Mediale Silvester-Randale

I predict a riot

Und auf einmal hatte Sascha eine Knarre: Es war in den Neunzigern, wir waren 16 oder 17 und im Park, wie eigentlich immer. Es war kalt, denn es war Winter in Berlin, damals als es diese sogenannten „Russenwinter“ noch gab. Sascha zog also auf einmal dieses Ding aus seiner schwarzen Bomberjacke. Es war nicht seine erste, die erste hatten ihm andere Neuköllner Jungs schon abgezogen, diese hier wollte er nun nicht mehr so leicht hergeben.

Und dabei sollte unter anderem diese Gaspistole helfen. Jeder von uns Jungs feuerte das Ding reihum ab, alle fanden es heftig. Allerdings wurde der beabsichtigte Einsatzzweck „Selbstverteidigung“ schnell zweifelhaft. Ältere Freunde belehrten uns, Gaspatronen bekomme man meist selbst ab – außerdem wüssten alle, dass wir Teenies wären, die auf hart machten und niemals echte Knarren dabeihätten. „Und was machst Du dann, wenn Dir zehn Hoschis mit Messer gegenüberstehen, die genau wissen, dass Deine scheiß Kanone nur puff macht? Lern lieber rennen, wa?“

Was wir von den älteren Brüdern und Bekannten, den Teds und Rockabillys, die schon Mofas und manchmal Autos hatten und Lederjacken mit politisch fragwürdigen Südstaaten- und Rebellen-Patches auf den Armen, aber auch lernten: Man konnte mit der Knarre Leuchtkugeln abschießen. Viele hatten damals so eine, auch „ganz normale“ Männer, auch erwachsene „biodeutsche“ Freunde meiner Mutter. Zu Silvester prügelten meine Freunde und ich uns fast um das Ding.

Als wir uns bei einem Jahreswechsel eine regelrechte Schießerei im Oberdeck eines Berliner BVG-Doppeldeckers lieferten, mussten wir am Ende wirklich davon rennen: vor den Normalo-Bürgern, die auch noch gerne Schellen an Jugendliche verteilten, vor der anderen Gang, vor der Polizei. Ja, Neukölln war schon damals ein hartes Pflaster – und in jedem Fall härter als heute. Daran ist nichts romantisch, es war eine weitgehend beschissene Zeit und ich bin heilfroh, dass sie vorbei ist.

An Silvester knallt es – immer wieder

Fast forward in eine insgesamt bedeutend friedlichere Gesellschaft. Es ist und bleibt eine Sisyphos-Arbeit, trotzdem muss man immer wieder daran erinnern: Die schwere Gewaltkriminalität ist aller Unkenrufe zum Trotz in den letzten 20 Jahren stark zurückgegangen. Genau deshalb ist die Aufmerksamkeit für einzelne Taten oder Ereignisse, die diesen Rahmen sprengen, so groß – und nicht umgekehrt. Womit wir beim Jahreswechsel 2022/23 wären.

Zunächst einmal schien jenseits von Berlin alles in normalen Bahnen verlaufen zu sein: Die Polizei Hamburg blickte auf eine „weitgehend ruhige Silvesternacht“ zurück:

In Hannover zog die Polizei „eine weitestgehend positive vorläufige Bilanz“.

In Stuttgart zog man eine „positive Bilanz“ ohne „schwerwiegende Vorkommnisse“.

Die Münchner Bilanz war „arbeitsreich“, aber augenscheinlich ohne besonderes Gewaltgeschehen.

Auch Ober- und Mittelfranken, inklusive Nürnberg zogen eine „positive Bilanz“.

Ein „positives Fazit“ gab es auch in Leipzig, ganz im Gegensatz zum letzten „richtigen“ Silvester vor der Corona-Pandemie, als es zu Straßenschlachten mit Teilen der linken Szene kam, über die medial auch mehr oder weniger hysterisch berichtet wurde.

In Düsseldorf sprach die Polizei zwar von einer silvestertypisch „hohen Einsatzintensität“, vermeldete aber gleichzeitig „bislang keine schweren Straftaten“.

Während praktisch alle anderen Polizeien davon absahen, die Silvesternacht mit einem Live-Einsatz-Ticker zu begleiten, tat die Berliner Polizei schon beinah traditionell genau das – und twitterte die ganze Nacht auf ihrem Einsatz-Account, darunter allerlei „witzige“ Belanglosigkeiten bis hin zu teilweise fragwürdige Anspielungen auf Sexualstraftaten. Doch eben auch schon während der Nacht die Meldungen von Angriffen auf Polizei- und Feuerwehrkräfte:

Dementsprechend fiel die Silvester-Bilanz in Berlin auch schon am Neujahrsmorgen anders als im Rest der Republik aus, die Polizei vermeldete „Massive Angriffe auf Einsatz- und Rettungskräfte“.

Faktenlage? Agenda-Setting!

