Sahra Wagenknecht ist die neue Horst Schlämmer
Vor 13 Jahren gab der stellvertretende Chefredakteur des „Grevenbroicher Tagblatts“, Horst Schlämmer, bekannt, in die Politik zu gehen. Er gründete die HSP, die Horst-Schlämmer-Partei, und trat mit ihr bei den Bundestagswahlen an. Sein Ziel: Bundeskanzler zu werden.
Nun ist Schlämmer zwar nur eine Kunstfigur des Komikers Hape Kerkeling und die Parteigründung nur die Geschichte der Filmkomödie „Isch kandidiere!“, aber das hielt weite Teile der deutschen Medienlandschaft damals nicht davon ab, die ganze Sache sehr ernst zu nehmen. Der „Stern“ gab bei seinem befreundeten Meinungsforschungsinstitut Forsa eine Umfrage in Auftrag, wie viele Deutsche sich vorstellen könnten, die Horst-Schlämmer-Partei zu wählen. Die Antwort: 18 Prozent. In der Gruppe der 18- bis 29-Jährigen hielt es sogar jeder Vierte für denkbar, Schlämmer seine Stimme zu geben.
Das versetzte viele Journalisten in helle Aufregung. Die Nachrichtenagentur dpa meldete „Horst-Schlämmer-Partei genießt hohe Wählergunst“ und „Horst Schlämmer – alias Hape Kerkeling – hätte am 27. September eine durchaus realistische Chance, in den Deutschen Bundestag einzuziehen“. „Bild“ titelte: „Horst Schlämmer fast so stark wie die SPD!“ Diversen Politikern wurden in Interviews die für die etablierten (und existierenden) Parteien vermeintlich schlimmen Umfrageergebnisse vorwurfsvoll hingehalten. In Artikeln wurde atemlos berichtet, dass die HSP zur Zeit drittstärkste Partei im Bundestag würde. Leitartikler gaben sich besorgt, was das für die Demokratie bedeutet, was es über die Wähler aussagt und was über die Politiker.
Weniger gefragt wurde, was es über Journalisten aussagt, die in großer Zahl Unsinn verbreiteten. Nicht nur, weil sie so taten, als könne man Wertungen über eine fiktive Partei mit denen über reale Parteien einfach so vergleichen. Vor allem, weil sie das Wählerpotenzial einer Partei („Können Sie sich vorstellen, Partei x zu wählen?“) mit den Wahlaussichten einer Partei (klassischerweise erhoben durch die Frage: „Wen würden Sie wählen, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre?“) verwechselten.
Schon der „Stern“ tat das in seiner Meldung, mit der er den Unfug in die Welt setzte: „Fast jeder Fünfte würde Schlämmer wählen“, titelte er falsch. Viele andere Medien übernahmen die Fehlinterpretation.
Jeder fünfte würde irgendwas
Sahra Wagenknecht ist die Horst Schlämmer des Jahres 2023. Immerhin ist sie, soweit man weiß, keine Erfindung von Hape Kerkeling, und eine eigene Parteigründung zwar bislang nur hypothetisch, aber zukünftig nicht grundsätzlich fiktiv.
Aber auch sie regt die Fantasie von Journalisten in besonderem Maße an. Diesmal war es der „Focus“, der eine Umfrage in Auftrag gab, diesmal beim Meinungsforschungsinstitut Kantar. Gefragt wurde nach Angaben der Illustrierten: „Könnten Sie sich vorstellen, eine Partei mit Sarah [sic!] Wagenknecht an der Spitze zu wählen?“ (Befragt wurden am 28. Februar und 1. März insgesamt 1012 Menschen.)
19 Prozent der Befragten antworteten mit Ja. Im Online-Artikel nennt der „Focus“ diese Größe korrekt das „Wählerpotential“ einer solchen Partei. In der Überschrift schreibt er aber bewährt irreführend: „Jeder Fünfte würde Wagenknecht-Partei wählen“.
