Die Kolumne
Michalis Pantelouris ist Journalist und hat an vielen Magazin-Erfindungen und -Relaunches mitgewirkt. Er geht für uns jede Woche zum Bahnhofskiosk, um Zeitschriften zu entdecken.
An ihren ausgefransten Rändern bieten die Olympischen Spiele possierlichen Athletinnen und Athleten in Randsportarten die Gelegenheit, ihre obskuren Hobbys einmal im Leben vor einem gigantischen Publikum zu präsentieren. Ich fand das immer irgendwie herzerwärmend. Seit meiner Entdeckung dieser Woche im Bahnhofskiosk ist es mir allerdings plötzlich Wurst, weil es etwas viel, viel, viel interessanteres gibt: Eine Sportart, die ständig und überall auf der Welt viele Zuschauer hat, die aber meistens nicht bemerken, dass es sich bei der dargebotenen Leistung um Sport handelt – nämlich Pole Dance, das sinnlich-akrobatische Tanzen an einer vertikalen Stange.
Mir war das auch nicht klar, bis ich „Pole Art – The Pole Dance Magazine“ gelesen habe. Ich kannte Stangentanz nur vom Striptease, womit wir beim Hauptthema meiner Ausgabe von „Pole Art“ wären, die sich als Roter Faden durch das ganze Heft zieht: Wie viel vom (wie die Fachleute sagen) „Exotic Dance“ gehört zum Pole-Sport? Dochdochdoch, und das ist das Irre: Das ist eine echte Diskussion und Grundsatzfrage in dieser Szene. Und ja, es gibt eine Szene. Und ja, sie diskutiert. Und ja, zugegeben, ich habe das Heft vor allem gekauft wegen der Titelzeile „Twerking – So tanzt du mit dem Hintern“.
Michalis Pantelouris ist Journalist und hat an vielen Magazin-Erfindungen und -Relaunches mitgewirkt. Er geht für uns jede Woche zum Bahnhofskiosk, um Zeitschriften zu entdecken.
Anders als bei den Olympischen Nächten, in denen man seine Schlafprobleme damit bekämpft, auf dick vermummte rundliche Frauen zu glotzen, die sich keinen Millimeter bewegen (ich schwöre!) und dann plötzlich gerade mit einem Luftgewehr auf eine Scheibe geschossen haben sollen, ist aber die Auseinandersetzung mit den extrem beweglichen, halb nackten Stangentänzerinnen eine, bei der mit jeder Seite das dunkle Gefühl wächst, diese ganze Sache geht bedeutend tiefer als ich es gedacht hatte.
„Pole Art“ ist von Leuten gemacht, die offenbar sehr viel vom Stangentanz verstehen, nämlich von Sandra und Marco (so stellen sie sich im Editorial vor). Sie verstehen nicht ganz so viel vom Magazinmachen, das muss ich vorweg sagen. Sandra macht die Fotos und Marco das Layout, beide zusammen machen praktisch alles andere, und die (vornehmlich) Autorinnen werden nach Fachwissen ausgesucht und weniger nach ihrem Schreibstil.
Ich muss das jetzt alles vor allem deshalb sagen, damit ich mich besser fühle, wenn ich etwas besser weiß, weil sie mich in Wahrheit kalt erwischt haben. Ich habe am Regal gestanden und gedacht „Es gibt – was? Ein Heft für Stangentanz? Das wird eine leichte Woche, danke, Leben!“ Und dann habe ich es mit schlecht verhohlener Abschätzigkeit gelesen, und sie haben mir einfach nur ihre Ernsthaftigkeit entgegengehalten. Auf jeder Seite wieder.
Ich wollte eigentlich über sie lachen, aber irgendwann habe ich mich schlecht gefühlt mit meinem inneren Gemecker darüber, dass immer entweder gar keine Vorspänne da sind oder viel zu lange, langweilige, und dass die Proportionen im Layout manchmal nicht stimmen, weil da Geschichten viel zu groß aufgemacht sind, und diese Covergestaltung, bei der die Lesbarkeit nicht stimmt, weil in weitesten Teilen alles darauf den gleichen Grauwert hat. So Handwerkszeug. Während unterhalb dieser langweiligen Feststellungen im Heft – ein bisschen umständlich aber dafür ernsthaft – echte, tiefe Fragen gestellt und manchmal sogar beantwortet werden.
