Nach wochenlanger scharfer Kritik hat der NDR Anfang Dezember die Doku „Deutsche Schuld“ aus der Mediathek gelöscht. In dem Film geht es um die Aufarbeitung des Genozids an Ovaherero und Nama im heutigen Namibia. In einem offenen Brief hatten die Kritiker:innen, vor allem deutschsprachige Namibier:innen, der Produktion mit Moderatorin Aminata Belli „eine oberflächliche, in allen wichtigen Fragen völlig unreflektierte und bei vielen Sachdarstellungen faktisch falsche Präsentation“ vorgeworfen.
Dass ein Beitrag aus der Mediathek entfernt wird, ist ein äußerst seltener Schritt. Der NDR begründet diese Entscheidung damit, dass „schutzbedürftige Protagonistinnen und Protagonisten, denen diese Doku eine Stimme geben sollte, sich missverstanden und in einen falschen Kontext gestellt fühlen“. Im Film kommen Mitglieder einer Jugendgruppe vor. Man verzichte in „diesem speziellen Ausnahmefall“ auf jegliche weitere Ausstrahlung, um „die aufgeheizte Diskussion zu befrieden, zu versachlichen und die an unserer Produktion Beteiligten zu schützen“, schreibt der NDR. Formale Gründe, die Doku nicht länger anzubieten, sieht der Sender allerdings nicht.
Die Medienwissenschaftlerin Kaya de Wolff hat über die Erinnerung an die deutsche Kolonialzeit in Namibia und die Berichterstattung über den Genozid an Ovaherero und Nama in deutschen Medien promoviert. Sie ist der Ansicht: Die Doku habe zwar nachweislich journalistische Schwächen, doch in der Debatte zeigten sich blinde Flecke und Widersprüche auch aufseiten der Kritiker:innen.
Die Idee ist offensichtlich: ein trendiges „Presenter-Format“ soll ein junges Publikum ansprechen, das der prominenten Moderatorin, Journalistin und Influencerin Aminata Belli auf ihrem Roadtrip durch Namibia folgt. Ist das geeignet für ein schwieriges Thema wie den Völkermord an Ovaherero und Nama durch die deutschen Kolonialtruppen im damaligen „Deutsch-Südwestafrika“?
Der NDR hat es mit der Doku „Deutsche Schuld – Namibia und der Völkermord“ probiert – und ist gescheitert. Am 1. Dezember gab der Sender bekannt, dass der Film offline gestellt und auch nicht mehr ausgestrahlt wird. Zuvor hatten Protagonist:innen des Films und vor allem deutschsprachige Namibier:innen heftige Kritik geäußert, auch die „Bild“ machte Stimmung gegen die Produktion.
Im Fokus des 45-minütigen Films stehen die soziale Ungleichheit und Landfrage in Namibia sowie die Rolle der evangelischen Mission zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft. Moderatorin Aminata Belli spricht unter anderem mit einem deutschen Pfarrer in Namibia und dessen Jugendgruppe, mit der Nachfahrin eines deutschen Missionars, mit einer Soziologin (die im Film fälschlicherweise als „Demokratie-Aktivistin“ bezeichnet wurde) sowie mit zwei jungen Ovaherero, die auf unterschiedliche Weise mit der Erinnerung an die Kolonialzeit und dem Trauma des Genozids umgehen.
Der Film ist aus meiner Sicht kein kompletter Fehltritt, aber die Schwächen liegen auf der Hand. Er ist teilweise ungenau recherchiert und verkennt die jahrzehntelange kritische Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus und des Genozids in Namibia. Damit liefert die Doku einerseits eine Steilvorlage für die, die öffentlich-rechtliche Sender ohnehin diskreditieren wollen, andererseits wird in der Debatte um den Film die gegenwärtige deutsch-namibische Versöhnungspolitik beschönigt.
Schludrige Recherche und irritierende Inszenierung
Die Kritik an dem Film ist in vielen Punkten durchaus berechtigt. In einem offenen Brief des „Forums deutschsprachiger Namibier“ monieren die Unterzeichner:innen, dass die Doku einen undifferenzierten, voreingenommenen Blick auf Namibia werfe, Gemeinplätze bediene und zudem einige grobe sachliche Fehler enthalte. Eine augenscheinliche Ungereimtheit ist zum Beispiel der Hinweis auf ein fehlendes Denkmal für die getöteten Ovaherero und Nama. Obwohl ein solches Denkmal vor der Alten Feste in der Hauptstadt Windhoek in mehreren Szenen der Doku zu sehen ist, wird es im Film nicht erwähnt. Auch wurden in der ersten Version des Films deutschsprachige Namibier:innen fälschlicherweise als Deutsche bezeichnet. Der NDR besserte diese und andere inhaltliche Fehler aus und lud zwischenzeitlich eine korrigierte Version des Film hoch. Diese wurde schließlich Anfang Dezember – mit Verweis auf die „schutzbedürftigen Protagonist:innen“, die sich missverstanden fühlen – offline genommen.