Dabei ist die Zahl, selbst wenn man sie richtig angibt, von geringst denkbarer Aussagekraft: Wer wäre sonst noch in einer Sahra-Wagenknecht-Partei SWP, deren Wählbarkeit Menschen einschätzen sollen, welche Politik würde sie konkret vertreten? Die Horst-Schlämmer-Patei HSP warb damals damit, liberal, konservativ und links zu sein.
Für die Nachrichtenagentur AFP waren die Ergebnisse der Umfrage trotzdem eine Meldung wert. Sie verbreitete sie unter der Überschrift „Meinungsforscher sehen 19 Prozent Wählerpotenzial für fiktive Wagenknecht-Partei“. Bei der „Berliner Zeitung“ hat man das aber kurzerhand geändert in: „Umfrage: 19 Prozent der Deutschen würden Wagenknecht-Partei wählen“.
Dass sich laut der Umfrage 60 Prozent der AfD-Anhänger vorstellen können, eine Partei mit Wagenknecht an der Spitze zu wählen, verbiegt T-Online in der Überschrift zu: „Umfrage: Mehrheit der AfD-Wähler würde Wagenknecht-Partei wählen“.
Beim RND werden die Ergebnisse der „Focus“-Umfrage zu der Formulierung verkürzt, dass „Umfragen einer neuen Wagenknecht-Partei 19 Prozent zutrauen“. Die „Frankfurter Rundschau“ titelt: „Umfrage: Wagenknecht-Partei würde bis zu 19 Prozent der Stimmen bekommen“.
Luft rein, Luft raus
Am besten aber ist Gabor Steingart, der in seinem Newsletter „The Pioneer Briefing“ die falsche Zahl gleichzeitig verbreitet und als Unsinn abtut. Er schreibt:
„Deutschland ist ein reiches Land: Wir besitzen 40 DAX-Konzerne, 18 Bundesliga Vereine der ersten Liga und sieben im Bundestag vertretene Parteien. In diesen Tagen wird diskutiert, ob unter Führung von Sahra Wagenknecht eine achte Partei von bundespolitischer Bedeutung entstehen sollte.
Die Meinungsforscher mit ihren schnellen Telefonumfragen befeuern die Debatte. 19 Prozent sagt eine Umfrage der Meinungsforschungsfirma Kantar einer Wagenknecht-Partei voraus. Man ahnt schon, dass diese Jubel-Demoskopen, wenn sich die Zahlen am Sonntag der Bundestagswahl 2025 in Luft aufgelöst haben, in die Büsche schlagen werden.“
Gut, ja, vielleicht würden sie aber auch vor den Büschen große Plakate mit Hinweistafeln aufstellen, auf die sie schreiben, was sie tatsächlich gemessen haben, im Gegensatz zu dem, was Journalisten daraus gemacht haben.
Steingart fügt hinzu:
„Wer sich nicht mit heißem Herzen, sondern mit kühlem Verstand der Idee einer Neugründung nähert, hört, wie die Luft aus solchen Umfragen entweicht.“
So isser. Hört die Luft aus Umfragen entweichen, die er selbst hineingepumpt hat.
Horst Schlemmer: „Isch verwahre misch gegen diesen Vergleisch!“
Weißte Bescheid, Schätzelein.
Ich hoffe ja auf eine Parteigründung der Putinknecht. Das könnte die Wahlchancen aller drei rinklechten putinistischen Deppenparteien (SWP, AfR und Die Linkende) senken und erspart dem nächsten Bundestag im besten Fall alle drei.
Vielen Dank für diesen Artikel! Sie greifen zurecht diese hanebüchenen, sinnlosen Meldungen auf.
Mir fällt bei dem Thema „Wählerpotenzial/Wählergunst“ aber immer auch auf, wie normale Wahlumfragen innerhalb der Legislaturperioden kommentiert werden: „FDP würde aus dem Bundestag fliegen“, „Ampel hätte aktuell keine Mehrheit“, „Xy schadet der Union, sie sinkt in der Wählergunst“.
Wie Wahlen ausgehen, kann man nur NACH Wahlen feststellen. Das kann sich doch auch jeder vorstellen. Wie oft habe ich mich schon über die Partei meiner Gunst geärgert und geschworen „Die wähl‘ ich nie wieder“ oder so ähnlich. Aber wenn es zum Schwur kommt, also spätestens in der Wahlkabine, sieht die Sache anders aus.
