Gute Dokumentationen

Wo Neonazis die Mitte der Gesellschaft sind

Zwei Formaten von rbb und MDR gelingt es, das Problem rechtsradikaler Normalität in Teilen Ostdeutschlands eindrücklich und tiefgründig zu durchleuchten. Vor der Folie der linksextremen Gewalt der letzten Tage versteht man danach deutlich besser, wie staatliches Versagen, Ohnmacht und die Gewaltspirale zusammenhängen.


Spätestens seit dem vergangenen Wochenende geht es in deutschen Leitmedien wieder um linksextreme Gewalt: In Leipzig haben Sympathisant:innen der zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilten Lina E. (und ihrer von einigen Medien „Hammerbande“ genannten Gruppe linksextremer Gewalttäter) randaliert. In der „Bild“ wird die Gruppe bereits zu einer neuen RAF stilisiert – Fahndungsfotos flüchtiger Tatverdächtiger mit vollem Namen inklusive. In der FAZ befindet Kommentator Philip Eppelsheim, das linke Spektrum sei eben „auf dem linken Auge blind“, während Anne Hähnig, Redaktionsleiterin der „Zeit im Osten“, hofft, die harten Urteile mögen eine mäßige Wirkung haben, denn: „Harmlos sind sie lange nicht mehr“ – gemeint sind die Linksextremen.

Über diesem Aufschrei gingen zwei journalistische Formate etwas unter, die die andere Seite des vornehmlich ostdeutschen Gewalt-Problems zeigen und zum Besten zählen, was in den vergangenen Jahren über Rechtsextremismus in Deutschland zu sehen und zu hören war. Denn im Gegensatz zu manchen Kolleg:innen, bei denen man den Eindruck hat, dass sie zwar von „Baseballschlägerjahren“ sprechen, wenn es um die 1990er geht, aber gleichzeitig so tun, als sei die Nazi-Gewalt irgendwie Vergangenheit, zeigen diese aktuellen Produktionen, wie die Verhältnisse dort sind, wo die AfD bei 30 Prozent und mehr liegt.

Hitlergrüße und Drohungen – aber normal

Ganz normal: rechtsradikal

Die Reportage „Ganz normal rechtsradikal“ der Redaktion des rbb-Politmagazins „Kontraste“ nimmt kürzlich aufgetauchte Bilder von Schüler:innen aus Cottbus, die den Hitlergruß zeigen, zum Anlass, sich in der Region genauer umzuschauen. Nachdem ein Lehrer und eine Lehrerin aus Burg im Spreewald in einem Offenen Brief von einer Vielzahl rechtsextremer Vorfälle an ihrer Schule berichteten, tun sie dies nun auch vor der Kamera. Was anschließend in relativ kurzer Recherchezeit alles zutage kommt, ist beachtlich: Es entfaltet sich ein beklemmendes Bild einer Region, in der Neonazis längst an allen Stellen der Gesellschaft sitzen.

Als das Team vor der Eisdiele eines bekannten Rechtsextremisten dreht, werden sie von einem ganz normalen Gast des Cafés direkt angepöbelt und bedroht: Es sei „die Presse, die hier immer wieder für Unruhe sorgt im Ort. Und nichts anderes. Da brauchen Sie gar nicht so zu gucken. Sie sind nicht von hier. Und das sage ich Ihnen ganz ehrlich. Seien Sie sehr vorsichtig, was Sie hier in diesem Ort sagen und tun.“ Letzteres sei keine Drohung, sondern ein „Hinweis“.

Wie muss man sich das Klima in einem Ort vorstellen, in dem normale Bürger es als ihre vornehmste Pflicht sehen, Journalist:innen solche „Hinweise“ zu geben?

