Notizblog (4)

Genderkritisierende schlagen Alarm: Kapituliert jetzt schon die NZZ vor dem woken Zeitgeist?

Wir unterbrechen das Programm für eine Eilmeldung: Das Abendland ist nun endgültig untergegangen. Selbst die einst als Inbegriff der Bürgerlichkeit geltende „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) hat jetzt vor dem „rot-grün-woken Zeitgeist“ kapituliert und – gendert.

Boris Reitschuster ist fassungslos: „In einem Artikel über die Vorwahlen in den USA macht sie aus den Kandidaten einfach ‚Kandidierende‘“, schreibt er in seinem rechtsalternativen Medium. „Für mich klingt das fast so, als sei da jemand kandiert.“

Dann setzt er zu einem Exkurs an, warum die Form „Kandidierende“ nicht einfach nur die Mehrzahl sei, die beide Geschlechter einschließt. Dass Leute sowas denken, „entsetzt“ Reitschuster und zeigt für ihn, „wie weit sich der Gender-Unsinn bereits in die Köpfe vieler Menschen gefressen hat“. Dabei sei dieser „Unfug mit dem Gerundiv“ „eine Verunstaltung“ und das Gendern insgesamt eine „Vergewaltigung der Sprache“. (Formen wie „Kandidierende“ sind keine Gerundive, sondern substantivierte Partizipien, aber das nur nebenbei.)

„Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts galt die Forderung nach dem Gendern noch als eine Spinnerei einer linksradikalen Minderheit“, schreibt Reitschuster. „Heute ist das Gendern zu einem modernen Gesslerhut geworden.“

In den Kommentaren fordern Leute, dass „jede Kommunikation, bei der der Gegenüber gendert, sofort abgebrochen und diese Person bzw. Informationsquelle komplett ignoriert werden“ muss.

Schöner Kandidieren mit Partizip

Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Boris Reitschuster und seine Leserinnen und Leser. Die Gute: Die NZZ hat nicht vor dem „rot-grün-woken Zeitgeist“ kapituliert. Die Schlechte: Sie verunstaltet die Sprache schon seit Jahrzehnten.

Jedenfalls wenn man Substantive wie „Kandidierende“ oder auch „Studierende“ als Verunstaltung betrachtet.

Mindestens seit Mitte der 1990er-Jahre benutzt die NZZ das Wort „Kandidierende“ als Synonym für „Kandidatinnen und Kandidaten“ (beziehungsweise als Synonym für „Kandidaten“, wenn man darunter im Sinne des generischen Maskulinums Männer und Frauen versteht).

Hier ist eine Stelle aus einem Artikel vom 18. Juni 1993:

Mit dem schlechtesten Resultat aller neun Kandidierenden
Ausriss: NZZ, 18. Juni 1993

Am 23. Februar 1994 gab es gleich zwei Artikel mit „Kandidierenden“:

Nur noch zwei Kandidierende im Kanton Thurgau
Ausriss: NZZ, 23. Februar 1994
... ein Trend, der für die bürgerlichen Kandidierenden ungünstig ist.
Ausriss: NZZ, 23. Februar 1994

Und am 10. Januar 2002 schafften sie es sogar in eine Überschrift:

Exekutivwahlen Dietikon: 11 Kandidierende für 7 Sitze
Ausriss: NZZ, 10. Januar 2002

Über die Jahrzehnte finden sich nicht nur vereinzelte Treffer im NZZ-Archiv, „Kandidierende“ ist im Schweizer Hochdeutsch offensichtlich einfach ein schon lange gebräuchliches Wort. Ein Schweizer Freund erzählt mir, dass die Wörter „Kandidaten“ und „Studenten“ für ihn eher nach etwas klingen, was Deutsche sagen.

Der erste Treffer für „Studierende“ im NZZ-Archiv ist übrigens ein Artikel über die Verheerungen, die ein Eishochwasser am Main anrichtete:

Zu Bamberg haben sie die große neue Brücke, nebst noch 2 steinernen Brücken eingestürzt, wobey 40 Menschen jählings ein Raub der Fluthen wurden, unter denen viele Studierende waren.

Tja, die NZZ. Kapituliert schon seit Jahrhunderten vor dem rot-grün-woken Zeitgeist: Der Bericht ist vom 20. März 1784.

