Neue ARD-Anrufsendung „Mitreden!“

Hauptsache Hörerstimmen. Warum eigentlich?

Bei "Mitreden!" kommentieren drei Studiogäste die Anrufe aus ganz Deutschland
„Müssen wir das Grundgesetz mehr feiern?“ Darüber diskutiert Moderatorin Nina Zimmermann mit ihren Studiogästen Alexander Thiele, Florian Schroeder und Marianne Birthler (v.l.o. im Uhrzeigersinn) – und mit Hörerinnen und Hörern natürlich Screenshot: NDR

Wenn im Deutschlandfunk zwischen zehn und elf Uhr vormittags der erste Hörer durchgestellt wird, schalte ich quasi reflexhaft den Sender um. Das mache ich schon seit Jahren so, und ich weiß, dass ich nicht der Einzige bin, der es so hält. Die Call-in-Sendungen, insbesondere „Kontrovers“ (am Montag um 10.08 Uhr), haben in meinem Umfeld keinen guten Ruf, sie gelten als Fremdschämveranstaltungen, bei denen besserwisserische Hochbetagte ihre Patentlösungen für den Nahostkonflikt oder die Zukunft der deutschen Energieinfrastruktur vorstellen.

Dabei bin ich, das ist mir beim Gespräch über das Thema geradezu in einem Proust-Moment wieder eingefallen, mit Call-in-Sendungen als Hintergrundrauschen meiner Kindheit und Jugend aufgewachsen – mit Brigitte Lämmles Ratgebersendung „Kennwort“ auf SWF3 beispielsweise und natürlich mit „Fragen an den Autor“, damals auf Europawelle Saar (die Sendung gibt es seit 1969 und bis heute!). Unangenehm war mir damals nichts daran. Irgendwann zwischendrin muss also etwas mit mir, den Sendungen oder den Hörern passiert sein. So oder so ist es keine schlechte Idee, ab und zu die eigenen Vorurteile zu überprüfen, und aktuell gibt es einen guten Anlass dafür.

Eine Moderatorin, drei Gäste, viele Hörer

Im Zuge der Sparmaßnahmen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk feierte nämlich vor einigen Wochen eine neue Call-in-Sendung Premiere, als Zusammenschaltung einer ganzen Reihe von ARD-Infowellen (BR24, HR Info, NDR Info, rbb24 Inforadio, SWR Aktuell). Sie wird jeden Montag und Donnerstag zwischen 20.15 und 22 Uhr ausgestrahlt, im Wechsel von BR, NDR und RBB produziert und heißt „Mitreden! Deutschland diskutiert“. Wenn ich schon meine Komfortzone verlasse, so meine Überlegung, dann gehe ich dahin, wo es potenziell auch wirklich wehtut. Also habe ich mir die Folge vom 23. Mai angehört, mit dem Thema „In guter Verfassung – müssen wir das Grundgesetz mehr feiern?“. Sie ließ mich das größte Grauen befürchten, weil darunter mit mehr oder minder reichsbürgernahen Hörerbeiträgen zu rechnen war. Ist „Mitreden!“ zum Thema Grundgesetz nun so schlimm, wie meine Vorurteile es mich befürchten ließen?

Die Sendung ist ähnlich wie das berüchtigte „Kontrovers“ im DLF so aufgebaut, dass neben der Moderatorin eine Runde von drei Studiogästen auf die Hörerinnen und Hörer trifft (zu sehen auch in einem Videostream). Bei der anderthalbstündigen Sendung zum Thema Grundgesetz sind dies: Marianne Birthler, DDR-Bürgerrechtlerin und ehemalige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Alexander Thiele, Staatsrechtsprofessor aus Berlin, sowie der Kabarettist Florian Schroeder – ganz nach dem von vielen Talkshows bekannten Prinzip, eine Expertenrunde durch das Hinzunehmen einer Fernsehpersönlichkeit aufzulockern.