Ob die Ereignisse in Berlin allerdings die Ausnahme oder die Regel darstellen, verschwimmt medial seitdem komplett. So behauptet exemplarisch „Die Zeit“ am 2. Januar unter der Überschrift „Lauter, härter, brutaler“, es habe „bundesweit“ „Angriffe auf Einsatzkräfte“ gegeben und: „Die Gewalt fiel extremer aus.“ „Was aber zum Jahresende 2022 in vielen deutschen Städten vorfiel, das beschreiben die Einsatzkräfte am Tag nach Neujahr als bisher nicht dagewesen“, so die Hamburger Wochenzeitung. Neben einer ausführlichen Beschreibung der Berliner Vorfälle dienen als Belege unter anderem Vorfälle in Essen, Hamburg und Hannover, die in seltsamem Widerspruch zu den oben zitierten vorläufigen Bilanzen der Polizei stehen.

Dafür gibt es zweierlei Erklärung: Entweder, die Pressemeldungen der Polizei zum Jahreswechsel sind mehr oder weniger wertlos – oder Medien inszenieren sich einen Gewaltexzess, der in dieser Form nicht stattgefunden hat. Dass man an Neujahr vielleicht noch nicht alle Details der Silvesternacht kennt, auch weil viele Strafanzeigen erst im Nachhinein gestellt werden, ist verständlich. Köln beispielsweise wartet daher nach den Erfahrungen von 2015/16 mit einer Bilanz bis zum 6. Januar. Aber dass man nach der Nacht nicht weiß oder nicht mitteilt, dass es zu Szenarien wie in Berlin gekommen ist, erscheint zumindest fragwürdig. Nicht nur die „Zeit“ sollte sich, Polizei und Politik daher viel genauer fragen, was eigentlich die Faktenlage ist.

Denn Polizeigewerkschaften und innenpolitische Hardliner betreiben immer wieder Agenda-Setting mit Silvester: 2020 berichtete die Deutsche Welle unter der Überschrift „Polizisten im Visier“ erstaunlich ähnlich über Angriffe auf Polizei- und Rettungskräfte. 2019 nutzte der damalige Bundesinnenminister Seehofer eine Gewalttat junger Asylbewerber, um eine Debatte um Abschiebungen straffällig gewordener Flüchtlinge anzuzetteln. Und wer sich die Berichterstattung der „Tagesschau“ von 2018 anschaut, muss schon sehr genau hingucken, um überhaupt Unterschiede zu heute festzustellen. Unter der Überschrift „Es ist unfassbar“ ging es auch damals schon um Angriffe auf Polizist:innen und Rettungskräfte.

Von wegen „bisher nicht dagewesen“: Offenbar ist nur das mediale Gedächtnis etwas kurzzeitig.

Trittbrettfahrende Intressensvertreter

Hinzu kommen im Silvester-Zusammenhang auch noch Falschmeldungen, die der Hitze der Nacht oder auch Kalkül geschuldet sind: So verbreitete die Leipziger Polizei zum Angriff auf Beamte im linken Stadtteil Connewitz 2019/20 nachweislich auch Falschmeldungen. Und 2018 hatten angeblich „1.000 Migranten“ auf dem Stadtfest von Schorndorf in Baden-Württemberg randaliert und sexuelle Übergriffe begangen – was sich als Ente von Polizei und Deutscher Presseagentur (dpa) entpuppte.

Dank der medialen Aufregung springen auch 2023 diverse Interessensvertreter als Trittbrettfahrer auf, so zum Beispiel Stefan Perlbach im Magazin „MDR um 11“ des Mitteldeutschen Rundfunks. Vorgestellt wird er mit den Worten, dass er „für die Polizei arbeitet“ und sich ehrenamtlich in einem Verein engagiert, der sich um Rettungskräfte kümmert, die im Einsatz physische oder psychische Verletzungen davongetragen haben. Doch das ist nur die halbe Wahrheit: Perlbach war unter anderem stellvertretender Landesvorsitzender und Landessprecher der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) – und forderte unter anderem die Bewaffnung der Landespolizei mit Tasern, während sich die DPolG zeitgleich Veranstaltungen von der Firma Taser sponsoren ließ.

Screenshot: mdr

Da er zudem offenbar nicht befugt ist, für die Polizei in Sachsen-Anhalt zu sprechen, trat er in der blauen „Uniform“ seines Vereins auf, die einer echten Polizeiuniform auf den ersten Blick zum Verwechseln ähnlich ist – und von den meisten Zuschauer:innen auch dafür gehalten werden dürfte. In der Sendung behauptete er dann, es habe in Magdeburg teilweise ähnliche Szenen wie in Berlin gegeben, was wiederum im Gegensatz zur Silvesterbilanz der Magdeburger Polizei steht, die einen „weitestgehend friedlichen und geordneten“ Verlauf gemeldet und „eine verhältnismäßig niedrige Zahl von Straftaten“ registriert hatte.

Böller oder Ausländer verbieten?

Ein anderes Süppchen kochen derweil rechtskonservative Kommentatoren: Hier ist bereits am Tag danach klar, dass die Täter analog zur Kölner Silvesternacht vor allem Menschen mit Migrationshintergrund gewesen sein müssen und dass es sich folglich mal wieder um „gescheiterte Integration“ handelt.

In dieses Horn stoßen neben AfD-Vertreter:innen auch Politiker:innen der Union, so etwa der Hamburger Bundestagsabgeordnete Christoph de Vries.

Die derart offene Identifizierung von Kriminalität mit bestimmten Hautfarben hat zumindest den Vorteil, dass man die rassistische Logik hinter solchen Äußerungen nicht erst umständlich herleiten muss. Ansonsten ist das Ganze mal wieder ein deutsches Trauerspiel: Noch bevor wir überhaupt gesichertes Wissen über die Täter haben, geht es um des weißen Deutschen Lieblingsangst: die Fremden mit der anderen Haar- und Hautfarbe.