Es ist nicht das einzige Mal, dass das Team während der Dreharbeiten bedroht oder angegriffen wird: Mal stürmt ein Mitarbeiter des „Deutschen Hauses“ in Burg mit den Worten „Ich schlag Dir in die Fresse. Ich meine es ernst. Ihr kriegt alle paar ins Maul!“ auf die Kamera los, mal kommt es zum Konflikt mit einem Neonazi-Kampfsportler. Dieser verbittet sich Filmaufnahmen des „Deutschen Hauses“, obwohl die Reporter lediglich das Gebäude von der Straße aus filmen, sich also im öffentlichen Raum aufhalten. Als der Reporter ihn darauf hinweist, dass er der Presse keine Vorschriften machen könnte, kommt es zu einem interessanten Dialog:

„Doch kann ich.“

„Nein, können Sie nicht.“

„Doch, kann ich, wie man es ja gerade sieht.“

Am Ende gibt das Team nach und nimmt die Kamera runter; im Film heißt es, dass in Burg offenbar die Rechtsradikalen bestimmten, wie weit die Pressefreiheit geht.

Ein rechtsradikal bestimmter Alltag

Und so bestimmen sie weite Teile des sonstigen Alltags: „Ein großer Teil der Schüler an unserer Schule hat rechte Gedankengänge und vertritt diese“, berichtet ein mutiger Schüler mit anderer Gesinnung, von dem man hofft, dass er in der Zwischenzeit nicht drei Mal zusammengeschlagen wurde. Neonazis betreiben Klamottenläden in der Innenstadt und Versand-Modelabels. Einer hat eine Baufirma, der andere die größte Disko am Platz – und wer Secruity für eine Veranstaltung braucht, kommt an der Braunzonen-Mischung aus Hells Angels, Neonazis und anderer organisierter Kriminalität eh nicht vorbei, wie rbb-Reporter Sebastian Schiller eindrucksvoll schildert.

Womit wir bei der Justiz wären: Nachdem ein bekannter Rechtsextremist mit Hakenkreuz-Tätowierung an Silvester 2016/17 einen afghanischen Asylbewerber zu Boden reißt und immer wieder auf ihn eintritt, auch als dieser bereits wehr- und bewusstlos am Boden liegt, dauert es fünfeinhalb Jahre, bevor der Mann vor Gericht steht. Dort erhält er zwei Jahre auf Bewährung. Ein Urteil, das so milde ist, dass der Bundesgerichtshof es aufhebt. Das Brandenburger Gericht habe mildernde Umstände wie Alkoholkonsum und lange Verfahrensdauer unzulässig stark gewichtet. Zur Neuverhandlung ist es bislang nicht gekommen, der Gewalttäter ist auf freiem Fuß.

Auch auf ganz anderen Ebenen geht es weiter: Der Betreiber des „Deutschen Hauses“, Daniel G., wird vom Brandenburger Verfassungsschutz als zentraler Akteur der rechtsextremen Szene eingestuft. Für den Kauf seiner Immobilie erhielt er vom örtlichen Sparkassen-Direktor dennoch sage und schreibe 700.000 Euro Kredit – vollfinanziert. Der Direktor, der sich nicht äußern will, ist „zufällig“ der Ex-Präsident des Fußballvereins Energie Cottbus, in dessen Fanszene sich ebenfalls seit Jahrzehnten organisierte Neonazis tummeln – darunter Daniel G.

Mit entwaffnender Ehrlichkeit kommentiert Jörg Müller, der Leiter des Verfassungsschutzes Brandenburg, er glaube nicht, dass er selbst „einen Kredit in dieser Summe bekommen hätte“. Den stadtbekannten Rechtsextremen aber wollen Sparkasse und Direktor nicht gekannt haben. Angesichts der Hilflosigkeit selbst des Verfassungsschutzes fällt es nach dieser Szene schwer, noch an die Existenz der wehrhaften Demokratie und des Rechtsstaats in Südbrandenburg zu glauben.

Am Ende des Films verleihen die Autor:innen ihrer Hoffnung Ausdruck, die Zivilgesellschaft stünde nun endlich auf. Das wirkt angesichts der gezeigten Zustände allerdings ein wenig bemüht konstruktiv für den ansonsten schonungslosen und glänzend recherchierten Film.

