Ein berühmtes Gedicht Ernst Jandls mit dem Titel „Eine Fahne für Österreich“ lautet kurz und bündig: „rot / ich weiß / rot“. Am 3. Mai erschienen fast alle österreichischen Tageszeitungen ohne ihr gewohntes Rot, mit ausschließlich weißen Titelblättern. Wie die Zeitungsverleger in einem offenen Brief erklärten, handelte es sich bei dieser über Österreichs Grenzen hinaus beachteten Intervention um eine Protestaktion gegen den Entwurf eines neuen ORF-Gesetzes, von dem die Zeitungsverlage befürchten, es werde den Markt zu ihren Ungunsten verzerren.
Ein Urteil des Verfassungsgerichts hatte eine Neuordnung der ORF-Finanzierung nötig gemacht. Statt einer von der EU als unerlaubte Beihilfe eingestufte Gebühr wird nun eine Haushaltsabgabe eingehoben, was die Kosten für die Einzelnen leicht senkt, aber mehr Menschen erreicht und so die finanzielle Situation des ORF zumindest vorübergehend verbessert (der Sender beklagt jahrelange Nicht-Abgeltung der Inflation). Zugleich sollen Beschränkungen wie jene der bloß siebentägigen Online-Speicherung von Sendungen aufgehoben und auf 30 Tage ausgeweitet werden.
Da solchen Gesetzesänderungen das übliche Gefeilsche voranging, war es Interessenvertretern der Zeitungsverlage bereits im Vorfeld gelungen, ein Beschränkung des erfolgreichen Online-Angebots des ORF, der „blauen Seiten“ von orf.at durchzusetzen: Diese dürfen fortan nur mehr 350 Textmeldungen pro Woche bringen, statt bisher etwa 1000.
Besonderer Humor
Die Verleger behaupten, mit dieser Maßnahme der Pressefreiheit zu dienen.
Sie kastrieren eines der besten Medien auf dem österreichischen Markt und feiern das als Kulturtat. Man muss schon über eine besondere Art von Humor verfügen, um so etwas ernsthaft und im Stil eines Manifestes vorzutragen. Die Chefredakteurinnen und Chefkommentatoren der beteiligten Zeitungen entblödeten sich nicht, das zu tun. Die blauen Seiten seien „zu zeitungsähnlich“, also weg mit Text, her mit mehr Video (muss künftig 70 Prozent des orf.at-Angeots ausmachen). Freie Bahn dem Untüchtigen!
Zwar haben die Verleger mit manchem Recht, was sie gegen den ORF vorbringen. Er befinde sich nach wie vor im Griff der politischen Parteien. Das stimmt, denn die Ergebnisse der Nationalratswahlen entscheiden über die Zusammensetzung des Aufsichtsgremiums, des ORF-Stiftungsrats. Den Vorsitz hat dort momentan der Grüne Lothar Lockl inne, von dem man zu den befremdlichen medienpolitischen Vorgängen kein Wort hört.
Das erschreckend naive Verhältnis des ORF zu den „sozialen Medien“ steht ebenfalls in der Kritik der Verleger. Das Bestreben, junge Zielgruppen zu erreichen, indem man Inhalte auf Tiktok, Youtube und Instagram ausspiele, bedeute nur, die Tech-Konzerne mit gutem öffentlich-rechtlichem österreichischen Geld zu finanzieren. Ein Recht, das die Verleger für sich selbstverständlich in Anspruch nehmen. Die logische Forderung, ein öffentlich-rechtliches soziales Medium mit transparenten Algorithmen sei zumindest wünschenswert und im europäischen Maßstab anzustreben, kommt niemandem in den Sinn.
Eine Art Bananenrepublik
Das alles aber ist möglich, weil Österreich in Medienfragen eine Art Bananenrepublik darstellt. Inseratenkorruption prägt das landläufige Medienverständnis, in dem die Politik die Medien als eine Art Dienstleister betrachtet, während diese die Politik als ihren Financier betrachten. Nicht erst Kanzler Sebastian Kurz, der Liebling der Springer-Presse, stattete Boulevardmedien jährlich mit zweistelligen Millionenbeträgen aus und erntete dafür günstige Berichterstattung. Solche Schutzgeldzahlungen hat vor ihm der sozialdemokratische Kanzler Werner Faymann eingeführt; Kurz hat nur das System radikalisiert.
