Wochenschau (157)

Bin Ladens Brief auf Tiktok: Wir brauchen andere Kategorien für Ideologisierungs-Videos

Den Punkt „Bin Laden abfeiern“ hatte ich, ehrlich gesagt, nicht auf meiner Tiktok-Bingo-Karte 2023, but here we are. Vor fast zwei Wochen postete eine Tiktok-Nutzerin mit 371 Followern ein Video, in dem sie Teile des „A Letter To America“ von Osama bin Laden zitiert und von einem Erweckungsmoment schwärmt. In dem Pamphlet erklärte der Terrorist vor vielen Jahren mithilfe von Fundamentalismus, Antisemitismus und Homophobie, inwiefern der von ihm orchestrierte zerstörerische Angriff auf das New Yorker World Trade Center im Jahr 2001 gerechtfertigt sei. Lynette Adkins, die Frau im Video, ermutigte ihre Follower, den Brief zu lesen, denn sie hatte, wie sie erklärt, „eine existenzielle Krise“. Sie meint das in einem positiven Sinne.

Nun könnte man sagen, dass es viel Hass, Ignoranz und Nonsens in allen Netzwerken gibt und Adkins da traurigerweise nicht einmal so negativ herausfällt – wenn es nicht die Sorge gäbe, dass die Worte des toten Al-Qaida-Führers eine größere Anziehungskraft entwickeln könnten. Damit verbunden ist die Frage, ob der Brief nun wirklich viral ging, oder ob erst die berechtigte Empörung darüber, dass er kursierte, ihm Reichweite verschaffte.

Das manifestartige Hasspamphlet, das 2002 vom „Guardian“ ins Englische übersetzt und veröffentlicht wurde, tauchte plötzlich auf Tiktok und Twitter auf. Auf Tiktok, weil Influencer den Text rumreichten wie eine Yoga-Challenge; auf Twitter, weil der amerikanische Journalist Yashar Ali vor der unkritischen Anerkennung des Briefes mithilfe eines Supercuts positiver Tiktok-Stimmen warnen wollte. Es folgten zu recht alarmierte Artikel über die mögliche Selbstradikalisierung von Menschen auf Tiktok, eine Befürchtung, die in Anbetracht der Mechanik von stochastischem Terrorismus und einer ganzen Propaganda-Maschine der Hamas, die gerade bei Tiktok auf Hochtouren läuft, alles andere als unbegründet ist.

Es mischte sich aber auch milde Verwunderung darüber in die Betrachtungen, wie ein Terrorist mehr als zehn Jahre nach seinem Tod aus dem Nichts so ein Zugkraft auf Tiktok-Nutzende entwickeln konnte. Dazu kam gerne die headlinetypische Verallgemeinerung, dass die Gen-Z, die ja in den merkwürdigsten Takes unserer Zeit ohnehin als arbeitsscheu, unproduktiv und übersensibel gezeichnet wird, plötzlich auch noch ihre Begeisterung für Al Qaida entdeckt habe. Nicht nur faul, auch noch Fundamentalisten! (Wobei manche Kommentatoren ihre Empörung über die Jugend vermutlich eher so formulieren würden: „Nicht nur Fundamentalisten, auch noch faul!“)

Enorme Verbreitung – oder doch nicht?

Datenanalyst:innen und Digitaljournalist:innen merkten mit etwas zeitlichem Abstand an, dass bei genauerer Betrachtung die Verbreitungszahlen der ersten Titktok-Videos, insbesondere von Influencerin Lynette Adkins, Patientin Null gewissermaßen, wesentlich geringer ausgefallen seien, als es die medienkritische Sorge glauben mache.

Der amerikanische Journalist Ryan Broderick erklärt, dass es erst der Tweet von Yashar Ali war, der das Monster erschuf, das Ali mit seinem Tiktok-Supercut bekämpfen wollte, indem er seine enorme Followerschaft (712 000 folgen Ali auf X) auf die Inhalte dieser obskuren Tiktoker aufmerksam machte. Auch das von Technologie-Journalist:innen gegründete Magazin „404 Media“ geht in seiner Auswertung von einem Streisand-Effekt aus. Einer der Journalisten, Jason Koebler, betonte auf X, es sei bloß „eine winzige, winzige Ecke von Tiktok“ und es gebe „eigentlich nur ein paar Dutzend Videos zu dem Brief“. Im Vergleich zu den Abruf-Zahlen, die auf Tiktok anderweitig erreicht werden, könne man nicht von einem Trend sprechen.

