In Thüringen findet morgen die zweite Runde der Kommunalwahlen statt. In Stichwahlen wird über zahlreiche Bürgermeister und Landräte entscheiden.
Wenn man normalinformierte und mittelinteressierte Menschen fragen würde, wie eigentlich die erste Runde der Wahl vor zwei Wochen ausgegangen ist, ich wette, man würde Varianten hören von: Erstaunlich schlecht für die AfD; das ist gerade nochmal gut gegangen. Die „blaue Welle“ blieb aus, der Höhenflug ist wohl vorbei, der Durchmarsch abgesagt, eine ziemliche Schlappe für Björn Höcke und seine rechtsextreme Partei.
So lauteten die Schlagzeilen und Analysen vieler Medien am Wahlabend und am Tag danach. Weshalb es viele Menschen überraschen könnte, wenn sie erführen, dass bei der Wahl der Kreistage und Stadträte immerhin ein Viertel aller Stimmen für die AfD abgegeben wurden:
Während Linke, SPD, Grüne und FDP verloren und die CDU stagnierte, legte die AfD gegenüber der Kommunalwahl 2019 um 8,1 Prozentpunkte zu:
Das ist ein Zuwachs in einer Größenordnung, bei der Medien sonst durchaus zu großen Begriffen neigen, insbesondere wenn man bedenkt, dass auch bei der vorigen Kommunalwahl schon die AfD als einzige Partei in größerem Umfang Stimmen gewinnen konnte: Damals schaffte sie es aus dem Stand auf 17,1 Prozent in den Kreistagen und Stadträten kreisfreier Städte.
Dass die CDU vor zwei Wochen landesweit immerhin sehr knapp stärkste Partei blieb, scheint da nur ein schwacher Trost. Neben ihr ist die AfD jedenfalls zweifellos der große Gewinner dieser Wahl.
„Schlechter als gedacht“
Dass das in vielen Medien nicht so dargestellt wurde, liegt daran, dass sie die Ergebnisse nicht mit denen der Wahl davor verglichen – sondern mit den angeblichen Erwartungen. Von einem „schwächeren Ergebnis als erwartet“, schrieb die NZZ. „AfD schneidet schlechter ab als gedacht“, formulierte die „Welt“. „Dämpfer für die Höcke-AfD“, titelte der „Tagesspiegel“. Bei Funkes regionalem Clickbait-Portal „Thüringen24“ konstruierte man die Überschrift: „Schelte für die AfD? Experte eindeutig: ‚Hat es vermasselt‘“. Und „Bild“ verstieg sich zur Schlagzeile „Rückschlag für AfD bei Kommunalwahl in Thüringen“.
Woher eigentlich genau die vorherigen „Erwartungen“ an den Ausgang dieser Wahl kamen, bleibt in vielen Fällen vage. Manchmal sind der Maßstab auch „Befürchtungen“, die „schlimmsten“ gar. So zitierte dpa den Dresdner Politikwissenschaftler Hans Vorländer: „Nach jetzigem Stand kann man der AfD keinen Durchmarsch attestieren. Die schlimmsten Befürchtungen sind nicht eingetreten.“
Ist alles relativ
Eingetretene Ereignisse mit Befürchtungen oder Erwartungen zu vergleichen, ist vermutlich grundmenschlich: Wenn ein schlimmer Wolkenbruch angekündigt war, freuen wir uns, wenn wir beim Radfahren nur ein bisschen nass werden. Aber was auf einer Gefühlsebene nachvollziehbar ist, ist im Journalismus problematisch. Weil durch die verschobenen Maßstäbe dramatische Entwicklungen plötzlich nicht mehr dramatisch erscheinen - oder Trends sogar gegensätzlich erscheinen: Die AfD hat nach den Wahlen auf kommunaler Ebene in Thüringen seit der jüngsten Wahl erheblich mehr Macht als früher, nur nicht ganz so viel, wie man annehmen konnte. Das ist keine Entwicklung zum Besseren – es wirkt aber in Teilen der Berichterstattung so.
Und spätestens wenn eine Erhöhung eines Stimmenanteils um immerhin 50 Prozent zum „Rückschlag“ wird, ist die Grenze zur Misinformation überschritten.
(Der Fairness halber: Es gab durchaus zahlreiche ausführliche Berichte, die darauf hinwiesen, wie groß der Erfolg der AfD in Thüringen war; dass sie in vielen Stadträten jetzt die größte Fraktion stellen und es in viele Stichwahlen für Bürgermeister oder Landräte geschafft haben. Der MDR erklärte differenziert, warum es Argumente für verschiedene Interpretationen des Ergebnisses gibt.)