Inhaltlich besonders gravierend ist allerdings, dass die Doku die bisherigen Bemühungen zur Aufarbeitung nahezu ausblendet. Dabei geht es nicht nur um das Engagement von Nachkommen der Opfer des Genozids in Namibia und der Diaspora, sondern auch das von kritischen Wissenschaftler:innen, Künstler:innen oder von zivilgesellschaftlichen postkolonialen Initiativen in Deutschland. Deren Arbeit hat schließlich dazu geführt, dass die Bundesrepublik 2021 die Verbrechen in Namibia als Genozid anerkannt hat.
Unglücklich war auch die falsche Behauptung der Redaktion von „MDR Dok“, die an der Produktion beteiligt war, dass die Doku von deutschen und namibischen Historiker:innen betreut worden sei. Die Aussage mussten die Produzent:innen schließlich revidieren. Dabei wäre ein gut aufgestelltes fachliches Gremium, das die Filmemacher:innen berät, gerade bei diesem komplexen Thema unerlässlich gewesen.
Tatsächlich ist auch die Inszenierung der Moderatorin und Reporterin Belli teilweise irritierend. Immer wieder erscheinen zwischen den Interviews und Reportage-Szenen kunstvoll gedrehte Bilder, in denen sie in die Kamera schaut oder die Augen schließt, teilweise in Slowmotion. Für die Rolle einer Reporterin wirkt diese Inszenierung unpassend, da Belli keinen persönlichen Bezug zum Thema hat.
Über die Wahl des Formats lässt sich grundsätzlich streiten. Zumindest erscheint die Grundidee des Drehbuchs, verschiedene (junge) Menschen aus Namibia zum Umgang mit der Vergangenheit zu befragen – und eben keine gestandenen Historiker:innen – als interessanter Ansatz.
Kritik an der Kritik
Doch die Kritik an der Doku ist mit Vorsicht zu genießen. Denn der offene Brief des „Forum deutschsprachiger Namibier“ blendet – ungeachtet vieler berechtigter Kritikpunkte – einiges aus. Schaut man sich das Schreiben genauer an, wird deutlich, dass es den Verfasser:innen vor allem darum geht, die Kritik an kolonialen Kontinuitäten zu entkräften. Zudem scheint sie sich als treibende Kraft hinter dem nationalen Versöhnungsprozess und den deutsch-namibischen Beziehungen darzustellen. Die Verfasser:innen stellen eingangs zwar ausdrücklich fest, „dass keine der unterzeichnenden Personen die während der deutschen Kolonialzeit von Deutschen in der damaligen Kolonie ‚Deutsch-Südwestafrika‘ an den einheimischen Bewohnern begangenen Verbrechen, Misshandlungen und Diskriminierungen infrage stellt.“ Auffällig ist jedoch, dass die Unterzeichner:innen den mittlerweile allgemein anerkannten Begriff „Genozid“ konsequent vermeiden. Dass auch der ehemalige deutsche Botschafter in Namibia, Christian M. Schlaga, den offenen Brief unterzeichnet, verleiht dem zusätzliches politisches Gewicht.
Insbesondere die Darstellung der ungleichen Landverteilung in Namibia wird von den Verfasser:innen kritisiert. Die aus ihrer Sicht „völlig vereinfachende Aussage“ in der Doku, 70 Prozent des Farmlandes in Namibia seien heute noch in der Hand weißer Menschen, werde aus Sicht der Verfasser:innen „der äußerst komplexen Landfrage in Namibia nicht nur in keiner Weise gerecht; sie führt in die Irre“.
Genau dies lässt sich aber auch über die Gegendarstellung in dem offenen Brief sagen, denn diese widerspricht nicht nur den in der Doku angeführten Zahlen, sondern grundsätzlich der Aussage, die heutigen Besitzverhältnisse in Namibia könnten als Folge von Unrecht während der deutschen Kolonialzeit gesehen werden. Die Kritiker:innen blenden aus, dass weiße Farmer:innen strukturell von dem anschließenden südafrikanischen Apartheids-System (1915 bis 1990) profitierten, und es somit bis heute durchaus eine koloniale Kontinuität in der Landverteilung gibt.
