Der Comedian Felix Lobrecht ist betroffen, die Autorin Angelina Boerger hat ein Buch darüber geschrieben, und auch Übermedien-Kolumnistin Samira El Ouassil berichtete kürzlich im „Spiegel“ über ihre Diagnose: die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Während das Thema an Schulen nicht neu ist, häufen sich die Interviews und Selbsterfahrungsberichte zu ADHS bei Erwachsenen in jüngster Zeit. Woran liegt das? Weil mehr darüber geschrieben wird? Oder weil es tatsächlich mehr ADHS bei Erwachsenen gibt? Und wieso scheinen so viele Medienleute betroffen zu sein?
Unsere Autorin hat mit Johannes Streif, Psychologe und stellvertretender Vorsitzender des Selbsthilfe-Dachverbands ADHS Deutschland, gesprochen.
Überall liest man derzeit über ADHS. Woran liegt das?
Johannes Streif: Zum einen gibt es sehr viele betroffene Kinder und mittlerweile auch Erwachsene. Man rechnet damit, dass ungefähr fünf Prozent der Bevölkerung von ADHS betroffen sind. Zum anderen ist es ein Thema, zu dem viele privat etwas beitragen können, weil sie betroffene Kinder haben, selbst betroffen sind, jemanden kennen oder im Beruf damit konfrontiert sind. Das Thema ADHS ist in der Gesellschaft angekommen.
Gibt es mehr Diagnosen oder mehr Berichte – oder bedingt das einander?
Der Gesprächspartner
Johannes Streif war Mitte der 90er-Jahre einer der ersten Erwachsenen in Deutschland, bei denen die ADHS diagnostiziert wurde. Er ist Psychologe und engagiert sich seit über 20 Jahren beim Selbsthilfeverein ADHS Deutschland e.V., in dem er im Vorstand mitarbeitet und die Pressearbeit verantwortet.
Die Diagnosen haben sicher zugenommen, wobei nicht jede Diagnose automatisch zu einer Therapie oder medikamentösen Behandlung führt. Die Berichterstattung hat auch zugenommen. Aber, und das ist der dritte Faktor, auch die Häufigkeit von ADHS hat zugenommen. Wir wissen heute, dass es sich um eine neurophysiologische Disposition des Gehirns handelt, mit Reizen umzugehen. Und wenn Menschen in einer sehr reizüberfluteten Umgebung aufwachsen, so wie heute durch die ständige Erreichbarkeit mit dem Smartphone, wächst die Voraussetzung dafür, dass sich mehr dieser Symptome zeigen. ADHS ist nichts Pathologisches in dem Sinne, dass das Gehirn sich in seiner Entwicklung verirrt hat. Es ist lediglich eine große Reizoffenheit, die es ermöglicht, auf ganz viele unterschiedliche Reize zu reagieren, es gleichzeitig aber schwer macht, auf einen bestimmten Gegenstand zu fokussieren.
Unser ständiges Scrollen durch Instagram, Tiktok und Twitter kann also dazu führen, dass wir eher ADHS-Symptome entwickeln?
Ich weiß jetzt nicht, ob es das Scrollen durch Instagram oder Twitter ist. Unsere Umwelt bietet insgesamt viel mehr Reize. Der Lärm und die akustische Beschallung haben zugenommen, wir sind aktiver, wir befassen uns mit mehr Dingen und wir verbringen viel mehr Zeit mit Medien. Das wird ja gerne negativ gesehen in dem Sinne, dass es verlorene Zeit ist, wenn man sinnlose Tiktok-Videos anschaut. Aber auch das Hörbuch, das die ganze Zeit läuft, oder das Einschlafen vorm Fernseher sind Formen einer Reizüberflutung.
Was ist ADHS?
