„Geständnis eines Neonazis“

Die „Zeit“ braucht nicht mal einen Mord, um einen Podcast über einen Mord zu machen

Exklusiv für Übonnenten
Das Dossier in der "Zeit" und die dazugehörige Podcast-Folge von "WHITE - Geständnis eines Neonazis"

Viel spektakulärer kann eine Überschrift nicht ausfallen: „Dieser Mann gestand unserem Autor einen Mord“, schrieb die „Zeit“ am 20. Juni über ihr „Dossier“. Laut Vorspann geht es in dem Text um ein „ungesühntes Verbrechen“ eines ehemaligen Neonazis in den USA. Die „Zeit“ hat aus der Geschichte nicht nur einen Text mit 36.000 Zeichen, sondern auch einen neunteiligen, knapp fünf Stunden langen Podcast gemacht: „WHITE – Geständnis eines Neonazis“.

Achtung, jetzt kommt ein Spoiler: Den Mord, der im Titel versprochen wird, gab es vielleicht nie. Ob jemand ermordet wurde und wenn ja wer, ist unbekannt. Es gibt keine Polizeiakte, keine Informationen zum potenziellen Opfer, noch nicht einmal ein konkretes Jahr, in dem das Verbrechen begangen worden sein soll. Die Journalisten konnten andererseits auch nicht belegen, dass das Geständnis falsch und nichts passiert ist. Am Ende ihrer Recherche wussten sie über die vermeintliche Tat also genauso viel wie zu Beginn, entschieden sich aber trotzdem, die Geschichte zu erzählen. Aber warum? Und was bedeutet das für die Menschen, um die es in dieser Geschichte geht?

Geplant war ein ganz anderes Thema

Das Ganze beginnt damit, dass „Zeit“-Autor Bastian Berbner im Jahr 2021 den ehemaligen Neonazi Michael „Mike“ Kent trifft, der schon mehrere Gefängnisstrafen verbüßt hat und irgendwann die schwarze Bewährungshelferin Tiffany Whittier zugeteilt bekam. Mit ihrer Hilfe schaffte er den Ausstieg aus der Neonazi-Szene, die beiden wurden zu Freunden, treten inzwischen sogar gemeinsam gegen Rassismus auf. Über diese unwahrscheinliche Wende soll es in dem Gespräch gehen.

Mitten im Interview erwähnt Mike allerdings, dass er schon einmal jemanden umgebracht hat. Auf Nachfrage schildert er einen Vorfall in Phoenix, Arizona, bei dem er Mitte der Neunzigerjahre einen schwarzen Jungen erstochen haben will. Drei Jahre lang recherchiert Berbner daraufhin mit seiner Kollegin Amrai Coen, der „Zeit“-Korrespondentin in Washington. Einen ungeklärten Mordfall zu lösen, stehe schließlich auf der „Bucket List“ eines jeden Reporters, sagt Coen zu Beginn der Recherche. Ist das so?

Es geht in dem Podcast zwar vordergründig um den angeblichen Mord und den Mann, der ihn begangen haben soll. Die eigentlichen Protagonisten sind aber die Reporter und ihre (vergebliche) Suche nach der Wahrheit. Um ihre Bedenken und Ideen, ihre Erfolge und Ängste kreist die Handlung. Ein Störgefühl hinterlässt das, weil „ihre“ Geschichte eigentlich die sehr schlimme, sehr persönliche Geschichte anderer Menschen ist. Und diesen Menschen muten die Reporter bei ihren Recherchen viel zu – indem sie sie zum Beispiel mit einem Gewaltverbrechen konfrontieren, ohne zu wissen, ob es je stattgefunden hat.

Anzeigen oder recherchieren?

Nachdem Berbner in dem Interview von dem vermeintlichen Verbrechen erfahren hat, steht er vor einem Gewissenskonflikt. Soll er seinen Interviewpartner, der ihm gerade einen Mord gestanden hat, bei der Polizei anzeigen? Oder soll er das Ganze für sich behalten? Rechtlich ist er nicht zu einer Anzeige verpflichtet, wie er schnell von einem Medienanwalt erfährt. Berbner entschei…

2 Kommentare

  1. Also statt Zeit-Podcast lieber „Blindverkostung“ hören. :-)

    Danke für diese lesenswerte Kritik!

  2. Wie unfassbar schade, nicht mehr über Mikes Geschichte zu erfahren. Ich habe, als die Recherche veröffentlicht wurde, nur die sehr reißerische Überschrift wahrgenommen und bin jetzt erschüttert darüber, dass das eigentlich so besondere Schicksal dieses Menschen so vernachlässigt wurde – für die vermeintlich bessere Story. Danke für die herausragende Aufarbeitung dieses Falls. Wirklich beklemmend, was die Zeit hieraus gemacht hat.

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