Im Zusammenhang mit den Krawallen wurden laut Berliner Polizei 145 Menschen vorläufig festgenommen, dabei seien 18 verschiedene Nationalitäten erfasst wirden. 45 der Verdächtigen hätten die deutsche Staatsangehörigkeit. Danach folgten 27 Verdächtige mit afghanischer Nationalität und 21 Syrer.

Warum ist das so? Die Antwort ist so einfach, dass sie entlarvt, dass es eben doch dumme Fragen gibt: Weil auch die Mehrheit der Unter-27-Jährigen in Berlin einen Migrationshintergrund (mit deutscher oder ausländischer Staatsbürgerschaft) hat. Und natürlich ist deren Anteil in Bezirken wie Neukölln noch höher.

„Berliner Jungs“

Die „Migrationshintergrund“-Rhetorik, die seit Tagen heiß läuft, ist somit in Wirklichkeit eine Tautologie: Schon jetzt haben knapp 40 Prozent der Menschen in Berlin einen Migrationshintergrund; bei den Älteren deutlich weniger, in den jüngeren Altersgruppen erheblich mehr. Auch „die Mehrheit“ der Berufsanfänger, Studierenden und Auszubildenen wird in Berlin über kurz oder lang einen Migrationshintergrund haben. Wer nur im Hinblick auf Kriminalität über Migration sprechen will, übernimmt daher gewollt oder ungewollt einen rassistisch geframten Blick auf diese.

Auch die keinesfalls als Kleinrednerin von Problemen bekannte Berliner Integrationsbeauftragte Günar Balci sprach am Dienstagabend in der „Abendschau“ des rbb diese simple Wahrheit aus, indem sie die Randalierer von Neukölln als „Berliner Jungs“ bezeichnete. Moderatorin Eva-Maria Lemke schien dies allerdings nicht zu passen, sie wollte vor allem über Clanstrukturen und Parallelgesellschaften reden. Balci versuchte zunehmend angestrengter zu erklären, warum die Hauptbetroffenen der Gewalt dieser jungen Männer ebenfalls Menschen mit Migrationshintergrund sind.

Etwa der Feuerwehrmann Baris Coban, der ebenfalls im rbb ausführlich von den Angriffen berichtet und einen türkischen Migrationshintergrund hat. Er berichtet schockiert über die Angriffe, auch er benennt den Hintergrund der Täter, steht ihnen aber nicht weniger fassungslos gegenüber: „Was habe ich diesen Leuten getan?“, fragt er. Dieselbe Frage dürften sich andere Kids mit Migrationshintergrund, die von diesen Leuten aufs Maul kriegen, jeden Tag stellen.

Verbote erzählen keine Geschichten

Wahr ist allerdings auch, dass praktisch nichts am Berliner Geschehen etwas mit dem Verkauf legaler Pyrotechnik zu tun hat. Womit wir bei der Leerstelle des Diskurses „links“ von der Union wären. Denn dort tut man sich derzeit vor allem mit Forderungen nach einem Böllerverbot hervor. Berlins regierende Bürgermeisterin Giffey will die Böllerverbotszonen ausweiten und über ein bundesweit einheitliches Vorgehen diskutieren. Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke) will ein bundesweites Verkaufsverbot, die Grünen sind eh dafür. Wie beim Tempolimit sind alle Argumente ausgetauscht, doch für ein Verbot gibt es keine politischen Mehrheiten. Die selbsternannt „Vernünftigen“ sind erzürnt, in Umfragen sind gut 50 Prozent der Befragten für ein Verbot, rund 40 Prozent dagegen, der Rest hat keine Meinung. Im Westen ist die Zustimmung zu einem Verbot dabei höher als im Osten.

Doch ein Verbot des Verkaufs von Silvesterfeuerwerk löst keine gesellschaftlichen Probleme. Wer ohnehin bereit ist, Straftaten zu begehen, für den dürfte die Fahrt von Berlin nach Polen zur illegalen Beschaffung das geringste Problem sein. Natürlich kann man argumentieren, ohne den ungewollten Schutz der legal Böllernden wäre die Randale der Wenigen leichter einzudämmen. Das allerdings ist die Logik einer Gefahrenabwehr zu Lasten einer Mehrheit derjenigen, die Feuerwerk zündet und sich friedlich daran erfreut. Diese müsste ein Verbot hinnehmen, weil einige wenige Straftaten begehen.

Bei Schusswaffen verfährt man zwar prinzipiell genauso, wer Eignung und Umgang nachweisen kann, darf diese aber besitzen, führen und an vorgesehenen Orten oder zu bestimmten Zwecken auch abschießen. Ein totales Böllerverbot wäre also selbst in einem solchen Vergleich noch radikaler. Man muss kein:e Anhänger:in eines floskelhaften Freiheitsbegriffs sein, um eine solche Maßnahme problematisch zu finden.