Nur die halbe Wahrheit
Die Verfasser:innen des offenen Briefs kritisieren auch, dass die Doku – der sie übrigens „ideologische Scheuklappen“ vorwerfen – nicht auf die bisherigen Bemühungen der namibischen Regierung zur Umverteilung kommerziellen Farmlandes hinweise. Fakt ist: Diese Landumverteilung in Namibia wurde zwar beschlossen, der Prozess geht aber sehr langsam voran, und vor allem die gesellschaftlich und politisch marginalisierten Minderheiten wie Ovaherero- und Nama-Opfergruppen werden dabei benachteiligt.
Die Landfrage, die in Namibia mit einer Umverteilungsmaßnahme nach dem Prinzip „Willing seller – willing buyer“ organisiert ist, stellt nach wie vor ein heikles Thema dar. Sie steht auch im Zentrum der gegenwärtigen Reparationsforderungen, die Nachkommen der Überlebenden des Genozids vor allem seitens der Ovaherero- und Nama mit guten Argumenten gegenüber der deutschen und namibischen Regierungen vertreten, wie der Aktivist Jephta. U. Nguherimo.
Während ein Verweis auf diese nachdrücklichen Forderungen und juristischen Klageversuche der Opfergruppen nach Entschädigung in dem offenen Brief fehlt, stellen die Verfasser:innen lobend die bisherige deutsche „Entwicklungshilfe“ für Namibia heraus und verweisen auf das deutsch-namibische Versöhnungsabkommen. Sie betonen, dass dieses bereits im Mai 2021 von beiden Regierungen verfasst wurde, die Umsetzung aber bisher an der entsprechenden Bereitschaft der namibischen Regierung gescheitert sei. Richtig ist aber: nicht die namibische Regierung lehnt das Abkommen ab, sondern weite zivilgesellschaftliche Teile der betroffenen Ovaherero- und Nama-Gemeinschaften. Sie protestieren aus gutem Grund anhaltend gegen ihre fehlende Beteiligung an den Verhandlungsgesprächen.
In dieser Hinsicht und auch in weiteren Punkten lässt der offene Brief viele Fakten aus. Bezeichnend für die selektive Kritik ist auch: das Forum, das einen großen Wert darauf legt, dass in der Doku präzise von deutschsprachigen Namibier:innen oder Namibier:innen deutscher Sprache geredet wird, hat offenbar keine Probleme, wenn in der „Bild“-Berichterstattung, die sich in großen Teilen auf den offenen Brief stützt, die Kritik aus Namibia als „Afrika-Aufstand“ bezeichnet wird. (Diese Pauschalisierung passiert in deutschsprachigen Medien ja immer wieder.)
Gefundenes Fressen für die ÖRR-Kritiker
Für die „Bild“, die die ARD und die Glaubwürdigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks generell gerne in Frage stellt, kommt so eine Debatte natürlich gelegen. Sie griff das Thema zwar erst am 11. November auf, rund sechs Wochen nach der Erstausstrahlung der Doku im Fernsehen, startete dafür aber eine regelrechte Kampagne gegen die Doku. Das Blatt zitierte ausführlich aus dem offenen Brief und konstruierte daraus einen Medienskandal der ARD. „Bild“ bezeichnete die Doku in mehreren Artikeln unter anderem als „Peinlich-Doku“, „Skandal-Doku“, „Pannen-Film“ oder „Problem-Film“ und sprach von einem „Afrika-Aufstand“, „Afrika-Lüge“ und einer „Afrika-Blamage“. Die „Bild“ erweckt triumphierend den Eindruck, als hätte ihre Berichterstattung schließlich zur Löschung „des Machwerks“ aus der Mediathek geführt.
Nüchtern betrachtet geht es bei dem „Afrika-Aufstand“ um Beschwerden von vier individuellen Protagonist:innen und der Gruppe deutschsprachiger namibischer Konfirmand:innen, die sich in der Doku falsch repräsentiert sahen, sowie um den offenen Brief einer kleinen – wenngleich einflussreichen – Gruppe deutschsprachiger Namibier:innen. Zu den 160 Unterzeichner:innen gehören, nebenbei bemerkt, auch Menschen, die in Deutschland leben.
Wer wird gehört und wer nicht?
Es ist wichtig, dass man bei aufgeheizten Debatten wie dieser genau darauf schaut, aus welcher Richtung die Kritik kommt und welches Wissen und Expertentum da jeweils vertreten werden.
Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass in der jüngsten Vergangenheit kolonialapologetische Positionen in deutschen Medien in der Regel nicht dazu geführt haben, dass Beiträge überarbeitet oder gar gelöscht werden – trotz massiven Proteste. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür ist ein Artikel von Bartholomäus Grill, renommierter Journalist und seinerzeit Afrika-Korrespondent des „Spiegel“.