Ein Justizversagen jagt das nächste

Podcast-Vorschaubild EXTREM RECHTS

Um die Justiz geht es auch im aufwendig produzierten MDR-Podcast „Extrem rechts – der Hass-Händler und der Staat“, von dem bislang drei von sechs Folgen erschienen sind. Präziser geht es um die Frage, warum der bekannte Hallenser Rechtsextremist Sven Liebich trotz hunderter Strafanzeigen und 300 anhängigen Verfahren so selten verurteilt wird, warum Ermittlungsverfahren immer wieder eingestellt werden, warum die Staatsanwaltschaft Vorwürfe und Berufungen fallen lässt und wie es Liebichs Opfern damit geht. Natürlich muss man die Ausführlichkeit eines solchen Podcast-Projekts goutieren können – und ich hätte es begrüßt, wenn die Autor:innen ihre zentralen Ergebnisse auch kompakter präsentiert hätten.

Aber auch hier gelingt es, atmosphärisch dicht vom Vertrauensverlust in den Staat zu berichten, etwa wenn der von Liebich beleidigte Torsten Hahnel erzählt:

„Natürlich ist es richtig, als Betroffener oder Betroffene einer Straftat davon auszugehen, dass der Rechtsstaat in der Lage ist, dafür zu sorgen, dass der Täter es nicht mehr tut. Gleichzeitig weiß ich aus der Erfahrung der letzten Jahre, dass genau das nicht passiert. […] Diese Erfahrung als Betroffener im Prinzip nach so langer Zeit gesagt zu bekommen, ‚Nee, das interessiert uns nicht als Staat.‘ Das heißt das im Endeffekt: Du wirst kein Recht bekommen und der Täter kann weitermachen. Das ist das Resultat, ist so frustrierend, dass ich, dass man wirklich überlegen muss, was ist die Alternative? Was soll man Leuten noch raten? Ich kann es im Moment nicht beantworten, tatsächlich nicht.“

Dieser Ratlosigkeit lassen sich – angefangen beim NSU – viele weitere Momente staatlichen Versagens hinzufügen: Am 11. Januar 2016 überfielen etwa 250 Neonazis den linken Leipziger Stadtteil Connewitz, warfen Schaufensterscheiben ein, zerstörten 19 Autos, verwüsteten 23 Geschäfte und verletzten und bedrohten mehrere Personen. Trotz 214 Festnahmen begann der erste Prozess in Leipzig erst 2018. Verhandelt wurde ausschließlich wegen schweren Landfriedensbruchs, während Körperverletzungen außen vor blieben.

Auch fünf Jahre später hatten mehr als 60 Angeklagten noch immer nicht vor Gericht gestanden und die bis heute Verurteilten erhielten fast alle Bewährungsstrafen und Geldstrafen.

Ebenfalls beteiligt waren Mitglieder der zwischenzeitlich aufgelösten Dresdener Hooligan-Bande „Faust des Ostens“. Gegen die Gruppierung fand bereits 2012 eine Razzia statt, das Verfahren gegen die führenden Köpfe der Gruppe war seit 2013 anhängig. Doch es dauerte bis 2021, ehe der Prozess vor dem Landgericht Dresden geführt wurde, wobei Mitglieder der Gruppierung in der Zwischenzeit zahlreiche weitere Straftaten verübten. Verurteilt wurden schließlich drei Personen wegen Mitgliedschaft und Rädelsführerschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie gefährlicher Körperverletzung. Und zwar zu 1500 Euro Geldstrafe sowie in einem Fall sieben Monate Haft auf Bewährung, wovon fünf wegen der langen Verfahrensdauer bereits als vollstreckt galten. Der Unterschied zum Vorgehen gegen die kriminelle Vereinigung um Lina E. könnte größer kaum sein.