Doch die Oberflächendiskussion um ein Böllerverbot offenbart eine ganz andere Schwäche: Das linke und linksliberale Spektrum hat keine gesellschaftspolitische Erklärung für das Geschehen anzubieten. Rechte und Rechtskonservative dagegen haben ein Narrativ, nämlich vulgo „die Ausländer sind Schuld“. Dieses ist abgegriffen, zum Teil offen rassistisch und im Hinblick auf den Rechtsterrorismus à la Hanau, der daraus folgen kann, brandgefährlich, aber es ist immerhin eine Erzählung. „Böller verbieten!“ ist dagegen keine.

Und progressiv ist es im Gegensatz zur eigenen Wahrnehmung auch nicht, wie Olivier David als eine der wenigen Ausnahmen bereits vor Silvester in der „taz“ aufgeschrieben hat:

„So hehr die Absichten hinter linksliberaler Kumpanei mit der Polizeigewerkschaft auch sein mögen: Wer ein Böllerverbot fordert, der ruft nach Kriminalisierung. Denn wo etwas verboten wird, da muss das Verbot umgesetzt werden. Zuständig dafür ist die Polizei, die genau dazu gegründet wurde – zur Sanktionierung armer Menschen. In Hamburg und Berlin (dort in Koalition mit der Linken) wird diese Kontinuität unter rot-grünen Landesregierungen auch diesen Silvester fortgesetzt, wenn migrantische Jugendliche durch ihre Viertel gejagt werden. Das ist weder progressiv noch links.“

David legt seinen Finger damit tief in die Wunde des aktuellen „linken“ medialen Diskurses. Diesem ist nämlich das sozioökonomische Bewusstsein weitgehend abhandengekommen, um nicht zu sagen: Man interessiert sich nicht mehr für Klassenfragen. Das stellt auch Sebastian Friedrich in seinem Kommentar im „Freitag“ fest, der ebenfalls eine Ausnahme im medialen Diskurs darstellt:

„Wer nun über Böllerverbote sinniert, mögliche Krawallmacher zum personifizierten Bösen erklärt oder Menschen bestimmter Herkunft diskreditieren möchte, will nichts wissen von den Verhältnissen, die wesentlich zu solchen Handlungen führen.“

Denn genau darum geht es, auch wenn die Wiederholung langsam langweilig ist, denn auch hier könnten deutsche Journalist:innen sich vielleicht einmal der kriminologischen Forschung bedienen, bevor sie wieder und wieder nachplappern, was die Polizeigewerkschaften sagen oder rechtsradikales und rechtskonservatives Ethni- und Rassifizieren sozialer Konflikte aufgreifen und mitmachen. Ich zitiere mich an dieser Stelle selbst:

„Es gibt in der kriminologischen Forschung sehr konstante und belastbare Indikatoren für eine erhöhte Kriminalität: Erstens gibt es einen Kriminalitätsschwerpunkt in jüngeren Altersgruppen, zweitens sind rund 75 Prozent aller Tatverdächtigen männlich. Bei Gewaltkriminalität sind sogar 86 Prozent und bei Vergewaltigung fast 99 Prozent der Tatverdächtigen männlich. Drittens spielt die soziale Lage der Täter eine entscheidende Rolle: Je prekärer die soziale Lage, desto höher ist die Anfälligkeit für Kriminalität.“

So war es und so ist es und so bleibt es, es sei denn, Sie hören von der empirischen Kriminalitätsforschung etwas anderes.

Bezeichnenderweise ist ausgerechnet in Roland Tichys rechtem „Einblick“ ein Text erschienen, der sich genau diesem Problem widmet. Natürlich will der Autor Mario Thurnes vor allem über die „Folgen der Migration“ reden, sonst publizierte er mutmaßlich nicht bei Tichy, doch man liest Bemerkenswertes, das dicht an Davids Analyse in der „taz“ ist:

„Zuverlässige Studien, wer es an Silvester krachen lässt, liegen nicht vor. Wir sind auf Beobachtungen angewiesen. Der erste Blick lässt auf ein migrantisches Problem schließen. Doch das verwechselt Ursache und Wirkungen. Es sind oft Jungs aus ärmeren Verhältnissen, deren Perspektive aus Hartz IV alias Bürgergeld oder einem glanzlosen Job besteht. Sowohl bei den jungen Menschen als auch bei den Perspektivlosen sind die Migranten überproportional stark vertreten. Deswegen ist die sich daraus ergebende Aggression ein migrantisches Problem.“

Das ist – sorry to say – vorsichtiger und gleichzeitig näher an Kriminologie und Realität, als die Mehrheit der „Integrationsdebatten“- oder „Böllerverbot“- Artikel, die in den letzten Tagen erschienen sind. Die Debatte nicht Tichy und Co. zu überlassen, hieße deswegen, sich ein bisschen mehr Mühe zu geben.

Die medialen Leerstellen

Wer wie ich als Jugendlicher in einer miesen Gegend viel draußen ist, bekommt zwangsläufig auch viel Ärger – nicht zuletzt mit der Polizei, die ihre sogenannten „Pappenheimer“ kennt, kontrolliert und zuweilen auch schikaniert. Die reale Diskriminierungserfahrung solcher Jugendlicher wird durch racial profiling und andere polizeiliche Maßnahmen besonders spürbar. „A friend of a friend he got beaten – He looked the wrong way at a policeman“, sangen die Kaiser Chiefs einst; Haftbefehl textete: „Hast Du auch Schwarze Haare? Welcome to Alemania.“ Und jeder, der so aufgewachsen ist, weiß, was damit gemeint ist.

