Wochenschau (139)

Zum Ende des Jahres zeigen alle ihre Röntgenbilder

"Spotify-Wrapped"-Screenshot in ein Röntgenbild einer menschlichen Brust montiert.
Screenshot: Spotify; Montage: Übermedien

„Warten Sie nur, gleich werden wir Sie alle beide durchschaut haben. Ich glaube, Sie haben Angst, Castorp, uns Ihr Inneres zu eröffnen? Seien Sie ruhig, es geht ganz ästhetisch zu“, erklärt der Arzt dem Protagonisten Hans Castorp und seinem Vetter Joachim Ziemßen in Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“, kurz bevor er ihn im Schweizer Sanatorium röntgen wird. Castorp ist die Durchleuchtung seines Inneren unheimlich, die technisch ermöglichte Introspektion suspekt, das unwirkliche Skelett, das da in seinem Körper haust, fremd. Der Arzt indes, begeistert von den neuen Möglichkeiten Verborgenes sichtbar machen zu können, verspricht:

„Sie kriegen ein Freiexemplar, Castorp, dann können Sie noch Kindern und Enkeln die Geheimnisse Ihres Busens an die Wand projizieren!“

Was das digitale Sammeln unser Nutzungsdaten, unserer Aufmerksamkeitsspanne, unserer Klickgewohnheiten oder unseres Teilverhaltens angeht, waren wir lange Zeit ähnlich skeptisch wie Castorp. Und es herrscht bis heute eigentlich ein berechtigter Argwohn vor unseren Alter Egos, die mithilfe von Big Data von uns erstellt werden und an welche sich individuell zugeschnittene Kaufempfehlungen und Werbeanzeigen richten. Man hat es zurecht nicht so gerne, dass Internetkonzerne und soziale Plattformen unbemerkt mit einem riesengroßen Objektiv in unser vermeintliches Innenleben blicken.

Spotify macht Nutzer zu stolzen Schweizer Sanatoriumspatienten

Einem Anbieter ist es jedoch besser als allen anderen gelungen, dieses virtuelle Röntgen in etwas zu verwandeln, dass wir einmal im Jahr begeistert teilen wie Quantenphysiker, die kurz vor der Entschlüsselung der letzten Geheimnisse des Universums stehen. Denn zum Jahresende macht Spotify aus seinen Nutzern stolze Patienten eines Schweizer Sanatoriums, die animierte Röntgenbilder ihres Musikgeschmacks veröffentlichen, damit ihre Kinder und Enkel – und alle anderen auch – sehen können, wie es um ihre akustische Seele bestellt ist!

Das Kunststück von Spotify: aus unserem Datenskelett schön bunte, teilbare Kacheln zu machen, die jeweils am traditionellen „Spotify Wrapped“-Tag in die Timelines projiziert werden. Spotify Wrapped ist eine personalisierte Zusammenfassung, die vermittelt, in welcher Form man Spotify genutzt hat: welche Songs wurden am meisten gehört, welche Künstler oder Podcasts am häufigsten. Diese jährliche Auskunft wird Instagram-tauglich als Storyposts ausgegeben, alles daran ist so designt, dass das Teilen leichtfällt.

2021 wurde Spotify Wrapped in 1,2 Millionen Beiträgen auf Twitter erwähnt und Spotify Wrapped-Posts fast 60 Millionen Mal auf verschiedenen Social-Media-Plattformen geteilt. In der Woche der Veröffentlichung stiegen die Downloads der Spotify-App um über zwanzig Prozent.

Aber die mit bunten Farben und gefälliger Typografie umrahmten Künstler:innenpoträts können nicht über das existenzielle Unbehagen hinwegtäuschen, das hinter diesem kollektiven Röntgen steckt. Das Jahr kommt offiziell erst so richtig an sein Ende, wenn man in die Abgründe schaut, welche einem all die fremden Spotify Wrapped-Endjahreslisten offenbaren. Aktuell ist das Timeline-Geschehen auf Twitter sowieso schon konfuser und kommunikativ unbrauchbarer als jemals zuvor. Am Tag der massenhaften Veröffentlichung der piktografisch aufbereiteten musikalischen Selbstevaluationen wird einem jedoch ein besonderer Blick in die menschlichen Untiefen der narzisstischen Selbstvergewisserung geboten: Ich streamte, also war ich.

Es ist, als würden alle gleichzeitig ihr musikkennerisches Dorian Gray-Porträt ins Schaufenster stellen. Wir schauen uns gegenseitig dabei zu, wie wir uns selbst dabei zuschauen, welche Songs und Podcasts wir gehört haben – eine Art musikalisches Spiegelselfie. Und seitdem Spotify Wrapped im Dezember 2016 erstmals auftauchte, fragte ich mich jedesmal: Warum gibt es so etwas eigentlich nicht auch für andere Medien und den allgemeinen Online-Konsum?