In einem großen „Spiegel“-Artikel fragte Grill noch im Jahr 2016 (!), ob es den Völkermord an den Ovaherero und Nama „überhaupt gegeben“ habe. Im Mittelpunkt des Beitrags stehen die Thesen von Hinrich Schneider-Waterberg, einem (2022 verstorbenen) zumindest in Namibia bekannten „ehemaligen Farmer, langjährigen Politiker und Hobby-Historiker“. Schneider-Waterberg bemühte sich seit Jahrzehnten darum, die „seiner Meinung nach ‚tendenziöse und falsche Geschichtsschreibung‘ über den Hererokrieg in den Jahren 1904 bis 1907 zu korrigieren“.
In der kritischen Öffentlichkeit wurde intensiv darüber diskutiert, dass Schneider-Waterbergs schräge Thesen so viel Platz im „Spiegel“ bekommen konnten. 24 „Spiegel“-Ausgaben später, im November 2016, veröffentlichte das Magazin dann immerhin ein „Streitgespräch“ zwischen Journalist Grill und dem Kolonialhistoriker Jürgen Zimmerer, der den Beitrag über Schneider-Waterberg neben anderen Fachleuten massiv kritisiert hatte.
Die Autorin
Kaya de Wolff ist promovierte Medienwissenschaftlerin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe Universität Frankfurt. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit hat sie sich intensiv mit der Erinnerung an die deutsche Kolonialzeit und der Anerkennung des Ovaherero- und Nama-Genozids in der deutschen Berichterstattung beschäftigt. Ihr Buch ist bei „transcript“ erschienen.
Die deutschsprachige namibische Community scheint deutsche Medien genau zu studieren. Und sie ist in der Lage, schnell und öffentlichkeitswirksam Stellung zu nehmen gegen Berichte, die nicht zum konstruierten Selbstbild passen. Das ist ein Privileg, das den nicht-deutschsprachigen namibischen Minderheiten, wie etwa vielen Nachkommen der Opfer des Genozids, verwehrt bleibt. Sie haben aufgrund der sprachlichen Barrieren keinen Zugang zu den deutschen Produktionen und den Debatten darüber bzw. nehmen oft überhaupt keine Kenntnis davon.
Oder anders ausgedrückt: Wenn auch Mitglieder der Ovaherero oder Nama über jegliche falsche Darstellung in Medien offiziell Beschwerde einlegen würden, müsste ein Großteil der bisherigen Berichterstattung zum Genozid sowie viele Film- und Fernsehproduktionen stark redigiert werden. Schließlich werden darin oftmals rassistische Begriffe aus kolonialen Dokumenten ohne kritische Distanz zitiert und im Zusammenhang mit den heutigen Generationen der Opfergruppen und ihren zentralen Vertreter:innen vielfach undifferenziert und herablassend von „Stämmen“ und „Häuptlingen“ gesprochen.
Kruder Vergleich bleibt unkommentiert
Schockierend und mit Sicherheit verletzend für viele Nachkommen der Opfer ist auch eine Stelle in der gelöschten NDR-Doku, in der Imke Rust, Künstlerin und Nachfahrin eines deutschen Missionars, die historische Situation des Genozids mit der gesellschaftlichen Akzeptanz von Massentierhaltung vergleicht. Auf die Frage von Moderatorin Belli, ob die Missionare aus ihrer Sicht eine Mitschuld an dem Völkermord haben, sagt Rust in dem Film:
„Ich glaube, (…) wir wissen alle, wie schlimm die Massentierhaltung ist. Und trotzdem essen 90 Prozent der Menschen Fleisch. Und dass uns wahrscheinlich in einhundert Jahren unsere Nachfahren fragen werden: Warum habt ihr, wenn ihr gewusst habt, wie schlecht das ist, warum ging das über so viele Jahre einfach weiter?“
Die Filmemacher:innen kommentieren diese Aussage nicht. Dass es dazu auch nach der Ausstrahlung der Doku keinen Aufschrei gegeben hat, zeigt, wie ungleich die kritische öffentliche Aufmerksamkeit bei diesem Thema verteilt ist. Subtiler, aber dennoch problematisch, ist auch die mediale Darstellung der Nachkommen der Opfer des Genozids als politisch unorganisiert und handlungsunfähige Subjekte, die passiv nur auf (finanzielle) Hilfe aus Deutschland warten.