Vielleicht könnte man daher auch mal mit Kriminolg:innen darüber reden, wie belastbar zahlreiche Behauptungen der Polizeigewerkschaften zu allgemeinen Entwicklungen überhaupt sind: So ist der angeblich langjährige Trend zu vermehrten Angriffen auf Polizeibeamte und Rettungskräfte kriminologisch mindestens umstritten, die entsprechende Gesetzeslage wurde bereits mehrfach verschärft. Bereits heute kann es unter Umständen eine mit Gefängnis bewährte Straftat sein, Polizist:innen auch nur verbal zu drohen.

Wer sich parallel dazu vor Augen führt, wie auf Grundlage des bayerischen Polizeigesetzes derzeit Präventivhaft gegen Klimaaktivist:innen verhängt wird, sollte bei erneuten Forderungen nach Gesetzesverschärfungen journalistisch sehr hellhörig werden – zumal diese ja offenbar wenig Wirkung bei der entsprechenden Klientel zeigen. Dafür aber beschränken sie Demonstran:innen und andere Bürger:innen, die (zum Beispiel im Umfeld von Fußballspielen) mit der Polizei in Konflikt geraten können, weiter in ihren Rechten. Dass Gewalt von und gegen Polizist:innen miteinander in Verbindung stehen, darf kriminologisch zudem als gesichert gelten.

Dass ein gewisser Teil vor allem junger Männer die Polizei hasst, ist ebenfalls keineswegs neu: Niemand muss ACAB auf Böller drucken, damit diese zum Angriff auf Beamte benutzt werden – die Parole steht ohnehin an jeder zweiten Hauswand. Und keinesfalls ist dieses Phänomen auf Migranten beschränkt. Man könnte daher auch an dieser Stelle mal der Wissenschaft folgen, bevor man wieder und wieder aus dem Bauch heraus rassistisch aufgeladene Integrationsdebatten vom Zaun bricht.

Vielleicht lohnt sich ja ein Gespräch mit dem Magdeburger Extremismusforscher Matthias Quent, der auf Twitter und Linkedin darauf hinwies, dass Kapuzenpullover mit der Silhouette eines Polizisten mit Pyrotechnik angreifenden Mannes und dem Aufdruck „Im Osten ist es Tradition, da knallt es vor Silvester schon“ seit Jahr und Tag vertrieben werden.

Ich könnte beisteuern, dass ein Fußball-Chant mit Variationen der Textzeile „Doch einmal kommt es andersrum – dann rotzen wir die Bullen um“ sich in diversen ostdeutschen Szenen bis heute einer ziemlichen Beliebtheit erfreut – auch wenn die Ursprünge im Freiheitskampf gegen das SED-Regime liegen.

Quent bringt es folgendermaßen auf den Punkt:

„Die Rassifizierung sozialer Probleme, wie wir sie im Diskurs um die #Silvesternacht in #Berlin derzeit erleben, verschleiert mehr Probleme, als zur Sprache kommen. […] Ein pseudowiderständiger Habitus der sich als entwertet und verlassen Wahrgenommenen ist radikalisierungsanfällig. Unabhängig von Hautfarbe und Religion.“

Letzteres rechtfertigt die Angriffe auf Polizei und Rettungskräfte in keiner Weise, aber wenn man dort wie hier nicht versteht (und auch nicht verstehen will), warum es dazu kommt, wird man in einer zum Ritual erstarrten politischen, gesellschaftlichen und medialen Wiederholungsschleife gefangenbleiben. Denn Günar Balci hat Recht: Die jungen Männer mit „Migrationshintergrund“ gehen zum größten Teil nicht mehr weg. Es sind Berliner Jungs, genau wie wir damals. Wir alle brauchen weitaus bessere Antworten als wahlweise „Böller verbieten“ oder „kriminelle Ausländer raus“.

20 Kommentare

  1. Mag jetzt nicht der Punkt des sehr guten Artikels gewesen sein, aber der Vollständigkeit halber hätte ich mich über ein zwei Sätze zu den imho völlig legitimen Gründen gefreut, die abseits von Neukölln für ein grundlegendes Böllerverbot sprechen: Umweltschutz, Entlastung des Gesundheitssystems usw.
    Seh da Parallelen zum Tempolimit: Klar, Rasen ist geil*, aber Kosten/Nutzen stehen gesamtgesellschaftlich in keinem Verhältnis und diese Tradition, dass wir einmal im Jahr großflächig Besoffene Männer mit Sprengstoff ausstatten, könnte mal auf den Prüfstand.

    * und grün!!! :D

  2. Wenn ich das nicht falsch verstanden habe, hat die Berliner Polizei in der Silvesternacht insgesamt (!) 145 Menschen festgenommen, nicht allein im Zusammenhang mit „den Krawallen“ bzw. den Angriffen auf sie.

