopie auch bloß die halb gelungene Übersetzung der englischen Kopie, die sich ebenfalls auf den Seiten des „Aussiedlerboten“ findet: So ließe sich jedenfalls auch erklären, wie aus dem Wort „ergebnislos“ im Original das – zugegeben: nicht unhübsche – „leer-handed“ in der KI-Kopie wurde.

Artikelklau in großem Stil

Der „Aussiedlerbote“ macht das in großem Stil. Dabei hat die Seite einen seriösen Kern – oder jedenfalls Ursprung: Gegründet wurde sie von in Deutschland lebenden Russen. In Russland wurde sie wegen ihrer kritischen Berichterstattung über den Ukraine-Krieg verboten. Die russische Version sieht auch immer noch ganz anders aus.

In den Versionen, die in anderen Sprachen wie spanisch, französisch, englisch, italienisch und deutsch veröffentlicht werden, regiert aber eine wilde Künstliche Intelligenz. Mehrere Dutzend Artikel veröffentlicht die deutsche Seite pro Stunde. Sie stammen aus unterschiedlichen Quellen, von anderen Nachrichtenseiten, von Agenturen, von städtischen Homepages. Die Originale werden offenbar automatisiert durch einen Fleischwolf gedreht, und das, was hinten rauskommt, ähnelt immer noch der ursprünglichen Meldung, liest sich aber ein bisschen anders – oft genug so, als hätte der Verfasser zwar eine grundsätzliche Vorstellung davon, wie sich deutsche Sprache anfühlt, aber keinerlei Ahnung, was einzelne Wörter oder ihre Kombinationen tatsächlich bedeuten. Wie eine billige KI halt.

Die Ergebnisse sind oft unfreiwillig komisch.

Aus der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, das „Compact“-Verbot auszusetzen, wird beim „Aussiedlerboten“:

Bundesverwaltungsgericht setzt "kompakte" Verbote aus

Die Überschrift „Bei Dr. Bob brodeln die Gefühle“ über den Liebling aus dem RTL-Dschungelcamp verballhornt der „Aussiedlerbote“ zu:

Dr. Bob ist ein Brutstück der Emotionen.

Aus der Überschrift „Dressurreiterin fliegt nach heftigen Peitschenhieben aus Nationalteam“ macht der „Aussiedlerbote“:

Dressurfahrer geht nach schwerer Peitsche von der Nationalmannschaft in die Luft

An der Aufgabe, die Überschrift „Bei Weltbild geht endgültig das Licht aus“ zu verstehen, scheitert der „Aussiedlerbote“ spektakulär:

Die Weltsicht endlich herauskommt

Als eine anschauliche Mahnung, dass sich einzelne Wörter nicht problemlos durch Synonyme ersetzen lassen, dient der Versuch, den Titel „Faeser beschert Rechtsextremen einen inneren Reichsparteitag“ zu variieren. Das Ergebnis des „Aussiedlerboten“:

Faeser gibt der extremen Rechten einen internen Reichspartei-Kongress

Und wenn man weiß, dass n-tv.de über die European League of Football titelte: „Football-Liga der gigantischen Widersprüche kämpft weiter“, ahnt man wenigstens, was der „Aussiedlerbote“ mit dieser Überschrift meinte:

 Die Fußballliga der Riesen-Widerstände kämpft weiter

Gelegentlich neigt die KI zu unkontrolliertem Gendern:

Faeser eröffnet Kontaktstelle für Gewaltopferinnen

Und manchmal kommt sie mit den Geschlechtern auch anders durcheinander, wenn sie etwa schreibt:

„Patrice Aminati ist nach anderthalb Jahren frei von Metastasen. Seine Frau, Fernsehmoderator Daniel Aminati, kann es kaum glauben.“

Zu den Artikeln werden von einer KI Aufmacherbilder generiert, die manchmal auf den Originalfotos zu basieren scheinen – manchmal aber offenbar auch der eigenen Fantasie entsprungen sind. So jedenfalls stellt sich der „Aussiedlerbote“ die Folge der Blauzungenkrankheit vor:

Oder auch, auf nochmal ganz andere Weise verstörend, so:

Falls Ihre Alpträume bislang nicht davon handelten, von „WehrGettern“ gefressen zu werden, könnte diese Abbildung das ändern:

Andererseits: Wo sonst wurde der Druck auf Joe Biden, seine Präsidentschaftskandidatur aufzugeben, so rätselhaft treffend zusammengefasst?