Überraschend finde ich, wie schnell „Mitreden!“ in die Vollen geht. Eine kurze Einleitung mit „Voxpops“, also Tönen von einer Straßenumfrage in Hannover. Dann die Begrüßung der Gäste. Nach fünfeinhalb Minuten wird die erste Zuschrift vorgelesen, nach acht Minuten der erste Hörer durchgestellt. Und dann passiert ziemlich exakt das, womit ich gerechnet habe: Der erste Hörer hält ein kleines Referat. Und der zweite Hörer auch. Und genauso der Dritte. Und so weiter. Wenn ich richtig gezählt habe, werden bei der Sendung insgesamt neun Anrufe durchgestellt (davon sieben von Männern), und keiner davon hat ein Anliegen, das man sinnvoll als Frage hätte formulieren können. Einer der ersten Anrufer steigt beispielsweise so ein:

 „Schönen guten Abend. Ich grüße alle in der Runde. […] Ich bin gebürtig aus Trier, das ist so weit im Westen, wie es geht, und ich arbeite in Torgelow, das ist so weit im Osten, wie es geht. Ich kenne also beide Richtungen, absolut.“

Er legt dann dar, warum das Grundgesetz für ihn gewissermaßen noch „Besatzungsrecht“ sei (zum Glück die einzigen schwachen Anklänge an Reichsbürger-Rhetorik in der Sendung); ein anderer Hörer plädiert dafür, dass der 23. Mai ein Feiertag mit Straßenfesten sein sollte; einer erklärt seine Bedenken, dass die Komplexität der Schrankensystematik des Grundgesetzes von der breiten Masse nicht verstanden werde; und so fort. Bis auf ganz kleine Ausnahmen bekommen die Anrufenden nicht die Gelegenheit, noch ein zweites Mal das Wort zu ergreifen, um auf die Diskussion ihres Beitrages zu reagieren. (Wie bei vielen Call-in-Sendungen werden bei „Mitreden!“ auch E-Mail-Zuschriften verlesen, bei denen naturgemäß keine echte Diskussion möglich ist; im Vordergrund stehen aber die Telefonbeiträge.) Dass mehrere Anrufe gleichzeitig durchgestellt werden, sodass verschiedene Hörer miteinander diskutieren könnten, kommt gar nicht vor und gehört vermutlich nicht zum Konzept der Sendung.

Klingt wie eine kommentierte Leserbriefseite

An zwei Stellen wird es wirklich skurril: Ein Anrufer macht engagiert Werbung für das Konzept der „Soziokratie“, was die anderen Teilnehmenden hörbar ratlos zurücklässt; und einer Anruferin geht es anscheinend gar nicht primär ums Grundgesetz, sondern um ihren langjährigen Kampf gegen Liveauftritte von Heavy-Metal-Bands mit drastischen Texten – es handelt sich dabei um Christa Jenal, die für dieses Lebensthema einschlägig bekannt ist; das wird allerdings nicht erwähnt, vermutlich gar nicht bemerkt. Eine Sendung wie „Mitreden!“ wird von Menschen gemacht, die hinter den Kulissen schnelle Entscheidungen darüber treffen müssen, was in die Sendung hereingenommen wird – das funktioniert die meiste Zeit erstaunlich gut, aber eben nicht immer.

Eine Diskussion mit den Anrufenden kommt nicht zustande, die Sendung ähnelt eher einer kommentierten Audio-Leserbriefseite. Sie funktioniert, wenn man despektierlich sein möchte, wie eine Panelshow, bei der die Studiogäste eben nicht über Hits vergangener Jahrzehnte oder Videoausschnitte aus alten Talkrunden reden, sondern über die Kurzreferate der Anrufer. Das – das muss ich sagen – machen sie ganz hervorragend. Nina Zimmermann moderiert die Sendung vorbildlich zurückhaltend und sprachlich brillant; Verfassungsrechtler Thiele gibt unverblümte und präzise, aber dennoch gut verständliche juristische Einordnungen; Birthler ist die – angesichts der Diskussionen der vergangenen Wochen unverzichtbare – Ansprechpartnerin zur Übernahme des Grundgesetzes in der ehemaligen DDR und der Frage, ob man nicht doch über eine neue Verfassung abstimmen sollte; Schroeder thematisiert die (sozial-)mediale Gegenwart und Themen wie „gesellschaftliche Spaltung“.

Therapie für Redebedürftige

Ich könnte höchstens kritisieren, dass die Diskussion – vielleicht, weil sie letztlich doch weitestgehend innerhalb einer Runde von Medienprofis abläuft – hier und da etwas floskelhaft und schabloniert daherkommt. Mehrfach ist zum Beispiel die Rede davon, es müsse ein „Wertediskurs“ geführt werden. Da frage vermutlich nicht nur ich mich als gelernter Philosoph, was genau hier mit Werten gemeint ist und wer darüber zu welchem Ende diskutieren soll. Eine Fußnote ist es, dass die allgemeine Tonlage des Gesprächs, in dem es viel um Zukunftstauglichkeit und Gefährdungen des Grundgesetzes geht (und zum Glück wenig um Reichsbürgerideen), eigentlich gar nicht zu dem euphorischen Untertitel „Müssen wir das Grundgesetz mehr feiern?“ passt.