Fingerabdrücke der „Washington Post“-Leser

Dieser stumme Ruf nach noch mehr Selbsterkenntnis und Röntgenbildern hat die „Washington Post“ endlich erhört, denn am vergangenen Mittwoch veröffentlichten sie erstmals einen Nachrichtenrückblick im Stile von Spotify Wrapped.
Die „Washington Post“-Produktmanagerin Jessica Gilbert erklärte:

„Wir haben zunächst einen ‚Rückblick‘ entwickelt, sind dann aber umgeschwenkt, als wir feststellten, dass unsere Leser mehr an Einblicken interessiert sind, die sich auf ihre Lese-‚Persönlichkeit‘ und die Entdeckung von Inhalten konzentrieren, als an der Wiederholung von Nachrichten aus der Vergangenheit.“

Du kannst „Rückblicke“ nicht ohne „icke“ schreiben, es geht nie um die Rückschau sondern die Reminiszenz, Schwelgen im medialen Vergangheits-Ich für mehr Gegenwarts-Selbst. Dieser personalisierte Jahresrückblick wird als sogenannter Newsprint bezeichnet, also Print wie Abdruck – tatsächlich präsentiert die „Washington Post“ einem den eigenen Nutzungs-Fingerabdruck – und übersetzt die Idee in der Visualisierung:

Fingerabdrucklinien zeigen, welche Geschichten man am häufigsten gelesen hat, welche Lieblingsautoren und welche Ressorts man regelmäßig aufschlug, verbunden mit der Empfehlung anderer Artikel und passender Newsletter, entsprechend der eigenen Lesegewohnheiten.

Dadurch wird dem eigenen Konsum eine Adelung zuteil, welche bewirkt, dass ich mich etwas besonders fühle – obwohl vermutlich die meisten Leser:innen diesen Satz zu lesen bekommen –, denn anhand meines Nutzungsverhalten schließt die ehrwürdige Washington Post tatsächlich: „As a reader, you’re politically savvy and opinionated“ – „Als Leserin sind Sie politisch versiert und meinungsfreudig.“

Screenshot der "Washington Post"-Auswertung: "As a reader you're politically savvy and opiniated"
Screenshot: „Washington Post“

Es ist besser als jedes Horoskop! Die „Washington Post“ hat tief in mein reines Herz geblickt, selbstverständlich möchte ich deshalb diesen Fingerabdruck mit anderen Menschen teilen, anderen zeigen, wie hart ich das gesamte Jahr an dieser politischen Versiertheit und Meinungsfreude gearbeitet haben muss, nur um letztlich mit Recht von mir selbst behaupten zu können, dass ich „politisch versiert“ und „meinungsfreudig“ bin.

„Durch die sozialen Medien sind viele Menschen schnell zu der Ansicht gelangt, alle neuen Informationen seien eine Art direkter Kommentar darüber, wer sie sind“

So schreibt es Jia Tolentino in ihrem Buch „Trick Mirror: Über das inszenierte Ich“. Dieses Missverständnis hat Spotify erfolgreich bedient – und auch die Washington Post möchte nun daran anknüpfen. Es basiert auf drei Täuschungen gut designter und spielmechanisch schlau programmierter Plattformen:

  1. Es geht um mich.
  2. Es geht um mich im Vergleich zu anderen.
  3. Es ist shareable.

Erinnert alles ein bisschen an „Wordle“

Dieses digitale Impression-Management ist auch für Medienschaffende schmeichelhaft, wenn man in all den Listen auftaucht und drei-, vierstellige Zahlen liest, die belegen, dass sich ein Publikum nachweislich, dokumentierbar mit den eigens produzierten Inhalten auseinandergesetzt hat. Aber in der Summe sind natürlich alle Spotify Wrapped-Postings nervig, weil langweilig, weil nur für die Personen selbst von informationellem Mehrwert – ein bisschen so wie damals die „Wordle“-Resultate, als sich die Timelines zu einem Meer aus irrelevanten gelben und grünen Kästen verwandelten.

Die Selbstbespiegelung in Form von Mediennutzungsstatistiken erscheint jedoch nur konsequent, und ich vermute, dass auch andere Anbieter nachziehen werden. Denn: Spotify Wrapped ist kein schlichter Jahresrückblick, sondern die Verschriftlichung des eigenen Musikgeschmacks, die transkribierte Version eines akustischen Weinkellers, in dem sich wieder mal ein ganz besonderer Jahrgang verbirgt. Es führt in messbaren, das heißt, auch mit gut vergleichbaren Einheiten, vor Augen, was man alles gehört hat, und tut so, als könne es etwas darüber aussagen, wer man ist, dank zugewiesener „Hörerpersönlichkeitstypen“.

Noch interessanter wird dieses Selbstresümee beim Betrachten von Podcasts, als ein scheinbarer Spiegel der eigenen Gesellschaftsdurchdringung, also nicht nur als unterhaltsamer Konsum, sondern als eine kontinuierliche Ohrarbeit, ein gesellschaftspolitisches Curriculum – und dann auch noch hierarchisiert! Man erlag der Nation, man precht und lanzte, aber mehr noch wurde man fest und flauschig akustisch betreut, man mischte Hack mit Filterkaffee und Verbrechen, man fühlte die Nachrichten.