In einer Szene der Doku spricht Aminata Belli Frauen an, die auf einem Parkplatz Schmuck verkaufen. Eine der Interviewten, die als hererostämmig und lediglich mit dem Vornamen „Maria“ vorgestellt wird, darf hier Worte der Empörung und Hilflosigkeit loswerden, die auch noch Stereotype bedienen („Wir sollten bei unseren Rindern sein“). Sicherlich wäre es lohnenswert gewesen, gerade den Lebensrealitäten dieser Frauen mehr Anerkennung und Raum zu schenken und in der Doku insbesondere auf den Aktivismus innerhalb der Ovaherero- und Nama-Gemeinschaften zu verweisen. Denn genau diese Humanisierung sowie differenzierte Hintergründe braucht die Debatte um den Genozid und dessen Langzeitfolgen im heutigen Namibia, um mit bisherigen Klischees zu brechen.
In „100 Years of Silence“ (2007) geht eine junge Herero-Frau, deren Großmutter von deutschen Kolonialsoldaten vergewaltigt worden war, auf eine persönliche Spurensuche.
„Namibia: The price of Genocide“ (2021) ist eine „Al Jazeera“-Produktion, in der der Herero-Aktivist Jephta U. Nguherimo über das Trauma des Genozids, die soziale Ungleichheit in Namibia und die gegenwärtige Reparationsbewegung berichtet.
Auf der Seite des Bündnisses „Völkermord verjährt nicht!“ gibt es einen Überblick über weitere Aktivitäten und Beiträge zum Thema.
Dass es bei dem Thema immer kritische Reaktionen auf neue mediale Beiträge geben wird, ist abzusehen. Aufschlussreich ist, wessen Kritik in den öffentlichen Debatten (nicht) gehört wird. So gab es auch für den Anfang 2023 auf der Berlinale präsentierten Film „Der vermessene Mensch“ von Lars Kraume vielfach Kritik, vor allem von Schwarzen Filmschaffenden. Es wurde in der Öffentlichkeit aber niemals ernsthaft darüber diskutiert, dass der Film – in dem im übrigen auch das N*-Wort verwendet wird – vor weiteren Vorführungen inhaltlich überarbeitet werden müsste. Im „Veto“-Magazin sprachen im April 2023 die Kommunikationswissenschaftlerin Natasha A. Kelly und die Sängerin Achan Malonda ausführlich über ihre Kritik an dem Film. Sie machten deutlich, wie unerlässlich antirassistische Fachberatung und Schwarze Deutsche Perspektiven gerade bei Filmproduktionen zur kolonialen Vergangenheit sind.
Mit der Anerkennung des Genozids ist es nicht getan
Die jüngste Diskussion um die NDR-Doku „Deutsche Schuld“ und die öffentlichkeitswirksamen Wortmeldungen der deutschsprachigen Namibier:innen zeigen, dass diese Auseinandersetzungen mit der offiziellen Anerkennung des Genozids durch die Bundesregierung keinesfalls abgeschlossen sind. Und sie zeigen auch, dass die Medienöffentlichkeit die zentrale Arena dieser umkämpften Erinnerungsdiskurse ist.
Die deutsch-namibische Debatte um die NDR-Doku wirft die kritischen Aufarbeitungsbemühungen von Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Reparations-Aktivist:innen der vergangenen Jahrzehnte nun bedauerlicherweise weit zurück. Verantwortlich dafür ist einerseits die Doku selbst, die sich aufgrund unzulänglicher Recherche angreifbar gemacht hat, aber andererseits auch die Art und Weise, wie darüber diskutiert wird. Es ist gerade jetzt wichtig, dass andere kritische Stimmen nicht verstummen, sondern im öffentlichen-medialen Diskurs ebenso selbstbewusst auftreten wie die Unterzeichner:innen des offenen Briefes und die „Bild“-Zeitung.
Dass die bisherige umfangreiche wissenschaftliche Aufarbeitung zum Genozid in solchen Debatten offenbar immer noch ignoriert werden kann, beweist auch, wie wichtig Wissenschaftskommunikation und verstärkter Wissenstransfer in die mediale Öffentlichkeit sind.
Wünschenswert wäre es zudem, dass insbesondere auch Nachkommen der Opfer des Genozids aktiv an Produktionen zum Thema beteiligt werden. Desweiteren braucht es im Sinne eines vielstimmigen und damit zwangsläufig agonistischen postkolonialen Erinnerungsdiskurses gut moderierte Foren (insbesondere in den sozialen Medien), um die angestoßenen Kontroversen adäquat begleiten zu können. Es gilt die umkämpfte Erinnerung an den Genozid als einen fortlaufenden gesellschaftlichen Aushandlungsprozess transparent zu machen. Gerade im Anschluss an öffentlich-mediale Kontroversen wie im Fall der Doku „Deutsche Schuld“ könnten aufschlussreiche neue Gespräche über einen angemessen(er)en Umgang mit der kolonialen Vergangenheit und ihren Folgen entstehen.