Am Ende ist für mich allerdings unklar, was das Call-in-Format überhaupt leisten soll. Zimmermann und ihre Studiogäste hätten über eine gut ausgewählte Reihe von Literaturzitaten oder demoskopischen Ergebnissen mindestens genauso interessant diskutieren können wie über die Anrufe. Bei mir bleibt der Eindruck zurück, dass es vor allem darum geht, eine Sendung zu machen, an der irgendwie Hörer beteiligt sind – ohne dass dabei eine große Rolle gespielt hätte, was die Sendung überhaupt davon hat, dass diese Hörer beteiligt sind.

Die Call-in-Sendungen meiner Kindheit schienen mir großenteils beratenden oder therapeutischen Charakter zu haben. Bei Brigitte Lämmle riefen Hörerinnen und Hörer an, die Rat bei persönlichen Problemen brauchten – ein bisschen wie ein Dr. Sommer für Erwachsene. Auch „Fragen an den Autor“ hat bis heute zumindest zu einem nennenswerten Teil Servicecharakter, weil der Studiogast ganz konkrete Beratungsfragen zum Thema des vorgestellten Buchs beantwortet (neulich zum Beispiel wurde der Weinexperte Carsten Henn gefragt, ob der Champagner aus dem Discounter wirklich etwas taugt).

Manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass auch die allgemeinpolitischen Call-in-Diskussionssendungen letztlich eine therapeutische Funktion haben könnten. Meine (völlig unwissenschaftliche) Hypothese ist die, dass es nicht wenige Menschen in unserer Gesellschaft gibt, die zwar das Bedürfnis haben, gehört zu werden, aber kaum gelernt haben, selbst zuzuhören, und mit denen daher schlecht im Sinne einer echten Konversation zu reden ist, vor allem nicht bei kontroversen Themen. Diesen Menschen kommen Call-in-Sendungen entgegen. Unklar ist mir aber, was der Rest der Welt davon hat, ihnen zuzuhören. Dass ich den Eindruck habe, das habe es früher weniger gegeben, liegt aber vermutlich vor allem an meiner lückenhaften Erinnerung.

Nicht repräsentativ, nicht kontrovers

Was mir bei „Mitreden!“ als Erstes aufgefallen ist, ist die Selbstinszenierung: Der Untertitel „Deutschland diskutiert“ und das dramatische, an klassische Fernsehnachrichtensendungen erinnernde Jingle legen nahe, dass hier etwas Repräsentatives und Kontroverses passiert. Dieser Anspruch und der tatsächliche Inhalt klaffen aber weit auseinander. Selbst wenn es in der Sendung stärker um Deliberation und Argumentation ginge, wenn man also nicht den Eindruck bekäme, dass Mitreden hier einfach nur bedeutet, ein Statement loszuwerden, wäre es immer noch verwegen zu behaupten, dass hier „Deutschland“ redet.

Statt „Mitreden! Deutschland diskutiert“ wäre „Was sagen! Ein Panel kommentiert“ der ehrlichere Titel.

5 Kommentare

  1. „Am Ende ist für mich allerdings unklar, was das Call-in-Format überhaupt leisten soll.“

    Es simuliert Hörer-Nähe, man kann damit rechtspopulistischen Vorwürfen („keine Meinungsvielfalt im ÖRR“) entgegentreten. Vor allem aber ist es billig zu produzieren.

  2. Ich mag auch keine Call-In-Sendungen. Nicht, dass alle, die da anrufen, dummes Zeugs erzählten – aber es wird schon oft die Katze im Sack durchgestellt. Und dann muss man sich im Zweifel halt anhören, dass Heavy-Metal-Konzerte qua Verfassung verboten gehören (oder so).

    Auch einer meiner Lieblingssendungen, dem Philosophischen Radio von WDR 5, tut das Call-In-Element nicht gut: Man hat einen Moderator und einen (meist) klugen Gast, die ohne Probleme eine Stunde lang ein interessantes Gespräch führen könnten. Aber es gibt eben auch Hörer-Anrufe, und die machen aus meiner Sicht im besten Fall die Dynamik kaputt – im schlimmsten sind irgendwelche Spinner in der Leitung, die sich nicht abwimmeln lassen.