Wie fühle ich mich mit meinem Körper, zum Beispiel, und wie ändert sich das, wenn ich ihn auf diese oder jene Art benutze und bewege? Der Sport Pole Dance ist, so weit ich das beurteilen kann, ein athletischer, kraftbetonter. Er eignet sich offensichtlich hervorragend als Fitnesstraining (es kommen übrigens auch männliche Tänzer im Heft vor). Dabei hat er eine ästhetische Komponente, wie Turnen oder Tanzen. All das hat er mit vielen anderen gemein. Aber dann ist er eben auch noch erotisch konnotiert.
Ja, auch das nehmen andere Sportarten für sich in Anspruch, mir fällt als erstes Beachvolleyball ein, aber da ist es eine aufgeklebte Nebenerscheinung, letztlich verdruckst, weil es eben nicht Teil des Sports ist. Man gewinnt kein Beachvolleyball-Match, weil man sexier ist als der Gegner. Beim Pole Dance ist, wenn man will, Erotik Teil des Sports. Ein wahnsinnig interessantes Feld.
Um gleich mit dem fiesestmöglichen anzufangen: In meiner Ausgabe von „Pole Art“ sind zwei Interviews mit Mutter-Töchter-Gespannen, die jeweils gemeinsam Pole Dance unterrichten. Eine Tochter erzählt, es sei für sie „natürlich schon manchmal ein wenig komisch dabei zuzusehen, wenn meine Mama sexy tanzt. Na ja, sexy zu tanzen ist einfach auch damit verbunden, dass man jemanden anmachen will, damit es dann ‚weitergeht‘. Und das stellt man sich nun einmal bei den eigenen Eltern, der eigenen Mama, nicht so gern vor.“
Nichts ist mit so viel inneren Hürden belastet wie Sex, und das wird sicher nicht einfacher dadurch, dass wir keine echten Trainingsmöglichkeiten haben. Um es mit einem Sport-Bild zu beschreiben: Wir üben Sex im Wettkampf. Ist da nicht möglicherweise ein Sport, der kein Sex ist, aber eine erotische Seite hat, die schlaueste Erfindung seit der Knack&Back-Croissantverpackung?
Das Gefühl für den und mit dem eigenen Körper; das Selbstbewusstsein; das Erleben und Ausleben der eigenen Sexualität – all das sind Spannungsfelder, universelle Spannungsfelder, und ich habe das in dieser ausführlichen, feinen Art vielleicht noch nie in einem Magazin besser beschrieben gefunden, gerade weil es nicht wirklich das Thema des Heftes ist, sondern nur immanent im eigentlichen – dem Sport – vorhanden. Praktisch jede der im Heft zitierten Frauen spricht mehr oder weniger direkt darüber, auf einfache, persönliche Art: dass sie an dieser Stange in ihrer Trainingsgruppe Dinge tun kann, die sonst in ihrem Leben nicht vorkommen, oder jedenfalls nicht so.
Sport ist immer eine Metapher auf das Leben, und Sportjournalismus muss das beschreiben, aber die Ebene Sexualität fehlt den allermeisten Sportarten doch weitestgehend – was Sport genau betrachtet zu einer sehr traurigen Metapher auf das Leben macht.
Wenn in „Pole Art“ Frauen beschreiben, was für eine Freude sie haben, bei ihrem Sport die turmhohen „Pornotreter“ anziehen zu können, die ihr in schummerigem Rotlicht geborenes Hobby mit sich bringt, dann freut, rührt und bedrückt mich das gleichzeitig, weil ich tatsächlich mit innerem „Höhöhö“ an das Thema herangegangen bin und beschämt wurde. Es ist ein bisschen mühsam, Geschichten über Glitzer-High-Heels zu lesen, wenn man sich selbst nicht so richtig welche wünscht, und viele Aussagen wiederholen sich in „Pole Art“ mit nur minimalen Variationen, aber was es offenbar für einen Unterschied im Gefühl für sich selbst machen kann, wenn man auf halsbrecherisch hohen Hacken steht, was groß macht und die Beine streckt und den Po schön formt, und damit für den Moment auf wundersame Weise so etwas wie eine ganz andere, mächtige, selbstbewusste Persönlichkeit schafft, das macht mich sehr, sehr nachdenklich.