... unter denen viele Studierende waren.
Ausriss: NZZ, 20. März 1784

21 Kommentare

  1. Touché
    Danke, amüsanter, kluger Artikel! Überhaupt gefällt mir der neue Notizblock richtig gut!

  2. 1784. Ich schmeiß mich weg! :) Wo findet man solche Preziosen? Einfach »Studierende« googeln kann’s ja wohl nicht sein.

  3. Also ich habe eigentlich „Studierende“, „Kandidierende“, „Intervenierende“, …. immer als gängigen Sprachgebrauch betrachtet.

  4. Hach, da wollte ich mal mit meiner Lebenserfahrung von 7 Jahren Schweiz glänzen und anmerken, dass das einfach eine typische Sache in der Schweizer Schriftsprache ist, aber da hatte Niggi schon eine bessere Quelle ;-)

  5. Haha, der Satz mit dem „Schweizer Freund“ kam mir irgendwie seltsam vor. Aber nach Lektüre des Pamphlet, auf das sich hier bezogen wird, ist mir dann doch diese Anspielung aufgefallen: „Wer nicht brav gendert, könnte etwa bei der Polizei keine Karriere mehr machen, berichtete mir kürzlich ein befreundeter Polizist.“

    Ab und zu tut es echt gut, sich so einen Reitschuster-Artikel zu geben, einfach nur um zu bestätigen, dass es dort keine Argumente gibt. Um das zu erkennen, braucht man eigentlich auch keine große Analyse, wie sie mal beim Volksverpetzer erschienen ist. Ein bisschen grundsätzliche Medienkompetenz sollte ausreichen.

  6. Was mich immer stutzig macht, dass es keine empörten Deutschen gibt, die bei Auszubildenden und Vorsitzenden die selben Vorbehalte vorschützen, wie bei Studierenden et al. Das ist wohl nur eine Frage der Gewohnheit.

    Schöne Pointe, Stefan.

  7. @SvenR:
    Sprache ist halt unlogisch – dieselben Fleischproduktverkaufenden, die seit Jahrzehnten „Leberkäse“ verkaufen, halten „vegetarische Wurst“ für Irreführung der Verbrauchenden.

  8. Ich fand jüngst den Studentenausweis meines Vaters aus Erlangen in den 1950er Jahren. Und siehe da, es hieß damals gar nicht Studentenausweis, sondern Studierendenausweis.

  9. Schöner und gut gemachter Artikel. Aber leider wird er nicht so viele erreichen wie der wirre Scheiß, den der Reitende-Schusternde da zusammengeklempnert hat.

  10. @Microft #11: Manche haben sich beim ZDF ja auch schon über Drehende beklagt.

    @Alberto Green #12: Du bist der Doktor. Auszubildende werden meinem laienhaften Verständnis – quasi Deutsch-Sprach-Azubine – sowohl als Gerundiv als auch als substantivierte Partizipien betrachtet, auch in Stefans Link oben.

  11. @SvenR: Dre-hende oder Dreh-Ende? Dieses ZDF kann es anscheinend niemanden recht machen.
    Der relativ offensichtliche Grund, warum „Vorsitzende“ und „Auszubildende“ nicht genderkritisiert werden, ist wohl der, dass man da nicht unterstellt, dass die das generisches Maskulinum ersetzen sollen, da sie nicht von Gendernden eingeführt wurden. Wie „Leberkäse“ nicht von den Fleischersetzenden.

  12. Krass: Schon 1784 schrieb die NZZ von „Studierenden“. Wie fortschrittlich! Wer aber studierte damals? Ausschließlich Männer. Der Gebrauch von „Studierenden“ statt „Studenten“ hatte nichts mit der Emanzipation von Frauen zu tun. Es gab einfach keine „Studentinnen“.

  13. Die Pointe dürfte Reitschuster im Herzen treffen. Deshalb mein Vorschlag an den Sprachgebrauch: Wenn Leute mit ideologisierten Behauptungen daneben liegen, könnte man es „reitschustern“ nennen und die Gemeinschaft der schäumenden Verblendeten sind dann bitte „Reitschusternde“. Könnte mir wenig vorstellen, was den Oberreitschusterden mehr provoziert.

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