  3. Ein wirklich sehr guter Kommentar.
    Wenn ich die Reaktionen diverser Personen – vor allem derer in politischer Verantwortung – in Social Media sehe, würde ich vielen dieser Personen ans Herz legen, sich Ihrer Herangehensweise an Themen zu bedienen.
    Die Realität ist leider die, dass z.B. ein CDU MdB, drei Tage nach Silvester, in einem „Youtube-Format“ eine Einordnung vornimmt, die oberflächlicher und diskriminierender nicht sein könnte…

  4. Wenn man schon bei Narrativen ist, will ich aber auch loswerden, dass ich „Böllerverbot!?“ auch für eine ziemlich schräge Rahmung halte. Dass nicht dafür ausgebildete, zudem oft alkoholisierte Personen ohne irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen Unmengen Feuerwerk im öffentlichen Raum zünden, ist – aus guten und wie mir scheint auch gesellschaftlich ziemlich akzeptierten Gründen – grundsätzlich nicht erlaubt. Nur einmal im Jahr wird eine Ausnahme gemacht. Warum? Weil das eine „Tradition“ ist? (Seit wann eigentlich, 1980?)

    364 Tage im Jahr ersticken C*U, FDP und Konsort:innen nicht im Unfreiheitsregime des linksgrünversifften Verbotsstaates – aber zu Silvester hängt von diesem dummen Geknalle das Schicksal der Republik ab. Was für eine Heuchelei.

    Das ist, wie #2 richtig schreibt, sicher nicht der springende Punkt bei dem Artikel. Pardon, ich find’s dennoch nicht ganz unwichtig.

    Diese derzeitige elende, vorhersehbare und offensichtlich rassistische Mediendebatte geht mir nicht nur gegen den Strich, weil sie elend, vorhersehbar und offensichtlich rassistisch ist, sondern auch, weil sie von dem anderen Thema ablenkt.

    *Zum Glück haben sie in Berlin noch ein paar Randalierer gefunden. Jetzt können wir endlich wieder über Ausländer reden und müssen uns nicht auf die offensichtliche Unsinnigkeit der silvesterlichen Massenknallerei hinweisen lassen. Mit freundlichen Grüßen, Ihre CDU.*

    Tut mir leid, dass das so ein Frustkommentar ist. Der Artikel hätte Besseres verdient.

  5. Sprechen wir über die Bezeichnung „Migrations Hintergrund“. Ein Begriff, der mit „gut gemeint, im schlechtesten Sinne“ wohl am besten beschrieben wäre.
    Der klebt nun an den Menschen, dieser Begriff, der umgangssprachlich nur noch mit „nichtdeutsch“ synonym gelesen wird.
    Und er ist natürlich die ganz grobe Kelle.
    Ein Elternteil wurde ohne deutschen Pass geboren? Migrationshintergrund! Das wäre die „offizielle“ Lesart. De facto aber reicht es bei weitem, wenn es die Großeltern waren, die vor mitunter einem halben Jahrhundert ins Land geholt wurden. Subsummiert könnte man auch sagen:
    Du wirst niemals deutsch werden. Punkt.
    Futter für die „great reset“ VT Spinner ist auch eingebaut. Wenn ein Ahne reicht, als nichtdeutsch gelesen zu werden, erledigt die Mathematik den Rest.
    Da kommen wir zu dem zweiten Problem:
    Angebliche „Wahrheiten“, die einer dermaßen heterogenen Gruppe angedichtet werden.
    Jens Spahn dröhnt stante pede von der „ungeregelten Migration“, die verantwortlich wäre für die Angriffe. Also unter anderem auch die „ungeregelte Migration“ der Großeltern in den 60ern?

    Als Hilfskonstruktion muss dann ein „Phänotyp“ herhalten. Und da wird es wieder ganz düster. Meine Fresse, die Hamburger CDU hat an Personal wirklich nur noch Neue Bundesländer Blockflöten Niveau und darunter zu bieten.

    Abstrahieren wir mal von Problemen in der Darstellung. Der gezielte Angriff auf Hilfskräfte und Polizei, irgendwie auf alles mit Uniform, Einsatzwagen und Alarmlicht, gibt doch zu denken. Mir zumindest. Wessen Symbole werden da angegriffen?

    Es gibt ein Problem mit der Integration in diesem Land und abseits von der Frage nach Schuld oder Unschuld, muß uns klar sein, dass das gelöst werden muss. Und zwar auch mit Hinblick darauf, dass die OECD Staaten zunehmend in Konkurrenz stehen, was die Attraktivität für internationale Fachkräfte angeht.
    Fun fact: Wir sind da nicht gerade in der Poolposition. Und die Menschen beobachten uns da ganz genau. Fragen sie mal ostdeutsche Firmen, wie gut die ausländisches Fachpersonal rekrutieren können.

    Was wäre also lösungsorientiertes Denken? Oder was ist es sicher nicht?
    Dieser Kommentar ist unerträglich lang, aber immer noch unzulässig verkürzt für so ein heikles Thema. Verkürzungen sind hier niemals lösungsorientiert, sondern eigentlich immer nur populistisch, von Eigeninteressen durchsetzt.
    Integration wird nach wie vor meist als einseitige Bringschuld und Assimilation gelesen. Einbürgerung als großzügige Gabe verkitscht.
    Einbürgerung sollte schnell erfolgen, weil sie Integration befördert, meint dagegen die Migrationsforschung.
    Pragmatismus sollte uns leiten, nicht rassistischer Dünkel.
    Haben wir Probleme mit patriarchalen Strukturen und toxischer Männlichkeit in der Gesellschaft?
    Aber sicher. Und das muss natürlich auch thematisiert werden dürfen?
    Und zwar mit ehrlichem Interesse an Lösung, nicht an Bestätigung eigener Vorurteile und Fischen am rechten Rand.
    Solange Populärrassisten wir Sarrazin und Buschkowski unser Verhältnis zu einem Teil der Gesellschaft verhandeln dürfen, werden wir nicht weiterkommen.
    Just my 2 cents.