ADHS ist die Abkürzung für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Die wichtigsten Symptome sind Aufmerksamkeitsstörungen, Hyperaktivität und Impulsivität. Für Erwachsene, die vermuten, dass sie betroffen sind, bietet die WHO einen ADHS-Online-Test mit sechs Fragen an. Im ADHS Deutschland e. V. gibt es rund 200 Selbsthilfegruppen sowohl für Eltern von ADHS-betroffenen Kindern als auch für betroffene Erwachsene. Diese Gruppen setzen nicht voraus, dass man eine Diagnose hat, sondern einfach, dass man sich mit dem Thema auseinandersetzt.
Das heißt, wir leben in einer Zeit, die begünstigt, dass ADHS bei Menschen auftritt?
Ja, in der evolutionären Entwicklung gehen wir als Gemeinschaft auf eine Situation zu, in der immer mehr Menschen fähig sind, extrem viele Reize zu verarbeiten, um den Preis, sich schlechter auf bestimmte Dinge fokussieren zu können. Das ist nicht unbedingt ein Nachteil, sondern es ist eine Reaktion des Gehirns auf eine Gegebenheit. Wenn wir diese Anpassungsleistung nicht vollbringen könnten, wären wir nicht in der Lage, in Großstädten wie New York zu leben, ohne neurologisch überlastet zu sein durch die ganzen Reize.
Sie setzen sich mit Ihrem Selbsthilfeverein seit über 20 Jahren dafür ein, das Thema ADHS in die Öffentlichkeit zu bringen. Freut es Sie, dass jetzt alle darüber schreiben?
Ja, das freut uns schon. Insbesondere, weil die Berichterstattung über die ADHS in den Massenmedien deutlich besser geworden ist, als sie es noch vor zehn oder zwanzig Jahren war. Als ich in der ADHS-Selbsthilfe begonnen habe, haben viele Pädagogen diese Art von Verhaltensauffälligkeit als ein soziales, familiäres Problem gesehen. Da hat sich sehr viel positiv entwickelt, hin zu einem realistischeren Verständnis von dem, was ADHS ist.
ADHS sei eine Erfindung der Pharma-Industrie – das ist ja auch so ein Narrativ, das öfter auftaucht.
Es ist aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive klar, dass ADHS keine Erfindung der Pharmaindustrie ist. 1932 veröffentlichten die Psychiater Franz Kramer und Hans Pollnow in der Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie einen Artikel über ADHS, damals noch „hyperkinetische Erkrankung des Kindesalters“ genannt. In dieser Zeit war die Behandlung durch die heute gebräuchlichen Medikamente noch meilenweit entfernt. Als daraus ein Markt wurde, haben sich immer mehr Unternehmen in dem Bereich engagiert.
Hilft es bei der Entstigmatisierung, wenn jetzt auch Promis über ihre Diagnose sprechen?
Ich glaube schon. Ich habe aber Zweifel, ob es in der Gesellschaft überhaupt noch einen sehr stigmatisierenden Blick auf ADHS gibt. Es gibt sicher noch Stigmatisierung unter bestimmten Eltern, wenn sie erfahren, dass ein Klassenkamerad ihres eigenen Kindes ADHS hat und sie schon mal bei einer Geburtstagsparty erlebt haben, dass dieses Kind besonders laut oder anstrengend ist. Aber die meisten Menschen sehen und akzeptieren ADHS mittlerweile als anerkanntes psychiatrisches Störungsbild. Das eigentliche Stigma der Betroffenen ist weniger, dass man in der Gesellschaft ein negatives Bild von ADHS hat, als dass Betroffene problematische Verhaltensweisen in der Gemeinschaft zeigen und deswegen ausgegrenzt werden – gerade, wenn sie stark hyperaktiv sind.
Das heißt, so gesehen ist es gar nicht so mutig sich als ADHS-diagnostiziert zu outen?
Nein. Das wäre vielleicht noch mutig, wenn man Pilot bei einer Fluggesellschaft ist. Aber ich glaube, für die meisten Menschen ist es heute keine Form von Outing mehr. Viele Prominente kokettieren heute eher damit, weil es eine Erklärung abgibt, warum man sich in der einen oder anderen Weise verhält.
