Axel Prahl, Patti Smith und T.C. Boyle teilen ein tragisches Schicksal. Allen dreien wurde in den vergangenen Wochen der linke Arm amputiert, mitunter auch mehr. Auch Schriftsteller Heinz Strunk, „Silbermond“-Sängerin Stefanie Kloß und Lyriker Joachim Sartorius wurden jüngst die Gliedmaßen abgetrennt – und zwar von den Layout-Verantwortlichen der „Nürnberger Nachrichten“ (NN). Das geht seit Jahren so.
Auf Seite Eins, ganz oben neben dem Titel, bewirbt die Nürnberger Lokalzeitung täglich Geschichten, die weiter hinten im Blatt erscheinen. Anteasern heißt das im Medienfachsprech. Wie viele andere Zeitungen nutzen die NN dafür Freisteller: eine Form der Bildbearbeitung, bei der das Motiv – meist ein Porträt – ausgeschnitten ist. Der Text fließt drum herum. Ein visueller Trick: Er lenkt den Blick auf die Personen, wirkt großzgügig; früher haben sich das nur hochwertige Magazine geleistet, irgendwann griffen auch Tageszeitungen diesen Look auf.
So auch die NN vor ein paar Jahren, als Teil des großen Relaunchs: eine Frischekur fürs Zeitungslayout, mit der ein Verlag gerne zeigt, wie wichtig ihm die eigene Zukunft ist. Aber entweder die Redaktion hat nicht verstanden, wieso sie sich das damals überlegt hatte. Oder sie hat es schnell wieder vergessen.
Mit dem Start des neuen „modernisierten“ Looks am 8. April 2019, das eine „einfachere und übersichtlichere“ Lektüre versprach, erschien auch der erste Freisteller auf der Titelseite: der Kopf von Fußballfunktionär Robert Palikuća samt Schulter, ordentlich aus dem Foto ausgeschnitten. 1) Ich finde es hier okay, dass die andere Schulter abgeschnitten ist, weil sie mit der Linie des Formats abschließt.
Damals, am Tag des Relaunchs, hieß es noch in der Zeitung:
„Die Technik- und Layout-Experten guckten uns bei der Produktion kritisch und penibel über die Schulter, damit auch alles passt.“
Eine gute Woche lang ging das gut – bei der damaligen Staatsministerin Dorothee Bär war die freie Schulter ja sogar Teil der Nachricht, was man deshalb grafisch durchaus als gelungen bezeichnen kann. (Dass die Meldung an sich sexistisch ist, blenden wir hier mal aus.)
Doch dann guckten die „Layout-Experten“ wohl nicht mehr zu und bei den NN ließ man die Sache mit der Bildbearbeitung schleifen. Der erste Sündenfall geschah am 12. April 2019, als die Redaktion dem damaligen Nürnberger Wirschaftsreferenten die Schulter abschnitt. Zu den prominenteren ersten „Opfern“ zählten auch Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, und die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Nicht nur zahlreiche Prominente, auch Persönlichkeiten aus der Region wurden und werden seitdem grafisch brutal verstümmelt – und das beinahe täglich. Besonders zugerichtet wurde kürzlich dieser Unternehmer.2)Die Idee des Freisteller-Teasers wird aus meiner Sicht auch dann schon ad absurdum geführt, wenn man eine Person auswählt, die man nicht sofort erkennt. Denn wie will man den Leser denn sonst catchen? Aber das nur am Rande.
Grausam.
Wie ein korrekter Freisteller aussieht? Hier als plakatives Beispiel zwei Porträt-Versionen unserer Übermedien-Kolumnistin Samira El-Ouassil:
Dabei ist die redaktionelle Leistung überschaubar: Es gilt, ein Foto auszuwählen, auf dem die abgebildete Person nicht schon im Original angeschnitten ist.
Natürlich kann man argumentieren, dass das eine Kleinigkeit ist. Ja, es gibt Wichtigeres als Freisteller auf der Titelseite einer Tageszeitung. Aber man muss auch einmal über Layout und Grafik sprechen. Schließlich besteht Zeitung – und das gilt auch für Magazine online – nicht nur aus Text, sondern auch aus optischen Elementen. Wie ein Text angeordnet ist, wie er sich zwischen Fotos, Titeln, Zwischentiteln, Infokästen einfügt, spielt eine Rolle. Wäre da nur Bleiwüste, wer würde das schon gerne lesen?
Deshalb halte ich auch immer dagegen, wenn sich jemand nach einem Relaunch echauffiert, es stünden weniger Buchstaben im Blatt. Denn, ja, ein „luftigeres“ Layout ist oft wirklich besser. Weniger Buchstaben heißt nicht weniger Journalismus. Außerdem schadet Kürzung den meisten Texten nicht – im Gegenteil.