  6. Danke für diesen Artikel, der mich auch zum Überdenken meiner Position anregt.
    Wie zwei vor mir auch schon sagten: Für eine Abschaffung der Aufhebung des (sonst ganzjährig gültigen) Böllerverbots an einem Tag im Jahr gibt es aber noch mehr gute Gründe, vor Allem die Entlastung von Krankenhauspersonal an eben diesem Tag.
    Gegen „Verbote“ zu sein, lässt sich aber so herrlich instrumentalisieren …

    Der Artikel geht leider gar nicht auf die Fakes ein:
    https://www.tagesschau.de/faktenfinder/berlin-silvester-fake-101.html

  7. Vielen Dank für diesen besonnen, abwägenden und wohlinformierten Kommentar! Auch im neuen Jahr ist Übermedien einfach eine Bank in der Medienlandschaft :)

  8. Schade, dass hier so wohlwollend auf den taz-Kommentar eingegangen wird, denn der ist einfach unlogisch.

    Erstens liegt der Schaden von Böllern und Eskalation, wie zurecht immer wieder angemerkt, eindeutig bei der ärmeren Bevölkerung. Auch die Klima- und Umweltaspekte, die hier immer wieder unwirsch beiseite gewischt werden, betreffen die ärmsten im In- und Ausland am stärksten. Ein Tag Brot und Spiele im Jahr, ein Tag Purge, damit sich der Mob mal so richtig gegeneinander (!) austoben kann und dann das restliche Jahr brav die Klappe hält soll links sein? Das steckt ein völlig falsches Verständnis von Klassenkampf dahinter – im Gegenteil, der Autor möchte sich ganz erkennbar moralisch über eben diese angeblichen liberalen Linken erheben. Leider sehe ich das hier in diesem Artikel auch.

    Zweitens wirken die Argumente gegen ein Verkaufsverbot konstruiert. Menschen müssen nach Polen fahren, also bringt es nichts – schließt der Autor auch seine Wohnung nicht ab, weil ein Einbrecher ja sowieso einen Weg hinein finden würde? Die Mehrheit, die sich friedlich daran erfreut – nichts an böllern ist friedlich, Menschen werden gestresst, Tiere werden gestresst, die Luft wird schlimmer verpestet als von Dieselautos und den Klimawandel treibt es auch noch an.

  9. Sehr guter Kommentar! Das Differenzierteste und Sachlichste, was ich bisher zu diesem Thema gelesen habe. Es stört mich nur immer eine Sache: Ich weiß, es ist wissenschaftlicher Konsens, dass Perspektivenlosigkeit eine Rolle bei der Ausübung Gewalt und Aggression spielen kann. Dem will ich nicht widersprechen. Allerdings stört es mich trotzdem immer sehr, wenn, untermauert mit einer sehr Thomas Hobbes‘schen Denkweise, in der Diskussion so getan wird, als ob „prekäre Schicht“ und unverschuldete schlechte Integration unweigerlich sehr häufig zu irgendwelchen Gewaltausbrüchen führt und das ist leider ein Problem, aber die, oben zitierten, Jungs sind dem ausgeliefert. Nein. Die wehren sich, weil sie auf nichts als Ablehnung stoßen. Warum ist man sonst scheiße zu anderen Menschen? Weil man keine Wertschätzung erfährt. Weil man nie genug ist, in dieser Gesellschaft, die nur darauf schaut, welchen Nutzen man für sie hat. Weil ein sog. glanzloser Job nichts zählt, obwohl wir eigentlich alle in der Lockdown-Zeit gelernt haben sollten, dass noch wichtiger als Krankenpfleger vielleicht die Putzkolonnen sind, die im Krankenhaus dafür sorgen, dass es keine bakterienverseuchten Todesfallen sind. Oder die Jungs von der Müllabfuhr. Aber geklatscht hat niemand für die. Geschweige denn einen Bonus gezahlt. Nein, als Dank dafür, wird immer noch auf die Frau herabgeschaut, die unterwürfig, aber evtl. mit Kopftuch, hinter uns unseren Dreck wegwischt, aber auch die Mutter von einem dieser Jungs ist. Ganz ehrlich-mir platzt von dieser Arroganz von uns affluentem Bildungsbürgertum schon beim Schreiben dieser Zeilen die Hutschnur. Natürlich sind „die Jungs“ zornig. Völlig zu Recht. Und völlig unabhängig von Armut oder Schicht-zumindest nicht so, wie wir alle denken. Der Fehler ist, dass wir „glanzlos“ nicht wertschätzen, obwohl wir davon abhängen. Wir denken immer noch in Hierarchien, dabei haben wir alle erlebt, wie nutzlos Crypto-Milliardäre sind, wir aber unter keinen Umstand auf Kassiererinnen oder Fließbandarbeiter verzichten können. Da hätte ich auch nicht übel Lust, kaputt zu machen, was mich kaputt macht. Also lasst uns über „Schichten“ reden. Aber aus der richtigen Perspektive.