Nun sind ja manche Symptome sehr allgemein. Ich bin auch mal vergesslich oder unkonzentriert oder gestresst oder komme zu spät. Wenn Sie die vielen Selbsterfahrungsberichte von Nutzerinnen und Nutzern lesen, denken Sie dann manchmal, das ist gar kein ADHS?
Durchaus. ADHS definiert sich über eine ganze Liste von Symptomen, die in Gemeinschaft auftreten müssen. Zu finden sind sie in der ICD, der Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation. Wenn ich ein Einzelsymptom herauspicke und sage, ich bin vergesslich, also habe ich ADHS, dann ist es eben nicht die ganze Diagnose, sondern nur ein Bruchteil davon.
Auf Tiktok gibt es eine große Community von Menschen, die sich über ADHS austauschen. Eine Nutzerin gab Tipps, wie man dem Arzt am besten vermitteln kann, dass man glaubt, eine ADHS zu haben. Sind das alles Betroffene und ist dieser Austausch wirklich wertvoll?
Die Autorin
Annika Schneider recherchiert, moderiert und plant Medienthemen beim Deutschlandfunk und beim WDR. Außerdem schreibt sie für die „Altpapier“-Medienkolumne des MDR.
Ich bin mir sicher, dass das nicht alles ADHS-Betroffene sind. ADHS hat auch Erklärungscharakter für die eigene Geschichte und für bestimmtes Verhalten. Deswegen sind mehr und mehr Menschen daran interessiert, sich mit so einer Diagnose in Verbindung zu bringen. Aber deswegen muss man nicht den ganzen Austausch als Schindluder entwerten. Ich glaube, dass es auch im Sinne der Selbsthilfe wichtig ist, sich damit auseinandersetzen, dass wir durch bestimmte Verhaltensweisen in unserer Gemeinschaft gestresst sind. Wir überlegen: Ist das etwas Normales, das ich akzeptieren muss als eine Variante der Persönlichkeit eines Menschen? Oder ist es etwas Abweichendes? Und wenn es abweichend ist oder mich belastet, gibt es eine Möglichkeit, etwas dagegen zu tun, damit ich wieder zufriedener bin? Wenn jemand aber glaubt, durch den Austausch in sozialen Netzwerken sich selbst die Diagnose stellen zu können und voraussetzt, dass das von allen anderen akzeptiert wird, halte ich das für problematisch.
Eine kanadische Studie hat gezeigt, dass von den 100 beliebtesten Tiktok-Videos zu ADHS mehr als die Hälfte irreführende Informationen enthält. Gleichzeitig berichten viele Nutzerinnen und Nutzer in den Kommentaren von langen Wartelisten bei Psychotherapeuten und Fachärztinnen. Ich sehe also womöglich falsche Infos auf Tiktok und finde dann keinen Arzt, um das professionell abklären zu lassen.
Wenn ich ehrlich bin, glaube ich, dass viele Menschen, die wesentliche Informationen aus dem Internet oder aus sozialen Netzwerken beziehen, beratungsresistent sind. Wir haben den Trend, dass Menschen sich eine Zweitmeinung und Drittmeinung einholen, bis sie irgendwann mal bei dem Arzt, der Ärztin, dem Experten landen, der das attestiert, was sie an sich selbst erkannt zu haben glauben.
Aber wo kommen die Falschinformationen her?
Die Algorithmen in sozialen Netzwerken führen dazu, dass Beiträge, die viel Aufmerksamkeit bekommen, weiteren Leuten angeboten werden. So verbreiten sich subjektive Sichtweisen auf das eigene Befinden, die mit ADHS in Verbindung gebracht werden, als Wahrheiten über ADHS. Dadurch werden falsche Vorstellungen geweckt.