Allerdings widerspricht eine Stelle der „404 Media“-Auswertung dem Vorwurf, dass die Viralität eine aus künstlicher Empörung, Twitter und Berichterstattung konstruierte war. Ein Sprecher des „Guardian“ erklärte den Technologie-Journalist:innen:

„Die Abschrift, die vor 20 Jahren auf unserer Website veröffentlicht wurde, wurde heute in den sozialen Medien ohne den ursprünglichen Kontext geteilt. Deshalb haben wir beschlossen, es zu entfernen und Leser stattdessen auf den Nachrichtenartikel zu verweisen, der den ursprünglichen Kontext lieferte.“

Ein Anstieg der Aufrufe des Briefes von bin Laden war bereits vor dem Tweet von Yashar Ali zu verzeichnen. Ebenso lassen sich in den Google Trends auch vor seinem Tweet eine bemerkenswerte und steigende Zahl an Suchanfragen erkennen. Tiktok aber erklärte, der Hashtag „#lettertoamerica“ habe vor Alis Tweet weniger als zwei Millionen Views gehabt – und nach dem Tweet und der Berichterstattung darüber mehr als 13 Millionen.

Gut, wäre ich Tiktok, würde ich auch einen Typen auf Twitter verantwortlich machen für alles Schlechte auf Tiktok. Ein Sprecher der chinesischen Plattform behauptete zudem:

„Die Anzahl der Videos auf TikTok ist gering und Berichte darüber, dass sie auf unserer Plattform im Trend liegen, sind ungenau.“

Die „Vox“-Autor:innen A.W. Ohlheiser und Li Zhou ordnen die Aufregung über die mögliche Viralität als eine „moralische Panik“ ein, auch John Herrman benutzt im „New York Magazine“ diesen Ausdruck; er beschreibt eine überdramatische Reaktion auf ein Phänomen oder eine Menschengruppe, die als Ursache für einen Sittenverfall oder die Dekadenz der Gesellschaft behauptet wird. Geprägt wurde der Begriff der „moralischen Panik“ von dem Soziologen Stanley Cohen, er bezieht sich vor allem auf die unverhältnismäßige Empörung und moralische Verurteilung, insbesondere durch einen Teil der Gesellschaft, der eine Gefahr für die soziale Ordnung zu sehen glaubt.

Die Hilfe-Tiktok-radikalisiert-unsere-Kinder-Angst

Zu den berühmten Beispielen gehört die angeblich satanistische Rockmusik, die Jugendliche zu Drogendealern und verlotterten Kriegsverweigerern mit langen Haaren verwandelt. Selbst das Spiel „Pokémon GO“ löste vor einigen Jahren eine kleine moralische Panik aus. Man befürchtet nun, so scheint es, eine Überdramatisierung der Viralität von Osama bin Ladens Brief, offenbar schwebt die Hilfe-Tiktok-radikalisiert-unsere-Kinder-Angst mit. Und manche Beobachter:innen nehmen wahr, dass das, was hier als moralische Panik beschrieben wird, im Diskurs zu gern genutzt werden könnte, um Verbotsbestrebungen gegen die Plattform besser begründen zu können.

Aber ganz unabhängig von der Chronologie der Aufmerksamkeitsimplifikation: Anhand der reinen Aufrufzahlen lässt sich ohnehin nicht nachvollziehen, ob Nutzerinnen die Inhalte ablehnten oder ihnen zustimmten, nachdem sie diese gesehen hatten – und auch bei den Duetten, die auf Tiktok ähnlich funktionieren wie Drüberkommentare auf Twitter, müsste eine Inhaltsanalyse ermitteln, ob die Reaktionen und das Engagement nicht eher kritischer und ablehnender Natur waren.

Die Auseinandersetzung, wer nun verantwortlich war für die Verbreitung und ob die Sorge zutreffend oder übertrieben ist, halte ich für berechtigt. Es gibt eine seltsame Form von Netzverallgemeinerungsberichterstattung, die aus einem Tweet eines Eierkopfacounts mit sechsstelliger Zahl im Namen oder einigen verirrten Bots einen Artikel mitsamt Klickstrecke über die „Stimmung im Netz“ macht. Deshalb sollte man der Natur eines Trends auf den Grund gehen und absolutistische „Das sagt das Netz!“-Behauptungen kritisch hinterfragen. Insbesondere dann natürlich, wenn die Behauptung dieser Viralität mithilfe des Streisand-Effekts, anekdotischer Evidenz und Selbsterfüllender Prophezeiung erst dazu führt, dass Viralität eintritt.

Einordnungen tun auch Not, wenn es darum geht, etwa die Berichterstattung über Challenges kritisch zu bewerten, wo es wahlweise darum gehen soll, dass die Jugend von heute angeblich haufenweise Waschmittelkapseln als Mutprobe in den Mund steckt oder sich nach dem Vorbild des Films „Bird Box“ die Augen verbindet und dann Auto fährt. Die elterliche Angst darüber, was ihre Kinder online machen, ist so begründet wie nachvollziehbar – umso wichtiger ist es, in der journalistischen Betrachtung zu unterscheiden zwischen echten lebensbedrohlichen Trends (wie die Normalisierung des „Brazilian Butt Lifts“) und Fake-Challenges, die dank Kulturpessimismus und medial hochgezazzter Panik irgendwann für wahr gehalten werden.

Nur mit Zahlen kommen wir nicht weiter

Im Fall des Briefs von Osama bin Laden – kein Spiel, keine Mutprobe, keine Schminktrend, sondern ganz banale Verbreitung von antisemitischer Propaganda – erscheint mir die Fokussierung auf Zahlen ein bisschen zu simpel.