Die nunmehr „neugeordnete“ Medienförderung ändert an der Finanzierung von Printmedien durch öffentliche Inserate wenig, wenn sie auch die bestehenden Presseförderung aufgestockt und durch eine digitale Förderung ergänzt hat (in der desinformative Dreckschleudern wie die Plattform „Exxpress“ besser gefördert werden als verdienstvolle Rechercheplattformen und schon gar als nichtkommerzielle Medien).
Die Größenverhältnisse sagen alles: Die digitale und die klassische Medienförderung betragen je 20 Millionen Euro im Jahr, das Volumen öffentlicher Inserate von Bund, Ländern und Gemeinden übersteigt 200 Millionen.
Monumentale Ahnungslosigkeit
Die Medienpolitik, repräsentiert durch Medienministerin Susanne Raab (ÖVP), konzipiert von Kurz’ Ex-Medienbeauftragtem und nunmehrigem ÖVP-Kommunikationschef Gerald Fleischmann und nicht gemildert durch deren grüne Koalitionspartnerinnen, zeigte ihre monumentale Ahnungslosigkeit, als sie beschloss, die älteste noch erscheinende Tageszeitung der Welt, die „Wiener Zeitung“, einzustellen. Dieses würdige Organ soll in eine Art digitale Plattform umgewandelt und mit Ausbildungsaufgaben betraut werden, die direkt dem Kanzleramt unterstehen.
Statt zu erkennen, dass dieses Blatt, von der österreichischen Journalismus-Ikone Hugo Portisch als schützenswertes Kulturerbe bezeichnet, bei geringem Aufwand als Muster einer öffentlich-rechtlichen Zeitung dienen hätte können. Von den Verlegern kamen, wenn überhaupt, in diesem Fall nur lahme Missfallensbekundungen. Auch hier galt ihr Motto: Des anderen Unglück sei mein Glück. Freie Bahn den Untüchtigen!
Die Boulevardzeitungen „Österreich“ und „Heute“ erhielten ebenso wie ihre große Schwester „Kronen Zeitung“ jährlich je an die zwanzig Millionen Euro an Regierungsinseraten. Bis auf die Gratiszeitung „Österreich“ nahmen sie alle an der Aktion der weißen Seiten teil.
Dass Medienförderung im Zeitalter desinformativer Gefährdungen tatsächlich notwendig ist, aber als effiziente, transparente, öffentlich gerechtfertigte Marktkorrektur zugunsten jener Medien, die sich um seriösen Journalismus bemühen, mit diesem Gedanken ist weder bei den schutzgeldsüchtigen Medien noch bei der dienstleistungsversessenen Politik eine Auseinandersetzung zu führen.
Auch der ORF tut alles, um sich hier einzupassen, nimmt Postenbesetzungen von Chefredakteuren selbstverständlich im politischen Sinn vor und weigert sich, jegliche Mediendiskussion, gar eine über den eigenen Auftrag, im eigene Progamm zu führen. Wundert sich dann, wenn die rechtsextremen Freiheitlichen, die langst ihre eigene desinformative Medienlandschaft aufgebaut haben, nichts lieber sähen als sein baldiges Ende.
Medienpolitische Kapitulation
Mit Sebastian Kurz war die Schwächung des ORF bereits paktiert, ehe die FPÖ über Ibiza stolperte. Das ist längst vergessen, der neue rechte Spitzenmann und begabte Demagoge Herbert Kickl führt die Umfragen an, möchte Kanzler werden und schmust öffentlich mit Viktor Orbán, den er als Vorbild ihn jeder Hinsicht preist.
Die privaten TV-Betreiber und Verleger fordern weiters, sie sollten sich an den Archiven des ORF bedienen können – gratis und für ihre privaten Zwecke an öffentlichem Eigentum, versteht sich. Den Unterschied zwischen privat und öffentlich-rechtlich lassen sie der Bequemlichkeit halber unter den Tisch fallen. Dass es hier dringend unerzwungener Kooperationen zwischen allen Medien bedürfte, die seriösen Willens sind, scheint kaum jemandem zu dämmern. Die grüne Mediensprecherin Eva Blimlinger verglich die Meucheltat an der „Wiener Zeitung“ mit der Befreiung der Republik vom Nationalsozialismus 1945.
In diesem Gemenge von Ahnungslosigkeit und Bösartigkeit waren die weißen Seiten der Zeitungsverleger vielleicht doch eine sinnfällige Medienaktion: Sie schwenken weiße Fahnen, sie standen für die Kapitulation jeder medienpolitischen und seriösen verlegerischen Vernunft. Sie könnten Jandls Gedicht so abwandeln: „rat / ich weiß keinen / rat.“
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