Sie haben soeben gesagt, dass ADHS für manche Menschen auch als willkommener Erkläransatz dienen kann für Probleme. Was meinen Sie damit?
Der positive Aspekt einer ADHS-Diagnose im Erwachsenenalter ist, dass manche Menschen, die viel durchgemacht haben, eine Erklärung für ihre Probleme finden. Das kann nicht nur eine Entlastung sein, sondern auch eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den eigenen Unzulänglichkeiten und dem Wunsch, daran etwas zu verändern. Der negative Aspekt ist, dass Menschen in der Rückschau auf ihre Biografie oder zur Erklärung von nicht angemessenem Verhalten auf die Störung verweisen, nach dem Motto: Ich bin impulsiv, ich bin unaufmerksam und die anderen müssen mich so akzeptieren, wie ich bin. Das ist vor allem problematisch, wenn mit einer gewissen Selbstverständlichkeit eine Toleranz der Umwelt eingefordert wird.
Nun habe ich viele Erfahrungsberichte gelesen, gerade auch von Journalistinnen und anderen Menschen, die in der medialen Öffentlichkeit stehen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Berufswahl und der Diagnose?
Darüber wird schon lange spekuliert. ADHS-Betroffene haben sicher die Tendenz, Berufe zu wählen, die viel Abwechslung bieten und viele Veränderungen mit sich bringen. Der ADHS-Betroffene ist nicht prädestiniert für einen Bürojob in einem Großraumbüro, aber vielleicht durchaus geeignet für einen Job, in dem man als Journalist recherchiert oder sich im Kabarett als jemand präsentiert, der spontan reagieren kann. Und wo vielleicht auch Impulsivität, bisweilen auch eine Grenzüberschreitung, mehr toleriert wird als in anderen Berufen.
Ist ADHS eine Krankheit, eine psychische Störung oder – wie jetzt auch manchmal zu lesen ist – ein Identitätsmerkmal?
Als ADHS ist es per Definition zunächst einmal eine Störung, und die stark von der ADHS Betroffenen sehen es immer noch ganz klar so. Ich kenne niemanden, der eine ausgeprägte ADHS-Symptomatik hat, und sagt: Das ist das, was ich mir immer gewünscht habe. Ich will derjenige sein, der in der Schule die ganze Zeit nichts mitbekommt oder dem es später nicht gelingt, eine längerfristige Partnerschaft aufrechtzuerhalten, weil man immer wieder Dinge sagt und tut, die in einer Partnerschaft nicht tolerabel sind. Dass wir heute parallel dazu diese Diskussion um Neurodiversität haben, hängt aus meiner Sicht stark damit zusammen, dass inzwischen nicht mehr nur die ganz krassen Fälle im Fokus stehen, sondern auch die schwächeren Fälle. Leute, die es in der Gesellschaft geschafft haben, aber auf dem Weg dorthin Probleme hatten und das jetzt rückblickend als eine Form ihrer Identität akzeptieren können: Ich bin diese ADHS-Person – ich bin lustig, ich bin spontan. Während niemand von sich sagen würde: Ich bin dieses extrem impulsive Rumpelstilzchen, das Leute niedermacht und sich ständig in Schwierigkeiten bringt. Da ist irgendwann eine Grenze erreicht, wo die meisten das nicht mehr als Teil von sich selbst begreifen würden, sondern als ein Problem.
Sie waren einer der ersten Erwachsenen in Deutschland, bei denen ADHS diagnostiziert wurde. Wie stehen Sie zu Ihrer ADHS heute?
Ich sehe sie tatsächlich als einen Teil von mir. Insofern ist ADHS vielleicht auch Teil meiner Identität, weil ich sonst etwas leugnen würde, was mein Leben mitbestimmt. Aber dazu gehört auch die Akzeptanz, dass man in bestimmten Bereichen nicht so gut ist, wie man sich das wünscht. Es gibt auch immer den Teil an mir, wo ich sage: Mist, das hätte ich so nicht sagen oder tun sollen.