Biden nähert sich dem Austritt aus dem Präsidentschaftswahrscheinlichkeiten

Der Newsticker flirrt:

„New York Times“: Biden hört Fluchtkälle zu

Und wenn Künstliche Intelligenz schon in der Lage ist, solche nahezu perfekten Nachrichtenseiten zu produzieren, kann man ihr auch entspannt die Koordination ganzrubopäischer Drohnenschwärme überlassen (allerdings: Wehe dem immune Störsignalen!).

KI soll ganzrauburopäische Drohenschwärme gegen Russland koordinieren - dem Störsignalen immune

Für Google eine ganz normale Nachrichtenquelle

Das ist alles einerseits sehr lustig und andererseits gar nicht. Der „Aussiedlerbote“ benutzt ohne Erlaubnis oder Bezahlung Inhalte anderer, um die eigene Seite zu betreiben. Und durch die Art, wie die Seite die Inhalte verändert, produziert sie nicht nur merkwürdige Formulierungen, sondern kontinuierlich Falschinformationen. Besonders problematisch ist das dadurch, dass sie auch wörtliche Zitate von real existierenden Personen systematisch verändert.

Die vielfach problematischen Inhalte, die der „Aussiedlerbote“ veröffentlicht, sind aktuell und werden daher häufig von Nutzern im Internet gesucht und gefunden. Einen Beitrag dazu leisten auch Suchmaschinen wie Google und Bing, die die Seite mit ihren geklauten, KI-verhunzten Inhalten als Nachrichtenquelle auflisten, als wäre sie ein redaktionelles Medium oder ein seriöses journalistisches Angebot.

Früher mussten Publisher sich um eine Aufnahme in „Google News“ aktiv bewerben. Ihre Inhalte wurden daraufhin überprüft, ob sie Mindeststandards des Nachrichtenaggregators einhalten. Vor einigen Monaten hat Google dieses manuelle Verfahren ganz abgeschafft; stattdessen erkennt nach Angaben von Google ein Algorithmus, ob eine Seite eine Nachrichtenseite ist, und nimmt sie bei „Google News“ auf, wenn sie nicht gegen bestimmte Kriterien verstoßen.

Google behauptet, seine Inhalts- und Verhaltensrichtlinien trügen „zu einer positiven Erfahrung für unsere Nutzer und Verlage bzw. Webpublisher bei“. Betont wird dabei unter anderem auch die Notwendigkeit von Transparenz: „Die Besucher Ihrer Website möchten wissen, wer die Inhalte, die sie lesen, veröffentlicht und verfasst hat.“ Hinter den Autorennamen des „Aussiedlerboten“ aber stehen keine realen Personen.

Vielleicht ist die Künstliche Intelligenz von Google nicht in der Lage, die von Künstlicher Intelligenz zusammengeschusterten Inhalte korrekt als Müll zu identifizieren. Auf eine Anfrage von Übermedien konnte das Unternehmen nicht kurzfristig antworten.

Nachtrag, 4. September. Google hat uns nun folgendes Statement geschickt: „Wir haben klare Spam-Richtlinien gegen irreführende Inhalte von geringer Qualität, die darauf abzielen, das Ranking in der Google Suche und Google News zu manipulieren. Wo in diesem Fall Verstöße gegen unsere Richtlinien vorliegen, ergreifen wir Maßnahmen und investieren weiterhin in Systeme, um zu verhindern, dass Spam und Inhalte von geringer Qualität in der Google Suche auftauchen.“

Grotesk und unvollkommen

Vor drei Wochen hat der „Faktenfinder“ der „Tagesschau“ über den „Aussiedlerboten“, seine Methoden und seine Hintergründe berichtet. Die geschäftlichen Hintergründe sind undurchsichtig. Lev Aronovich, der mit einer Firma hinter der Seite stehen soll und als „redaktionell Verantwortlicher“ im Impressum genannt wird, sagte gegenüber dem „Faktenfinder“, man wollte damit „die Unvollkommenheiten des aktuellen Zustands der Medieninhaltsproduktion und die Mängel der Suchalgorithmen aufzeigen, die auf einem völlig intransparenten System der Traffic-Verteilung zwischen Nachrichtenressourcen basieren“. Das ist ungefähr so, als würde ein Räuber sagen, er wolle mit seinen Überfällen auf unzureichende Waffengesetze und Diebstahlsicherungen hinweisen.