  10. @#4: Stefan Fries:
    Vielen Dank, das das müssen wir nochmal checken+korrigieren.

    @#2+#5+#7+#10 Thomas/* eman/Anderer Max/erwinzk:
    Re: Böllerverbot. Es stimmt, dass ich da nicht viel von halte – und es deshalb so verhandle. Ich glaube, man verbeißt sich in eine weitere Regulierung, die bei einem sehr großen Teil der Bevölkerung auf Ablehnung stößt. Selbst, wenn es mittlerweile in Umfragen Mehrheiten dafür gibt, so sind doch um die 40% dagegen, im Osten teilweise (zB in Brandenburg) sogar mehr als die Hälfte. Ich halte es daher für gesellschaftlich gefährlich, hier der anderen Hälfte das Vergnügen zu nehmen, weil man selbst die „vernünftigeren“ Argumente hat.

    Ja, nicht alle Traditionen sind erhaltenswert – und vielleicht wird auch das Böllern an Silvester irgendwann sang- und klanglos abgeschafft. Aber dass Menschen sich seit Jahrhunderten quasi weltweit an Feuerwerk erfreuen, ist nicht abzustreiten. Ähnlich wie beim Tempolimit finde ich den „Gewinn“ eines Verbots zu klein, um damit eine weitere Polarisierung zu schaffen, die 40 Prozent ablehnen. Man befeuert (no pun intended) genau die Ressentiments, von denen AfD & Co. leben – für mMn sehr wenig Gewinn – schließlich geht es um einen einzigen Abend – den Rest des Jahres ist es ja verboten.

    Zudem finde ich wie gesagt, links der Mitte sollten Verbote im Wesentlichen nicht Ziel von Politik sein, aber das ist ein anderes Thema. Hinsichtlich der Klassenfrage werden wir uns da auch nicht einig, @erwinzk, es ist ein paternalistisches Argument, zu sagen, wir müssen die ärmere Bevölkerung eben zu ihrem Glück zwingen. Denn das zumindest lässt sich am Hotspot Neukölln ablesen: Silvester wird dort mit Böllern gefeiert, auch und gerade von einer ansonsten marginalisierten Bevölkerung. Dass diese deswegen des Rest des Jahres die Klappe halten, ist eine Behauptung, die ich nicht teile.

    @#12 Anne: Ja, da habe ich wenig Widerspruch. Deshalb wäre mir eine breite politische Linke lieber, die für all das kämpft als für ein Böllerverbot. 😎

    @alle anderen: Vielen Dank für Lob und Kritik.

  11. Wohltuender Balsam auf meine – insbesondere vom Münchner Merkur – geschundene Leserseele, wo der Kommentar des Chefredakteurs zu den Vorkommnissen dem Fass den Boden ausschlägt: https://www.merkur.de/politik/berlin-silvesternacht-boellern-nebelkerzen-kommentar-konsequenzen-giffey-spd-92008472.html
    Solche Kommentare ohne die entsprechende Recherche, wer die Gewalttäter waren, fußend lediglich auf „Einschätzungen“ von Leuten, die das wiederum von anderen gehört haben und dann noch zitiert aus anderen Quellen (Focus, Bild) legen die Messlatte nicht nur verdammt tief, sondern beseitigen sie einfach…..

  12. @#4 Stefan Fries:
    Die Zahlen bezogen sich auf „bei den Krawallen Festgenommene“, also so wie im Text.

  13. Danke für diesem guten Kommentar. Er spricht mir zum Teil aus der Seele. Als Verfechter des Feuerwerksverbots möchte ich aber hinzufügen, dass es mir vorrangig um die Umweltschäden, toten und eingeschüchterte Tiere und traumatisierten und verängstigten Personen geht, dessen Freiheiten in der Sylvesternacht eingeschränkt werden. Ich kann hierfür den (etwas populistischen) Kommentar von Christopher Lauer empfehlen, der meine Position widerspiegelt.

    https://www.businessinsider.de/politik/kommentar-zu-silvester-von-christopher-lauer-schluss-mit-dem-boeller-terror/

  14. Herr Reisin, als Böllerhasserin finde ich Ihre Gründe gegen ein Verbot (gerade auch noch mal die hier in den Kommentaren) aufschlussreich, vielen Dank. (Der Artikel ist eh super, auch der Spiegel-Link zur Kriminalitätsstatistik lohnt sich sehr.)
    Trotzdem noch eine Böller-Anmerkung: Die Böllerei ist auch ein sehr männliches Phänomen. Ob in Neukölln (woher meine Familie kommt) oder Prenzlauer Berg, ob 80er, 90er oder 2000er, ob ich Kind war, Jungendliche oder jetzt erwachsene Mutter eines Sohnes: Immer saßen und sitzen die Mädchen und Frauen und eben auch die Mütter genervt bis verängstigt drinnen oder stehen daneben und hoffen, es möge alles gut gehen. Ich höre die politischen Argumente, aber im Namen der allermeisten Frauen sage ich: Böllern ist Machokacke.

  15. Diese Denkfaulheit resultiert wohl daher, dass die Beteiligten nicht an einer Einigung oder einen Kompromiss interessiert sind, sondern ihre jeweiligen Agenden durchdrücken wollen.

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