8 Kommentare
Schönes Interview, auch wenn ich das „auf einmal“ etwas übertrieben finde.
Ich kenne viele mit ADHS, bzw., ich keine viele, von denen ich es weiß, und ich bin nicht auf TikTok.
Ein wesentlicher Aspekt von ADHS geht hier meines Erachtens etwas unter. ADHS zeichnet sich durch ein Ungleichgewicht von Dopamin aus, das dazu da ist, Motivation und Antrieb zu steuern. Es ist also nicht so, dass Menschen mit ADHS sich nicht konzentrieren können, sie können nur schlechter steuern, worauf sie sich konzentrieren. Vereinfacht gesagt sind sie dauernd auf der Jagd nach dem nächsten Dopaminkick, also auf der Suche nach neuen, spannenden Dingen. Zu sagen, dass Social Media die Entwicklung von ADHS-Symptomen begünstigt, halte ich für eine Aussage, die schnell fehlinterpretiert werden kann. Ich stelle gerade fest, dass viele spät diagnostizierte Menschen in meinem Alter ähnliche Verhaltensmuster auch bei ihren Eltern (ADHS ist auch genetisch bedingt) feststellen. Das ist also keine neue Erscheinung, aber die Wissenschaft ist hier schon weiter und wir wissen, dass ADHS nicht nur eine Diagnose für kleine zappelige Jungs ist, sondern viele andere Ausprägungen hat, die bis vor wenigen Jahren gar nicht mit dieser Diagnose in Verbindung gebracht wurde. Dass sich ADHSler gefühlt sehr viel auf Plattformen wie Twitter und TikTok wiederfinden, liegt eben auch daran, dass hier sehr viel in sehr kurzer Zeit passiert, oder – wie jemand mal treffend beschrieb: It’s a dopamine slot machine.
Und auch die Aussage, dass Menschen sich Zweit- und Drittmeinung holen, bis es *passt* ist problematisch, weil das Wissen um ADHS leider auch bei Therapeuten noch sehr ungleich verteilt ist. Die erste Therapeutin erzählte mir, ich könne kein ADHS haben, weil ich dann mehr Schwierigkeiten in der Schule hätte haben müssen und ADHS eher mit einer verminderten Intelligenz einherginge. Dass das Unsinn ist, wusste ich Gott sei Dank. Solange aber noch so viel Unfug im Dunstkreis der ADHS-Diagnostik erzählt wird, sollte man sehr vorsichtig damit sein, Menschen vorzuwerfen, sich eine weitere Meinung zu holen. Zumal der Weg bis zur Diagnose gerade mit ADHS so steinig ist, weil wirklich nichts davon interessant und spannend ist. Da muss der Leidensdruck schon ausreichend groß sein.
@Anne:
Ich kenne die Geschichte, dass ADHS bei Mädchen und Frauen nur deshalb seltener diagnostiziert wird, weil man das als „typische Jungenkrankheit“ betrachtet. Selbsterfüllende Prophezeiung und so.
Ich bin da ja etwas skeptisch bei der Begründung, die heutige Reizüberflutung würde zu ADHS beitragen. Die heutigen Erwachsenen, die schon in ihrer Schulzeit und dann ihr ganzes Leben unter den Symptomen gelitten haben, hatten in ihrer Kindheit keine Hörbücher, Smartphones und Nachtprogramm zum Einschlafen vor dem Fernseher. Und trotzdem haben sie ADHS, sie können aber oft im Alter das anstrengende Kompensieren nicht mehr leisten und landen dann leicht in Burn-Out und/oder Depressionen.
ADHS ist eine angeborene Hirnfunktionsstörung. Wer es als Erwachsener hat, hatte es schon als Baby.
Übrigens: der angegebene Link führt zur Seite des Arzneimittelherstellers „Medice“ – so steht es im Impressum.