Im Impressum fügte der „Aussiedlerbote“ nach der Anfrage des „Faktenfinders“ unter anderem den Hinweis ein: „Wir wollten die Groteske und die Unvollkommenheit der modernen Welt zeigen. (…) Wenn Sie die Welt aus einem unkonventionellen Blickwinkel sehen möchten, bleiben Sie bei uns!“

Von einem Plagiat könne man nicht sprechen, sagte Aronovich dem „Faktenfinder“, weil man nur „Inhalte von angesehenen Publikationen“ verwende und diese „tiefgreifend“ bearbeite und ergänze.

Das sehen betroffene Medienhäuser anders. Die Nachrichtenagenturen AFP und SID teilten mit, es mache „zunächst keinen Unterschied, ob ein Mensch oder eine von Menschen gesteuerte Maschine die Texte leicht umschreibt, um den Urheberrechtsverstoß zu vertuschen, das Veröffentlichen des Ergebnisses bleibt in der Regel eine Verletzung des Urheberrechts.“ Darüber hinaus wollte man nicht ins Detail gehen, um die rechtliche Verfolgung nicht möglicherweise zu erschweren. Ein Sprecher der Deutschen Presse-Agentur (dpa) sagte auf Anfrage von Übermedien: „Der ‚Aussiedlerbote‘ ist kein aktiver Kunde der dpa. Unsere Rechtsabteilung befasst sich bereits mit dem Fall.“ Eine Sprecherin von RTL, dessen Online-Nachrichtenangebot n-tv.de offenbar besonders gründlich vom „Aussiedlerboten“ abgeschöpft wird, sagte: „Wir stimmen aktuell intern das weitere Vorgehen gegen die Nutzung ab und haben bereits die zuständige Landesmedienanstalt mabb involviert.“

2 Kommentare

  1. Hier im Artikel wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass das, was der Aussiedlerbote hier macht, irgendwas mit KI zu tun hat. Da ich selbst schon mal aus purem Spaß an der Freude etwas ganz ähnliches programmiert habe, möchte ich mal kurz vorstellen, wie so etwas auch (fast) ohne KI geht, ganz einfach mit einem traditionellen Algorithmus:

    Im November tun sich Programmierer:innen (ursprünglich nur aus den USA, später aus der ganzen Welt) zum „National Novel Generation Month“ zusammen und schreiben zum Spaß Programme, welche automatische „Romane“ generieren (vgl. https://nanogenmo.github.io/). 2022 habe ich selbst mal daran teilgenommen und folgenden Algorithmus implementiert:

    Ausgangsmaterial war die Sammlung meiner Lieblingszitate aus Büchern. Ein Zufallsgenerator hat diese Zitate in beliebiger Reihenfolge herausgepickt, die Sätze so analysiert, dass Nomen und Eigennamen darin erkannt wurden und hat dann in einem Thesaurus nach Synonymen oder Oberbegriffen (Hyperonymen) gesucht. Wurde mein Programm im Thesaurus fündig, so hat es wiederum zufällig ein solches Synonym oder Hyperonym ausgesucht und das Nomen aus dem Originaltext dadurch ersetzt. Die generierten Texte weisen ähnliche grammatische und logische Fehler auf, wie die hier zitierten – mein Programm ist eher noch etwas schlechter, als das, was beim Aussiedlerboten herauskommt, aber ich habe mich ja auch nur vier Wochen lang in meiner raren Freizeit damit beschäftigt und dann war der „National Novel Generation Month“ auch schon wieder vorbei. Mit KI hat dieses Verfahren, so wie ich es hier beschrieben habe, erst einmal nichts zu tun. Allerdings muss ich zugeben, dass ein bisschen KI dann doch drinsteckt, aber nicht in der Textproduktionsphase, sondern in der vorgelagerten Textanalyse. Der Teil, der bestehende Texte grammatisch analysiert (also z. B. Wortarten erkannt, um sicherzustellen, dass Nomen nur durch andere Nomen und Eigennamen (klar, auch Nomen, aber besondere) nur durch Eigennamen ersetzt werden), der basiert schon auf trainierten Modellen für solche computerlinguistischen Erkennungsvorgänge und fällt in den Bereich des „Maschinenlernens“, also einer Unterkategorie der KI. Aber wie gesagt, so etwas wie das, was der Aussiedlerbote hier macht, das geht zumindest ohne „generative KI“.

    Für tiefer Interessierte: Den Quellcode meines Programms gibt es hier https://github.com/sermo-de-arboribus/2022-NaNoGenMo (im Ordner „sample-output“ auch jeweils ein Beispiel in Deutsch und Englisch, was dabei herausgekommen ist).

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