Nachtrag, 21.5.24:Der Rundfunkrat des NDR hat in seiner jüngsten Sitzung mit knapper Mehrheit entschieden, dass die Dokumentation „Deutsche Schuld“ gegen die Grundsätze des Rundfunkstaatsvertrags verstoßen hat. Dietmar Knecht, Vorsitzender des NDR-Rundfunkrats, sagte: „Dass die Dokumentation dauerhaft aus allen Ausspielwegen des Programms herausgenommen wurde, ist Ergebnis einer intensiven fachlichen und sachlichen Aufarbeitung der Vorwürfe auch unter Beteiligung unserer Gremien.“ Presenter-Formate für „Dokumentationen über komplexe historische Zusammenhänge“ seien kritisch zu hinterfragen. Das knappe Abstimmungsergebnis zeige, so Knecht, dass man sich „die Entscheidung, welche Konsequenzen aus der missglückten Dokumentation zu ziehen sind, nicht leicht gemacht“ habe.
6 Kommentare
Ist das geeignet für ein schwieriges Thema wie den Völkermord an Ovaherero und Nama durch die deutschen Kolonialtruppen im damaligen „Deutsch-Südwestafrika“?
Aus meiner Sicht: Nein. Das liegt zum einen an der oft schludrigen Recherche-Basis solcher Sendungen mit inhaltlichen Fehlern und fragwürdigen Erzähl-Entscheidungen – hier ist es Frau Belli in Betroffenheits-Zeitlupe; neulich war es Herr Bode, der am Rande einer Klima-Demo in Tränen ausbrach; 2022 war es Frau Patt, die wahllos Leute mit „jüdischem“ Nachnamen anrief und nach ihrem Hintergrund befragte.
Sowas kommt regelmäßig vor in auf jung gemachten Presenter-Reportagen, wäre an sich aber vermeidbar. Unvermeidbar ist in diesen Formaten meines Erachtens die Verflachung des Themas – als Ergebnis zum einen von der Konzentration auf die Presenter-Figur, ihre Erlebnisse und Gefühle, zum anderen vom weitgehenden Verzicht auf nüchtern analysierende Experten zugunsten von (irgendwie) „Betroffenen“.
Schade, dass dass die ÖR ihrer jungen Zielgruppe anscheinend nicht mehr zutrauen, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, ohne dass es verflacht, emotionalisiert und mit Identifikations-Angeboten aufgeladen wird. Dem Anliegen erweist man damit einen Bärendienst.
Textlich:
„Mokieren“ oder „monieren“ die deutschsprachigen Namibier, dass die Doku einen voreingenommenen Blick auf Namibia werfe?
Ansonsten:
Die Erklärung, warum die ganze Doku weg muss, kommt mir schon mau vor, man hätte ja theoretisch aus dem Material einfach saubere Interviews schneiden können, oder ganz unglückliche Stellen rausschneiden; aber das erinnert mich auch an die Antifeminismus-Doku, wo die Videos mit Richtigstellungen und Stellungnahmen länger als die eigentliche Doku wurden.
Dass die Kritiker ihre Kritik selbst auch nicht gerade journalistisch sauber formulieren, oder dass BILD darauf anspringt, ist sicher richtig, aber Steilvorlage ist Steilvorlage.
Danke für diese Darstellung über eine Angelegenheit, von der ich nichts mitbekam. Die Darstellung von Frau de Wolff scheint mir jedenfalls ausgewogen.
Kritik:
„Sie machten deutlich, wie unerlässlich antirassistische Fachberatung und Schwarze Deutsche Perspektiven gerade bei Filmproduktionen zur kolonialen Vergangenheit sind.“
Ich finde hingegen, daß Expertise für die Fragen der Doku wichtig sind. Kenntnisse des sogenannten Antirassismus oder gar alleine die Hautfarbe machen einen noch nicht zum Kenner der Geschichte und Gesellschaft Namibias.
Lob:
„ Dass die bisherige umfangreiche wissenschaftliche Aufarbeitung zum Genozid in solchen Debatten offenbar immer noch ignoriert werden kann, beweist auch, wie wichtig Wissenschaftskommunikation und verstärkter Wissenstransfer in die mediale Öffentlichkeit sind.“
Uneingeschränkte Zustimmung!