Verschärft wird die grundsätzliche journalistische Tendenz, Ereignisse an Erwartungen zu messen, im konkreten Fall dadurch, dass das landesweite Gesamtergebnis bei einer Kommunalwahl erst spät feststeht und ohnehin nicht dieselbe Bedeutung hat wie bei einer Landtagswahl. Es sind ja viele einzelne Gremien und Positionen, über deren Besetzung entschieden wird, nicht ein Gesamt-Parlament. Bei einer Landtags- oder Bundestagswahl wäre eine „Schlappe für die AfD“-Kommentierung schon dadurch konterkariert worden, dass man den ganzen Abend in den Wahlsendungen den großen blauen Stimmenzuwachsbalken in den Diagrammen gesehen hätte.
Kein neues Phänomen
Es gibt einen Artikel, der ein ähnliches Phänomen nach einer anderen Landtagswahl beschreibt: Der Artikel ist 92 Jahre alt; er erschien im Mai 1932 in der linksliberalen Zeitung „Tagebuch“. Die NSDAP hatte im Monat zuvor bei den Landtagswahlen in Preußen 36,3 Prozent der Stimmen bekommen. Der Journalisten Ludwig Bauer kritisierte, dass der rasante Zuwachs teilweise als „Niederlage“ bezeichnet worden sei, weil man das Ergebnis an den Erwartungen der NSDAP gemessen habe, über 50 Prozent zu kommen.
„Strengen wir unsere Phantasie einmal aufs höchste an und stellen wir uns vor, bei einer Wahl hätte sich die Stimmenzahl der Demokraten um ein Zehntel, um hunderttausend oder so, vermehrt. Was wäre dann wohl in den Zeitungen gestanden? Ungeheurer Sieg, ein glänzender Aufschwung, das Volk hat klar gesprochen. Nun gut. Da ist aber eine andere Partei, die vor einigen Jahren ein Nichts war. Sie findet im September 1930 plötzlich über sechs, im März 1932 über elf, drei Wochen später über dreizehn Millionen Anhänger, und dennoch sollen wir glauben, dies sei eine Niederlage? Warum? Weil die Nationalfetischisten einen noch größeren Sieg während des Wahlkampfes angekündigt hatten? Als ob solche Suggestivmethode nicht selbstverständlich wäre! Man soll sich doch nicht selber dumm machen, das besorgen Hitler und seine Leute viel besser. Wie ist es möglich, beruhigend zu versichern, nun sei der Höhepunkt des Wahnsinns überschritten, es sei ganz undenkbar, daß Hitler jemals auf 51 % der abgegebenen Stimmen komme? Wenn der Nationalismus in zwei Jahren von 1% auf 48 % kam, weshalb sollte er in Zukunft nicht noch weitere 3 % einfangen können.“
Es geht mir nicht darum, Höcke mit Hitler zu vergleichen. Es geht mir um ein Phänomen, das offenbar nicht neu ist: Die Erleichterung vieler Kommentatoren, dass es nicht ganz so schlimm gekommen ist, droht die Wahrnehmung zu verdecken, dass es ganz schön schlimm gekommen ist.
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Seit vielen Jahren Autor, Blogger und freier Medienkritiker, früher unter anderem bei der FAS und beim „Spiegel“.
In seinem Notizblog macht er Anmerkungen zu aktuellen Medienthemen.
3 Kommentare
Danke für den Artikel!
Habe den Abschnitt von Bauer noch zu Ende gelesen.
Die Parallelen finde ich wirklich erschreckend! Da wird mir der Ernst der Lage wieder richtig bewusst…
Bei „… in viele viele Stichwahlen für Bürgermeister …“ klingt das zweite „viele“ etwas zu übertrieben.
Ansonsten volle Zustimmung, es kann nicht Sinn der Sache sein, wenn die AfD verharmlost wird.
Ich freue mich, dass ich einen kleinen Teil zum medialen Diskurs beitragen konnte.
Danke für den Artikel!
Habe den Abschnitt von Bauer noch zu Ende gelesen.
Die Parallelen finde ich wirklich erschreckend! Da wird mir der Ernst der Lage wieder richtig bewusst…
Bei „… in viele viele Stichwahlen für Bürgermeister …“ klingt das zweite „viele“ etwas zu übertrieben.
Ansonsten volle Zustimmung, es kann nicht Sinn der Sache sein, wenn die AfD verharmlost wird.
Ich freue mich, dass ich einen kleinen Teil zum medialen Diskurs beitragen konnte.