Wenn wir uns fragen: Wann ist ein Trend ein Trend? Wann ist ein Trend ein gefährlicher Trend? Was für ein Trend ist es, wenn viele etwas teilen, um es zu verurteilen? Dann kommen wir mit reinem Engagement, Zahlen und Accountgrößen nicht ins Herz der Dunkelheit schleichender Desinformation. Eine lediglich quantitative Betrachtung, die beispielsweise die Abrufzahlen der Videos, die bin Ladens Brief loben, mit den Views anderer erfolgreicher Videos auf der Plattform vergleicht, oder eine geringe Reichweite einzelner Accounts als Argument gegen eine Viralität anführt, um erleichtert festzustellen, alles sei doch nicht so schlimm, scheint mir müßig. Vergleichskategorien und Relevanzschwellen sollten hier anders geeicht werden.

Der Internetanalyst Max Read nutzte in seinem Newsletter den Begriff des „Kontextkollaps“ der Wissenschaftlerinnen Alice Marwick und Danah Boyd. Er beschreibt den Zusammenbruch des Kontextes, der „im Allgemeinen auf(tritt), wenn ein Überschuss verschiedener Zielgruppen den gleichen Raum einnimmt und eine Information, die für ein Publikum bestimmt ist, ihren Weg zu einem anderen findet“.

Read macht es in Bezug auf Twitter konkret:

„Der Begriff wird in der Regel verwendet, um die besondere, schwindelerregende Verrücktheit der Nutzung von Plattformen zu erklären, auf denen man Freunden, Kollegen, Familienmitgliedern, aktuellen Nachrichten, Propaganda, brasilianischen Dua-Lipa-Fans, Fußfetischisten usw. gleichzeitig begegnet. Aber im Falle von Twitter war der ‚einzige Kontext‘, in den alle anderen eingebettet waren, oft recht nützlich, vor allem für Journalisten: ein Mittel, um sich selbst, seine Arbeit und die sozialen und beruflichen Positionen, die man einnahm, zu verstehen. Das galt auch dann noch, als klar wurde, dass Twitter ’nicht das wahre Leben‘ ist und bestenfalls einen verzerrten Spiegel der Welt außerhalb von Twitter darstellt.“

Read benutzt den Begriff, um unsere Unfähigkeit zu beschreiben, eine Metrik für den Erfolg, die Reichweite und Wirkmacht eines Tiktok-Videos richtig zu nutzen und einsetzen zu können. Uns fehlt hier noch – Kontext.

Es geht nicht zwangsläufig um die Quantität der Verbreitung, sondern die Qualität des Kontakts; es ist keine Kurzchoregraphie auf eingängige 30 Sekunden eines aktuellen Popsongs oder ein Makeup-Look, der niedrigschwellig tausendfach repliziert werden kann und so eine fast selbstverständliche, standardmäßig Verbreitung findet. Hier geht es um Vermittlung und Ideologisierung, um mit Influencerfreundlichkeit präsentierte Menschenfeindlichkeit. Selbst wenn nur ein paar tausend junge Menschen Osama bin Laden für den Moment eines Nach-unten-Swipens okay und normal finden, sind das ein paar tausend zu viel – da nutzt es nicht zu wissen, dass Taylor Swift am selben Tag wesentlich mehr Menschen erreicht hat.

Wir konnten bei der rechtsextremen Verschwörungsbewegung QAnon hervorragend beobachten, wie sich aus einer Geschichte über Kinderblut, Pizza und Verjüngungsserum, die 2017 als troll- und shitposting auf „4chan“ begann, eine Bewegung manifestierte, deren Anhänger drei Jahre später versuchten, in den Bundestag einzudringen und ein Jahr später das Capitol in den USA gestürmt haben. Wir brauchen andere Kategorien, auf deren Grundlage wir Ideologisierungs-Videos besser einordnen können, als bloß die üblichen Viral-Kategorien der Trending Pages. Mögliche Wirkung und Inhalt müssen in diese Reichweitengleichung mit rein.

Ein bisschen Hass wiegt schwerer als viel Harmloses. Ein bisschen Hass verbreitet sich anders als viel Harmloses. Ein virales Tanzvideo bringt keinen Menschen dazu, ein Haus anzünden zu wollen – ein nischiges Propagandavideo aber, das mit sympathischem Gesicht Terrorismus relativiert, normalisiert und affirmiert, muss nur einen Menschen erreichen, der glaubt mithilfe der ihm vorgestellten Ideen Resonanz zu erfahren.

Wie gesagt: „Bin Laden abfeiern“ hatte ich nicht auf meiner Tiktok-Bingo-Karte 2023 – nun bin ich immerhin gespannt auf den Erweckungsbericht einer Influencerin über ihre augenöffnende Lektüre von „Mein Kampf“.

2 Kommentare

  1. Kleiner Hinweis:

    …wie ein Terrorist zwei Jahrzehnte nach seinem Tode…

    Ganz so lange ist das nicht her: Bin Laden starb 2011.

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