Eine Schwierigkeit der Debatte und der (mir unbekannten) Doku scheint mir zu sein, daß die Erkenntnisfrage unklar ist.
Geht es um den Genozid? Dann sind Historiker und deren fachlicher Debattenstand wichtig. (Nicht jedoch irgendwelche Enkel oder Urenkel von wem auch immer.)
Geht es um den politischen Prozeß der Aussöhnung? Dann reicht es, die bekannten historischen Fakten kurz zu referieren und Politiker und Interessensgruppen wären die ersten Ansprechpartner.
Geht es um die namibische Gesellschaft und deren Gegenwart und Zukunft? Dann sind Themen wie Landverteilung oder Stimmen von Schmuckverkäuferinnen von Interesse.
Alles drei zusammen in ein Presenter-Format von 45 Minuten kann nur schief gehen. Will man alles drei abhandeln (was ja ein toller Ansatz wäre!), dann kann es eigentlich nur eine lange oder mehrteilige Doku/Podcast werden.
Kurz: Das Format muß dem Thema angemessen sein. Dann muß man es hinterher auch nicht aus der Mediathek entfernen.
Es lässt sich halt zusammenfassen mit dem alten Onion-Meme „Heartbreaking: The Worst Person You Know Just Made A Great Point“. Die Bild hat mit ihrer Kritik in diesem Fall halt recht, und es tut uns allen weh. Jetzt sich das irgendwie noch hinzubasteln (und so wirkt der Artikel leider wirklich, wie ein hindrehen um doch noch irgendwie auf Bild und die anderen Kritiker böse, Öffentlich-Rechtliche gar nicht sooo schlimm) verstehe ich als Reflex, aber ich hoffe eigentlich das man da als Medienkritiker etwas hätte drüber stehen können. Denn der Sachverhalt und die Nuancen sind ja interessant und einen neutraleren Artikel dazu hätte ich auch mit Freude gelesen.
Erleichterung pur! Dieser Beitrag ist nicht nur durchdacht und fundiert, sondern bietet auch eine fantastische Grundlage für weitere Diskussionen. Vielen Dank dafür!
Ich hatte gehofft, dass das Thema bei Übermedien noch aufgegriffen wird. Ich habe mir die Doku in der ZDF mediathek noch anschauen können, nachdem sie in der ARD mediathek schon gelöscht war (vermutlich hätte ich sie mir ohne die Löschung gar nicht angeschaut). Trotz der Tatsache, dass die Doku viele Sachen herunterbricht und es für alle Doku-Formate grundsätzlich besser wäre, Menschen einzubeziehen, die tatsächliche Expertise in dem dargestellten Subjekt haben, finde ich es ziemlich weird, dass die Sendung tatsächlich komplett gelöscht wurde. Was da sonst in der Mediathek an unreflektiertem Quatsch rumliegt… Ich weiß jetzt, nach Doku und Kritik und diesem Artikel, auf jeden Fall mehr über Deutschland, Namibia und den Genozids an Ovaherero und Nama als voher und u.a. deswegen bin ich gern Übonenntin. Danke!
Aus meiner Sicht: Nein. Das liegt zum einen an der oft schludrigen Recherche-Basis solcher Sendungen mit inhaltlichen Fehlern und fragwürdigen Erzähl-Entscheidungen – hier ist es Frau Belli in Betroffenheits-Zeitlupe; neulich war es Herr Bode, der am Rande einer Klima-Demo in Tränen ausbrach; 2022 war es Frau Patt, die wahllos Leute mit „jüdischem“ Nachnamen anrief und nach ihrem Hintergrund befragte.
Sowas kommt regelmäßig vor in auf jung gemachten Presenter-Reportagen, wäre an sich aber vermeidbar. Unvermeidbar ist in diesen Formaten meines Erachtens die Verflachung des Themas – als Ergebnis zum einen von der Konzentration auf die Presenter-Figur, ihre Erlebnisse und Gefühle, zum anderen vom weitgehenden Verzicht auf nüchtern analysierende Experten zugunsten von (irgendwie) „Betroffenen“.
Schade, dass dass die ÖR ihrer jungen Zielgruppe anscheinend nicht mehr zutrauen, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, ohne dass es verflacht, emotionalisiert und mit Identifikations-Angeboten aufgeladen wird. Dem Anliegen erweist man damit einen Bärendienst.
Textlich:
„Mokieren“ oder „monieren“ die deutschsprachigen Namibier, dass die Doku einen voreingenommenen Blick auf Namibia werfe?