Ich wundere mich immer wieder, mit welcher Sicherheit solche Zwischenumfragen von Journalisten interpretiert werden. Vor allem, da man in letzter Zeit ja sieht, dass sogar Wahlprognosen im Vorfeld von Wahlen – also dann, wenn die meisten Leute sich wirklich gerade mit ihrer Wahlentscheidung auseinandersetzen und abwägen – immer unsicherer werden.
@Chateudur:
Wählerpotential und Sonntagsfrage sind, wie Herr Niggemeier ja schreibt, völlig unterschiedliche Dinge. Die Sonntagsfrage summiert sich immer auf 100 Prozent, die Wählerpotentiale ergeben zusammengerechnet weit mehr – weil fast jeder mehrere Parteien oder auch die Nicht-Wahl in Erwägung zieht. Die Linke etwa hat seit vielen Jahren ein Potential von rund 20 Prozent. Daran hat sich wenig geändert, sie kann es bloß immer schlechter mobilisieren.
Dass Umfragen „immer unsicherer werden“, höre ich seit Jahrzehnten. Es stimmt nicht. Die meisten sind – im Rahmen einer Schwankungsbreite – sogar erstaunlich genau. (Ausreißer gibt es natürlich immer, was oft auch mit plötzlichen Stimmungswechseln zu tun hat.)
Man nehme die Forsa-Umfrage eine Woche vor der Berlinwahl: CDU 26, SPD 17, Grüne 18, Linke 12, FDP 5, AFD 10. Grüne und Linke passen exakt, alle anderen liegen innerhalb der Schwankungsbreite. Und wenn man davon ausgeht, dass aufgrund solcher Umfragen noch einige von FDP und AFD zur CDU gewechselt sind – dann hat man schon das Endergebnis.
Ich finde auch, dass es zu viele Umfragen gibt, aber nicht, dass sie sinnlos wären: Für Politik und Medien sind sie ein wichtiges Stimmungsbarometer; für die Wissenschaft ein unverzichtbares Analysewerkzeug. Dass manche Journalisten zu dumm oder zu sensationsgeil sind, um sie richtig zu interpretieren – das kann man schlecht den Umfragen vorwerfen.
Übrigens: Auch der Spiegel ist auf den Wagenknecht-Zug aufgesprungen und lanciert eine eigene (Civey-)Umfrage. Hier kommt man beim Wählerpotential sogar auf 25 Prozent, und der Clou ist, wie gehabt, das breite Interesse bei beim AFD-Volk.
Davon ab ist der Text aber seriös gemacht. Tenor: X Prozent der Y-Anhänger könnten sich grundsätzlich vorstellen… Und auch die Überschrift „…könnte auf großen Zuspruch hoffen…“ behauptet m.E. nichts, was die Umfrage nicht hergibt. Hier der Artikel:
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/sahra-wagenknecht-neue-partei-haette-laut-umfrage-potenzial-bei-afd-waehlern-a-23879d98-c27f-4608-8911-f76b745f12aa
Ich möchte noch ergänzend darstellen, dass zu viele Medien (und Meinungsforschende) leider auch immer wieder Grundprinzipien der Verhaltensökonomik ignorieren. Solche Umfragen haben keinen Wert, da regelmäßig mindestens die Verfügbarkeitsheuristik zuschlägt. Wäre der Ukraine-Krieg in einem Jahr vorbei, würde das „WPP“ auf knapp über Null schrumpfen.
@Frank Preßler:
Ja, allerdings: Ohne den Kapitalismus gäbe es keine Arbeiterparteien; ohne die Umweltkrise keine Grünen. Ohne Krieg keine Friedensbewegung. Und ohne den Verbrennungsmotor würde niemand FDP wählen (oder so).
Worauf läuft das hinaus? Dass Erhebungen, die eine politische Stimmung abfragen, nur dann einen Wert hätten, wenn sie von der politischen Stimmung abstrahierten? Nee, oder?