Aber die Armlosen von Seite Eins der NN stehen symbolisch für eine Entwicklung, die viele Redaktionen betrifft: Redakteure übernehmen die Aufgaben von Grafikern – einerseits aus Kostengründen, andererseits ist dank neuer Programme Bildbearbeitung einfacher als früher.
Als noch Profis die Bilder bearbeiteten
In den frühen 2010er Jahren, als ich bei der „Mittelbayerischen Zeitung“ in Regensburg volontiert habe, war das so: Dort gab es damals schon Freisteller im Blatt, der Chef vom Dienst wachte streng darüber, dass sie gut aussahen. Wählte jemand Fotos dafür aus, die nichts taugten, hätte er denjenigen auch am liebsten etwas abgetrennt. Den Kopf zum Beispiel.
Die Gefahr dafür war auch deshalb gering, weil Redaktionsmitglieder die Fotos gar nicht selber bearbeiteten. Sie haben sie ausgewählt und „in die Grafik” geschickt. Dort haben eine Fotografin und eine Grafikerin die Motive mit einem Bildbearbeitungsprogramm freigestellt, das nur sie bedienten. Spätestens sie hätten bei einem unpassenden Bild Alarm geschlagen.
Dass Patti Smith und Heinz Strunk in den „Nürnberger Nachrichten“ nun die Arme fehlen, mag also auch eine Folge der Demokratisierung von Grafikwerkzeugen sein. Diese Entwicklung ist im Kern nicht nur schlecht. Programme wie „Canva“ machen es für alle kinderleicht, Bilder zu bearbeiten. Ein Klick und schon ist ein Porträt freigestellt – auch wenn das Ausgangsbild nicht dafür taugt. Auch wir bei Übermedien nutzen das Tool, zum Beispiel für unseren Instagram-Kanal. Auch wir machen sicher einiges, das Grafik-Profis besser können. Aber wir geben uns zumindest Mühe.
Liest ja sowieso niemand
Das alles soll nicht heißen, dass man Redakteuren und Redakteurinnen bestimmte Layout- oder Grafik-Aufgaben überhaupt nicht zutrauen kann. Natürlich ist es immer am besten, wenn die, die fürs Optische verantwortlich sind, das auch gelernt haben. Hauptsache aber, der Sinn von Design gerät nicht aus dem Blick. Denn auch ein Freisteller erfüllt einen Zweck.
Andernfalls wirkt so ein lieblos hingeklatschter Zeitungskopf mit ohne Arm bzw. Schulter in Zeiten rasant sinkender Auflagen – vor allem im Lokalen – nur noch wie das Sinnbild von Resignation. Nach dem Motto: Nimm irgendwas, uns liest ja sowieso bald niemand mehr. Eine Zeitung rettet man so jedenfalls nicht, da kann man sich jeden Relaunch sparen.
Mehr Wertschätzung für Grafik und Layout wäre ein Anfang. Schließlich geht es gerade bei Printprodukten nicht nur darum, was drin steht. Sondern auch darum, wie sie sich anfühlen und wie sie gestaltet sind. Um Lust zu bekommen, sie überhaupt noch zu lesen.
Sie haben weitere Grafik- oder Layout-Unfälle beobachtet? Dann schreiben Sie mir eine E-Mail. Betreff: Ein Herz für Freisteller. Freue mich auf Ihre Hinweise!
Die Autorin
Lisa Kräher ist Redakteurin bei Übermedien. Sie hat bei der „Mittelbayerischen Zeitung“ volontiert und von 2013 an als freie Journalistin und Filmautorin gearbeitet, unter anderem für epd. Sie ist Autorin für die „Carolin Kebekus Show“ und Mitglied der Grimme-Preis-Jury.
Die Idee des Freisteller-Teasers wird aus meiner Sicht auch dann schon ad absurdum geführt, wenn man eine Person auswählt, die man nicht sofort erkennt. Denn wie will man den Leser denn sonst catchen? Aber das nur am Rande.
1 Kommentare
Ich sehe keine angeschnittenen Schultern, nur welche, die von einer weißen Fläche überdeckt sind. Soll man für die Sichtbarkeit der Schultern jetzt die Bilder so klein ziehen, dass sie nicht mehr erkennbar sind? Im Sinne der Barrierearmut wurde ich für größere Gesichter plädieren. Natürlich ist die Layoutentscheidung diskutabel. Bilder sind aber immer nur Ausschnitte. Auf meinem Passfoto fehlen auch meine Schultern.
Ich sehe keine angeschnittenen Schultern, nur welche, die von einer weißen Fläche überdeckt sind. Soll man für die Sichtbarkeit der Schultern jetzt die Bilder so klein ziehen, dass sie nicht mehr erkennbar sind? Im Sinne der Barrierearmut wurde ich für größere Gesichter plädieren. Natürlich ist die Layoutentscheidung diskutabel. Bilder sind aber immer nur Ausschnitte. Auf meinem Passfoto fehlen auch meine Schultern.