Ansonsten:
Die Erklärung, warum die ganze Doku weg muss, kommt mir schon mau vor, man hätte ja theoretisch aus dem Material einfach saubere Interviews schneiden können, oder ganz unglückliche Stellen rausschneiden; aber das erinnert mich auch an die Antifeminismus-Doku, wo die Videos mit Richtigstellungen und Stellungnahmen länger als die eigentliche Doku wurden.
Dass die Kritiker ihre Kritik selbst auch nicht gerade journalistisch sauber formulieren, oder dass BILD darauf anspringt, ist sicher richtig, aber Steilvorlage ist Steilvorlage.
Danke für diese Darstellung über eine Angelegenheit, von der ich nichts mitbekam. Die Darstellung von Frau de Wolff scheint mir jedenfalls ausgewogen.
Kritik:
„Sie machten deutlich, wie unerlässlich antirassistische Fachberatung und Schwarze Deutsche Perspektiven gerade bei Filmproduktionen zur kolonialen Vergangenheit sind.“
Ich finde hingegen, daß Expertise für die Fragen der Doku wichtig sind. Kenntnisse des sogenannten Antirassismus oder gar alleine die Hautfarbe machen einen noch nicht zum Kenner der Geschichte und Gesellschaft Namibias.
Lob:
„ Dass die bisherige umfangreiche wissenschaftliche Aufarbeitung zum Genozid in solchen Debatten offenbar immer noch ignoriert werden kann, beweist auch, wie wichtig Wissenschaftskommunikation und verstärkter Wissenstransfer in die mediale Öffentlichkeit sind.“
Uneingeschränkte Zustimmung!
Eine Schwierigkeit der Debatte und der (mir unbekannten) Doku scheint mir zu sein, daß die Erkenntnisfrage unklar ist.
Geht es um den Genozid? Dann sind Historiker und deren fachlicher Debattenstand wichtig. (Nicht jedoch irgendwelche Enkel oder Urenkel von wem auch immer.)
Geht es um den politischen Prozeß der Aussöhnung? Dann reicht es, die bekannten historischen Fakten kurz zu referieren und Politiker und Interessensgruppen wären die ersten Ansprechpartner.
Geht es um die namibische Gesellschaft und deren Gegenwart und Zukunft? Dann sind Themen wie Landverteilung oder Stimmen von Schmuckverkäuferinnen von Interesse.
Alles drei zusammen in ein Presenter-Format von 45 Minuten kann nur schief gehen. Will man alles drei abhandeln (was ja ein toller Ansatz wäre!), dann kann es eigentlich nur eine lange oder mehrteilige Doku/Podcast werden.
Kurz: Das Format muß dem Thema angemessen sein. Dann muß man es hinterher auch nicht aus der Mediathek entfernen.
Es lässt sich halt zusammenfassen mit dem alten Onion-Meme „Heartbreaking: The Worst Person You Know Just Made A Great Point“. Die Bild hat mit ihrer Kritik in diesem Fall halt recht, und es tut uns allen weh. Jetzt sich das irgendwie noch hinzubasteln (und so wirkt der Artikel leider wirklich, wie ein hindrehen um doch noch irgendwie auf Bild und die anderen Kritiker böse, Öffentlich-Rechtliche gar nicht sooo schlimm) verstehe ich als Reflex, aber ich hoffe eigentlich das man da als Medienkritiker etwas hätte drüber stehen können. Denn der Sachverhalt und die Nuancen sind ja interessant und einen neutraleren Artikel dazu hätte ich auch mit Freude gelesen.
Erleichterung pur! Dieser Beitrag ist nicht nur durchdacht und fundiert, sondern bietet auch eine fantastische Grundlage für weitere Diskussionen. Vielen Dank dafür!
Ich hatte gehofft, dass das Thema bei Übermedien noch aufgegriffen wird. Ich habe mir die Doku in der ZDF mediathek noch anschauen können, nachdem sie in der ARD mediathek schon gelöscht war (vermutlich hätte ich sie mir ohne die Löschung gar nicht angeschaut). Trotz der Tatsache, dass die Doku viele Sachen herunterbricht und es für alle Doku-Formate grundsätzlich besser wäre, Menschen einzubeziehen, die tatsächliche Expertise in dem dargestellten Subjekt haben, finde ich es ziemlich weird, dass die Sendung tatsächlich komplett gelöscht wurde. Was da sonst in der Mediathek an unreflektiertem Quatsch rumliegt… Ich weiß jetzt, nach Doku und Kritik und diesem Artikel, auf jeden Fall mehr über Deutschland, Namibia und den Genozids an Ovaherero und Nama als voher und u.a. deswegen bin ich gern Übonenntin. Danke!