Das existenzielle Unbehagen, dass sich bei mir beim Sehen der Listen einsetzt, ist nicht nur der ungewohnte Blick auf das stolz präsentierte Medienrezeptions-Innenleben Einzelner, sondern dadurch auch die unverhohlene Sichtbarmachung, was Anbieter eigentlich davon haben, außer der visuellen Bewerbung ihrer Dienste. Die jährliche Auslese (jetzt reicht es aber mit der Weinmetaphorik!) meiner Daten zeigt mir nicht nur, wer ich bin, sondern auch, glaubt man den Datenerhebenden, wer ich werden möchte. So erklärte Jessica Gilbert in der Washington Post: „Newsprint, unser durch künstliche Intelligenz gestütztes Erlebnis, zeigt unseren Abonnenten, wo sie hinwollen.“


Abermals spähte der Hofrat durch die milchige Scheibe, diesmal in Hans Castorps Inneres, und aus seinen halblauten Äußerungen, abgerissenen Schimpfereien und Redensarten schien hervorzugehen, daß der Befund seinen Erwartungen entsprach. Er war dann noch so freundlich, zu erlauben, daß der Patient seine eigene Hand durch den Leuchtschirm betrachte, da er dringend darum gebeten hatte. Und Hans Castorp sah, was zu sehen er hatte erwarten müssen, was aber eigentlich dem Menschen zu sehen nicht bestimmt ist, und wovon auch er niemals gedacht hatte, daß ihm bestimmt sein könne, es zu sehen: er sah in sein eigenes Grab. Das spätere Geschäft der Verwesung sah er vorweggenommen durch die Kraft des Lichtes, das Fleisch, worin er wandelte, zersetzt, vertilgt, zu nichtigem Nebel gelöst, und darin das kleinlich gedrechselte Skelett seiner rechten Hand, um deren oberes Ringfingerglied sein Siegelring, vom Großvater her ihm vermacht, schwarz und lose schwebte: ein hartes Ding dieser Erde, womit der Mensch seinen Leib schmückt, der bestimmt ist, darunter wegzuschmelzen, so daß es frei wird und weiter geht an ein Fleisch, das es eine Weile wieder tragen kann. Mit den Augen jener Tienappelschen Vorfahrin erblickte er einen vertrauten Teil seines Körpers, durchschauenden, voraussehenden Augen, und zum erstenmal in seinem Leben verstand er, daß er sterben werde. Dazu machte er ein Gesicht, wie er es zu machen pflegte wenn er Musik hörte, – ziemlich dumm, schläfrig und fromm, den Kopf halb offenen Mundes gegen die Schulter geneigt. Der Hofrat sagte:

„Spukhaft, was? Ja, ein Einschlag von Spukhaftigkeit ist nicht zu verkennen“

Und dann tat er den Kräften Einhalt. Der Fußboden kam zur Ruhe, die Lichterscheinungen schwanden, das magische Fenster hüllte sich wieder im Dunkel. Das Deckenlicht ging an. Und während auch Hans Castorp sich in die Kleider warf, gab behrens den jungen Leuten einige Auskunft über seine Beobachtungen unter Berücksichtigung ihrer laienhaften Auffassungsfähigkeit. Was im besonderen Hans Castorp betraf, so hatte der optische Befund den akustischen so genau bestätigt, wie die Ehre der Wissenschaft es nur irgend verlangte. Es seien die alten Stellen sowohl wie die frische zu sehen gewesen, und „Stränge“ zögen sich von den Bronchien aus ziemlich weit in das Organ hinein, – „Stränge mit Knötchen“. Hans Castorp werde es selbst auf dem Diapositivbildchen nachprüfen können, das ihm, wie gesagt, demnächst werde eingehändigt werden. Also Ruhe, Geduld, Mannszucht, messen, essen, liegen, abwarten und Tee trinken. Er wandte ihnen den Rücken. Sie gingen. Hans Castorp, hinter Joachim, blickte im Hinausgehen über die Schulter. Vom Techniker eingelassen, betrat Frau Chauchat das Laboratorium.

Auszug aus: „Der Zauberberg“, Erster Band, von Thomas Mann.

3 Kommentare

  1. Irgendwie witzig, bei „last.fm“, vormals „Audioscrobbler“ musste man (ca. 2004) noch umständlich ein Winamp 2.x Plugin installieren, damit die Website die Plays auswertet und Statistiken anzeigt. Ganz schön verrückt, die Geschwindigkeit des Medienwandels.

  2. Wunderbar ausformulierte Beobachtung!
    (Und: ergreifend; man sollte mal wieder Thomas Mann lesen. Vielleicht ja „zwischen den Jahren“ – danke auch hierfür!)

  3. @1 last.fm (oder offene/freie Alternativen) sind immer noch alternativlos, denn wer will sich schon seine Persönlichkeitsschau via Musikgeschmack ausschließlich auf das beschränken, was zufällig im löchrigen Spotify-Katalog vorhanden ist?

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