Gewalt als Erfolgsmodell

Nein, die Ursachen für die Gewaltexzesse der Gruppe um Lina E. oder des Leipziger Wochenendes sind nicht von der seit Jahrzehnten in Ostdeutschland anhaltenden Neonazi-Gewalt zu trennen. Textzeilen wie „Wer soll Dich beschützen? Ostdeutsche Polizisten?“ der aus Chemnitz stammenden Band Kraftklub kommen nicht von ungefähr. Dass sich die Gewalt-Gang in Leipzig gebildet hat – und nicht zum Beispiel in Düsseldorf – und unter anderem in Eisenach und Wurzen zuschlug, ist kein Zufall.

Wer heute wohlfeile Kommentare über die „neue linksextremistische Gefahr“ schreibt, sollte sich daher fragen, woher diese Gefahr vor allem im Osten unter anderem rührt. Natürlich ist Neonazi-Gewalt keine Legitimation für Selbstjustiz und eigene Gewaltverbrechen, aber dass Gewalt Gegengewalt erzeugt, wenn ihr kein Einhalt geboten wird, ist eine Binse – genau deswegen hat der Staat das Gewaltmonopol. Was aber passiert, wenn er davon kaum Gebrauch macht, sondern die eigenen Institutionen von Schule über Polizei über Justiz bis hin zum Sparkassendirektor in bestimmten Regionen über Jahrzehnte von Neonazis unterwandert oder eingeschüchtert oder anderweitig korrumpiert werden, erfährt man sowohl in der „Kontraste“-Reportage als auch im MDR-Podcast authentisch und eindrücklich.

Es herrscht dort mittlerweile ein gesellschaftliches Klima, in dem Menschen jegliches Vertrauen verloren haben, dass dieser Staat sie vor kriminellen und brandgefährlichen Neonazi-Gewalttätern schützen kann oder will. In Gegenden, wo schon Hans und Franz Journalist:innen bedrohen, haben Menschen, die links, schwul, schwarz oder anderweitig nicht „deutsch“ genug für eine bestimmte Klientel sind, noch ganz andere Probleme. Zuwanderer, Gebildete und junge Frauen stimmen längst mit den Füßen ab, die wirtschaftliche und demografische Entwicklung sind entsprechend schlecht.

All das rechtfertigt, wie gesagt, keine Gewaltverbrechen, aber das Ohnmachtsgefühl gegenüber dem rechtsextremen Alltag, das diesen zugrunde liegt, ist ebenfalls offensichtlich. Wie sagte der von Beleidigungen und Bedrohungen betroffene und vom Rechtsstaat alleingelassene Torsten Hahnel: „Was soll man Leuten noch raten?“

6 Kommentare

  1. Gab es eigentlich irgendwann einmal eine Zeit, in der Burg nicht das Naziloch war, als das es hier zu Recht porträtiert wird? Erinnern kann ich mich jedenfalls nicht.

    Danke für die Sendehinweise.

  2. Derweil wurden in Leipzig 1000 linke Demonstranten auf einer genehmigten Demo für bis zu 11h gekesselt, weil einige wenige Vermummte Steine warfen.
    1000 neue Fälle für die nächste Statistik politische Gewalt links.
    Irgendwas muss man ja gegen das Ungleichgewicht in den letzten Statistiken tun.
    Dieses Land hat nichts aus der Geschichte gelernt. Nicht das Geringste.

  3. Vielleicht sollten die Anwält:innen von Lina E. mal den ominösen Art 20 IV GG bemühen – das Widerstandsrecht gegen jeden, der die freiheitlich demokratische Grundordnung beseitigen will. In weiten Teilen Ostdeutschlands ist angesichts der Totalausfälle der Staatsorgane sowie eines fehlenden gesellschaftlichen Korrektivs genau diese Ordnung in Gefahr oder schon beseitigt.
    Aus eigener Erfahrung kann ich Sachverhalte schildern, die einem kaum jemand glauben mag. Und ja: gehen sie davon aus, dass die, die klar Stellung beziehen, regelmäßig Gewalt ausgesetzt sind.

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