Im Seitenkopf findet man das Logo der WHO – und es suggeriert dem Leser – zumindest mir – man sei auf einer Seite der WHO. Ist aber nicht so. Das macht die Angaben, die dort stehen, nicht falsch. Aber in der Folge vielleicht interessensgeleitet. (Eine Randnotiz: „Medice“ war in den den letzten Tagen wegen der Werbung zu seinem homöopathischen Arzneimittels „Meditonsin“in der Presse.)
Einiges finde ich hier gut und sinnvoll dargestellt, anderes nicht. Dass soziale Medien die „Entstehung“ bzw. Ausprägung von ADHS begünstigen, finde ich gar nicht überzeugend. Bei meinem Vater und mir und diversen anderen Spätdiagnostizierten, die ich kenne, gab es all die Schwierigkeiten schon immer, ganz ohne mediales Dauerfeuer. Eher wird umgekehrt ein Schuh draus: Social Media ist besonders für ADHS-Betroffene verlockend und anziehend, mit all den dazugehörigen Vor- und Nachteilen, weil es sofortige Dopamin-Ausschüttung als „Belohnung“ auslöst. Zu der Behauptung, es gäbe mehr ADHS-Fälle und nicht nur mehr Diagnosen fehlt eine Quelle oder Beleg, das habe ich so noch nie gehört, im Gegenteil, soweit ich weiß, sind die Zahlen stabil bei um die 5% der Bevölkerung.
@Michael: Daran habe ich mich auch gestört, man könnte aber argumentieren, dass die Aussage ist, dass durch mehr und schnellere Ablenkungsreize in der heutigen Zeit, die *Symptome* von ADHS eher oder offensichtlicher auftreten. Natürlich bleibt die Ursache weiterhin einfach eine Stoffwechselstörung im Gehirn, die man entweder hat oder nicht hat, egal, in welche Zeit man geboren wurde. Deswegen auch mein Kommentar, dass mir die eigentlich Ursache von ADHS im Interview zu kurz kommt.
Schönes Interview, auch wenn ich das „auf einmal“ etwas übertrieben finde.
Ich kenne viele mit ADHS, bzw., ich keine viele, von denen ich es weiß, und ich bin nicht auf TikTok.
Ein wesentlicher Aspekt von ADHS geht hier meines Erachtens etwas unter. ADHS zeichnet sich durch ein Ungleichgewicht von Dopamin aus, das dazu da ist, Motivation und Antrieb zu steuern. Es ist also nicht so, dass Menschen mit ADHS sich nicht konzentrieren können, sie können nur schlechter steuern, worauf sie sich konzentrieren. Vereinfacht gesagt sind sie dauernd auf der Jagd nach dem nächsten Dopaminkick, also auf der Suche nach neuen, spannenden Dingen. Zu sagen, dass Social Media die Entwicklung von ADHS-Symptomen begünstigt, halte ich für eine Aussage, die schnell fehlinterpretiert werden kann. Ich stelle gerade fest, dass viele spät diagnostizierte Menschen in meinem Alter ähnliche Verhaltensmuster auch bei ihren Eltern (ADHS ist auch genetisch bedingt) feststellen. Das ist also keine neue Erscheinung, aber die Wissenschaft ist hier schon weiter und wir wissen, dass ADHS nicht nur eine Diagnose für kleine zappelige Jungs ist, sondern viele andere Ausprägungen hat, die bis vor wenigen Jahren gar nicht mit dieser Diagnose in Verbindung gebracht wurde. Dass sich ADHSler gefühlt sehr viel auf Plattformen wie Twitter und TikTok wiederfinden, liegt eben auch daran, dass hier sehr viel in sehr kurzer Zeit passiert, oder – wie jemand mal treffend beschrieb: It’s a dopamine slot machine.