(Die „Verfügbarkeitsheuristik“ ergibt hier besonders deshalb wenig Sinn, weil eine Wagenknecht-Partei gar nicht verfügbar ist.)
Ich finde es super informativ, dass ausgerechnet die Bundesrepublik Deutschland die 40 DAX Konzerne und die 18 Bundesliga Vereine besitzt und nicht irgend jemand anderes. Danke für`s Augen öffnen, Gabor Steingart, was wären wir ohne dich?
@Kritischer Kritiker
Okay, da haben Sie gute Einwände bzw. Ergänzungen.
Ich möchte meinen Gedanken deshalb ausführen: Umfragen mitten in der Legislaturperiode scheinen mir dadurch verfälscht, daß es gerade nichts zu wählen gibt. Keine Wahlprogramme zum Vergleich, keine Kandidaten, kein „Wahlstimmung“. Auf welcher Grundlage soll man jetzt im März 2023 auf die Frage antworten, welche Partei man wählen würde, wenn nächste Woche eine Bundestagswahl wäre? Das ist mir zuviel Konjunktiv.
Die Fragestellung „wie sind Sie Zufrieden mit der Arbeit der Regierungskoalition/Partei xy“ oder ähnliches – das wäre meiner Ansicht nach die aussagekräftigere Frage.
Kurz zusammengefaßt: Kein Wahlkampf, keine (informiere, ernstzunehmende) Wahlentscheidung in Umfragen.
@Chateaudur: Der Reiz der Sonntagsfrage liegt halt daran, dass sie unabhängig von allen äußeren Einflüssen jederzeit und unverändert gestellt werden kann. Die Frage zielt darauf ab, sich genau jetzt für genau eine Partei zu entscheiden. Und selbst wenn die Frage hypothetisch ist und die absoluten Werte nicht immer in Gold aufgewogen werden sollten: Die ermittelten Trends sind trotzdem echt.
Wie hat es Deutschland nur geschafft, 18 Bundesligavereine und 80 DAX-Konzerne zu haben? Wir haben uns ganz toll angestrengt, und …
Ach ne, das ist einfach so definiert. Willkürlich, wenn man so will. Man hätte auch genauso gut 17 oder 53 Konzerne in den DAX hineindefinieren können oder Vereine in die Liga. Die Zahl sagt über die Qualität der 18 Vereine und der 40 Konzerne gar nichts aus. Und hat damit auch keinen Wert als Vergleich für irgendetwas.
Das Talent von Steingart, konsequent Kommentare zu schreiben, die immer auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig absurd sind, ist bewundernswert.
Für #10 freiwild: Deutschland hat keine 80 DAX-Konzerne – es sind nur 40. Einfach fürs nächste Mal die Zahlen anpassen :-)
Ich kann mir sogar vorstellen, mit meinem Fahrrad zum Mars zu fliegen. Das wird nicht passieren, aber vorstellen kann ich mir das.
Vielleicht sind die Leute, die sich eine solche Wahl nicht vorstellen können, auch einfach nicht fantasievoll genug. Es ist ja z.B. denkbar, dass man während des Wahlvorgangs wegen irgendwelcher organischer Ursachen in einen akuten Verwirrtheitszustand gerät und sein Kreuzchen im Delir bei Wagenknecht setzt.
@Orangutanklaus: Ich würde keine Partei wählen, die vor Putins Russland kuscht. Aber trotzdem möchte ich die Wagenknecht-Befürworter nicht in die psychopathologische Ecke rücken. Das tun totalitäre Regimes gerne oder sie kriminalisieren ihre Kritiker. Siehe Nazi-Deutschland und die Sowjet-Union.
@ Florian Blechschmidt
Ich wollte die weite Auslegbarkeit der Formulierung „könnten Sie sich vorstellen“ illustrieren, indem ich überlegt habe, welche Umstände könnte ich mir „vorstellen“, unter denen ich persönlich eine Wagenknecht-Partei wählen würde.
Aber klar, zücken Sie ruhig mal direkt nen Nazivergleich!