    Einen Sinn haben Hörer-Anrufe bei Ratgebersendungen. Im DLF gibt es ein medizinisches Vormittagsformat, bei dem Fachleute jedes Mal über eine andere Krankheit sprechen; zum Beispiel Rheuma. Da rufen dann Erkrankte oder Angehörige an und stellen Fragen, die vermutlich viele andere Patienten auch haben. Das ergibt schon Sinn – allerdings nur für die jeweilig Betroffenen.

    @Theo (#1):

    Vor allem aber ist es billig zu produzieren.

    Kommt drauf an. Billiger als ein Feature oder eine Reportage schon. Aber die Alternative ist ja meist eine normale Gesprächssendung, und die braucht nur Moderation und Gast (bei einem Selbstfahrerstudio nicht einmal einen Tontechniker). Man kann sie sogar vorher aufzeichnen.

    Bei einer Call-In-Sendung werden zusätzlich Telefonisten und eine Redaktion benötigt, die Anrufe entgegennehmen, Vorgespräche führen, filtern und entscheiden, wer durchgestellt wird. Klar, kein Riesenaufwand. Aber mehr Personal, und das macht es nicht billiger.

  3. Dass Menschen direkt zu Wort kommen ist für mich ein Wert an sich. In einer Zeit, in der den Medien mangelnder Dialog mit den Menschen vorgeworfen wird, ist es umso wichtiger, dass verschiedene Perspektiven zu Wort kommen. Natürlich führt das selten dazu, dass plötzlich kluge Lösungen auftauchen, aber es kommen Menschen zu Wort mit ihrer eigenen Meinung, die sie offen aussprechen können. Ich bin neugierig auf diese Meinungen und höre deswegen häufiger rein.

  4. als erfahrener Kommentar Spaltenleser, gehe auch ich davon aus, das Zuhörende lieber reden als zuhören und ihnen, zumeist, die Antworten und Meinungen der anderen egal sind. So erscheinen gerne Kommentare, die mit den Worten „falls es noch keiner gepostet hat“ beginnen, obwohl diese Aussage in ca 50 % der Kommentare bereits mitgeteilt wird.
    Desweiteren klingt der Beginn dieses Kommentars durch Gendern fast schon philosophisch. Also meines Kommentars, nicht des Artikels.

  5. Der Autor schreibt viel richtiges. Kontrovers beim DLF ist schlimm, zeigt aber nur die Problematik auf. Denn grundsätzlich ist.es gut, wenn die, fur die die Sendung gemacht wird, auch zu Wort kommen. Das Urvertrauen in das was Studiogäste sagen, habe ich nicht. Zumal die oft genug genauso viel Stuss erzählen, wie die Anrufer und Anruferinnen. So erschließt sich mir bei dieser Sendung auch die Rolle von Marianne Birthler nicht. Die kennt sich mit evangelischer Religion aus, hat in der Tierarztpraxis Ihres Mannes gejobbt und war Stasibeauftragte. Mit Verfassungsfragen hatte sie nie was zu tun. Die Frage, ob es unklug war, den Ossis das Grundgesetz überzustülpen oder nicht, kann sie ungefähr so kompetent beantworten wie ich, nämlich gar nicht. Nur Ossi sein, reicht in dieser Frage nicht aus.
    Deshalb, das Problem ist nicht das Format Call-Inn. „,Hallo Ü-Wagen“ mit Carmen Thomas im WDR war legendär gut. Das Problem ist die Halbherzigkeit solcher Sendungen. Lasst die Hörer zu Wort kommen, auch wenn es länglich ist, das zu stoppen ist Sache der Moderatorin. Nehmt sie ernst, verboten ist das, was die Gesetze vorgeben, nicht was inhaltlich nicht gefällt.
    Filtert vorher die Nazis und Spinner raus, gründlich. Das gilt aber auch für die Studiogäste. Der Spaßmacher hatte da einfach nichts zu suchen.
    Nicht die Call-Insendungen sind das Problem. Partizipation im.Rundfunk ist gelebte Demokratie. Das Problem sind schlechte Konzepte solcher Formate und Redaktionen im Backoffice, die überfordert sknd. Die rezensiert Sendung scheint ein Beispiel dafür zu sein.

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