Und auch die Aussage, dass Menschen sich Zweit- und Drittmeinung holen, bis es *passt* ist problematisch, weil das Wissen um ADHS leider auch bei Therapeuten noch sehr ungleich verteilt ist. Die erste Therapeutin erzählte mir, ich könne kein ADHS haben, weil ich dann mehr Schwierigkeiten in der Schule hätte haben müssen und ADHS eher mit einer verminderten Intelligenz einherginge. Dass das Unsinn ist, wusste ich Gott sei Dank. Solange aber noch so viel Unfug im Dunstkreis der ADHS-Diagnostik erzählt wird, sollte man sehr vorsichtig damit sein, Menschen vorzuwerfen, sich eine weitere Meinung zu holen. Zumal der Weg bis zur Diagnose gerade mit ADHS so steinig ist, weil wirklich nichts davon interessant und spannend ist. Da muss der Leidensdruck schon ausreichend groß sein.
@Anne:
Ich kenne die Geschichte, dass ADHS bei Mädchen und Frauen nur deshalb seltener diagnostiziert wird, weil man das als „typische Jungenkrankheit“ betrachtet. Selbsterfüllende Prophezeiung und so.
Ich bin da ja etwas skeptisch bei der Begründung, die heutige Reizüberflutung würde zu ADHS beitragen. Die heutigen Erwachsenen, die schon in ihrer Schulzeit und dann ihr ganzes Leben unter den Symptomen gelitten haben, hatten in ihrer Kindheit keine Hörbücher, Smartphones und Nachtprogramm zum Einschlafen vor dem Fernseher. Und trotzdem haben sie ADHS, sie können aber oft im Alter das anstrengende Kompensieren nicht mehr leisten und landen dann leicht in Burn-Out und/oder Depressionen.
ADHS ist eine angeborene Hirnfunktionsstörung. Wer es als Erwachsener hat, hatte es schon als Baby.
Übrigens: der angegebene Link führt zur Seite des Arzneimittelherstellers „Medice“ – so steht es im Impressum.
Im Seitenkopf findet man das Logo der WHO – und es suggeriert dem Leser – zumindest mir – man sei auf einer Seite der WHO. Ist aber nicht so. Das macht die Angaben, die dort stehen, nicht falsch. Aber in der Folge vielleicht interessensgeleitet. (Eine Randnotiz: „Medice“ war in den den letzten Tagen wegen der Werbung zu seinem homöopathischen Arzneimittels „Meditonsin“in der Presse.)
Ich persönlich informiere mich bei https://www.adxs.org/de –
Einiges finde ich hier gut und sinnvoll dargestellt, anderes nicht. Dass soziale Medien die „Entstehung“ bzw. Ausprägung von ADHS begünstigen, finde ich gar nicht überzeugend. Bei meinem Vater und mir und diversen anderen Spätdiagnostizierten, die ich kenne, gab es all die Schwierigkeiten schon immer, ganz ohne mediales Dauerfeuer. Eher wird umgekehrt ein Schuh draus: Social Media ist besonders für ADHS-Betroffene verlockend und anziehend, mit all den dazugehörigen Vor- und Nachteilen, weil es sofortige Dopamin-Ausschüttung als „Belohnung“ auslöst. Zu der Behauptung, es gäbe mehr ADHS-Fälle und nicht nur mehr Diagnosen fehlt eine Quelle oder Beleg, das habe ich so noch nie gehört, im Gegenteil, soweit ich weiß, sind die Zahlen stabil bei um die 5% der Bevölkerung.
@Michael: Daran habe ich mich auch gestört, man könnte aber argumentieren, dass die Aussage ist, dass durch mehr und schnellere Ablenkungsreize in der heutigen Zeit, die *Symptome* von ADHS eher oder offensichtlicher auftreten. Natürlich bleibt die Ursache weiterhin einfach eine Stoffwechselstörung im Gehirn, die man entweder hat oder nicht hat, egal, in welche Zeit man geboren wurde. Deswegen auch mein Kommentar, dass mir die eigentlich Ursache von ADHS im Interview zu kurz kommt.