Es ist ein offensiver, aktiver Umgang mit der eigenen Sinnlichkeit, oder vielleicht auch dem gefühlten Mangel derselben. Ein Üben und Ausprobieren. Mir fällt gerade wenig ein, was für mich vernünftiger klingt, als auf hohen Hacken an einer Stange zu tanzen. Ehrlich wahr.
Und ich finde es überraschend, dass ausgerechnet die mit der Rotlicht-Historie so eindeutig mehr über ihren Sport reflektieren als, sagen wir, all diejenigen, deren Sportarten sich von Kriegshandlungen ableiten. Man könnte 99 Dinge besser und schöner machen an „Pole Art“, aber was man nicht kann, ist was ich wahrscheinlich unbewusst vorhatte: bezweifeln, dass dieses Heft seine Daseinsberechtigung hat.
Probleme habe ich allerdings mit dem Serviceteil: Ich habe die Anleitung wirklich minutiös genau befolgt, aber auf meinen Selfie-Videos sieht es bei mir immer noch kein bisschen aus wie Twerken. Sandra? Marco? Liegt es an mir? Oder an meinen Schuhen?
„Pole Art“
9,90 Euro
Pole Art Magazine GbR
Das ist ein wirklich schöner Text. Musste mal gesagt werden.
All mein Wissen über Pole Dance kam bisher von dieser sehr angenehmen Quelle http://www.ohjoysextoy.com/tag/pole-dance/ (Queens of the Pole und Stag PDX speziell)
„An ihren ausgefransten Rändern bieten die Olympischen Spiele possierlichen Athletinnen und Athleten in Randsportarten die Gelegenheit, ihre obskuren Hobbys einmal im Leben vor einem gigantischen Publikum zu präsentieren. “
Allein schon für diesen obskuren und von jeglicher Sach- und Fachkenntnis befreiten Einleitungssatz hat der Beruf des Journalisten genau das niedrige Ansehen in der Bevölkerung verdient, das im jährlichen Berufsranking ausgewiesen wird. Sie possierlicher Pantelouris, Sie!
Oh wow, Journalisten dürfen keinen Humor haben und müssen sich mit Sport auskennen (anstatt so langweiligen Sachen wie Gesellschaft, Politik, Wissenschaft…)?
Meine Güte, SO heiß ist es in Deutschland doch nun auch wieder nicht. ;)
@ Frank Reichelt:
Wo der Satz von jeglicher Sach- und Fachkenntnis befreit sein sollte, erschließt sich mir nicht. Wenn man mag, dann kann man sich gerne an den Begriffen „possierlich“ und „Randsportart“ stören, wobei ich ersteren eher positiv lese und letzterer halt eine Definitionssache ist.
Mir hat die Kolumne auf jeden Fall mal wieder sehr gut gefallen. Das finde ich immer sehr faszinierend: Diese respektvollen Rezensionen schaffen es immer wieder auf gute Art ein positives Gefühl bei mir hervorzuzaubern.
Demnächst finden in Rio ja die Paralympics statt. Ihr glaubt gar nicht, was für obskure Sportarten und was für possierliche Athletinnen und Athleten man da erst zu sehen bekommt! Witzig, ne?
@ Frank Reichelt:
Ich sehe immernoch kein Problem. Weder „possierlich“, noch „obskur“ müssen zwingend negativ besetzt sein. Sie können es, wenn sie Ausdruck einer abwertenden Überheblichkeit sind. Da ich dies in den Kolumnen hier bisher noch nicht entdecken konnte, würde ich das auch hier nicht lesen. Für mich sind die Begriffe eher Ausdrücke einer niedlichen Verwunderung: Man muss nicht immer verstehen, was andere Menschen tun, man darf es aber auch auf gewisse Weise niedlich finden.
@Frank Reichelt: Sie wollen sicher nicht darauf hinaus, dass es das gleiche ist, Spitzensportler(innen) wegen ihres Sports possierlich zu finden, und behinderte Menschen wegen ihrer Behinderung.
Aber worauf sonst…?
Um das Ansehen des Journalistenberufs wäre es sicher besser bestellt, wenn Vertreter wie MP die Mehrheit stellen würden. Selbstreflexion und die Bereitschaft, bestehende Meinungen im ungetrübten Angesicht von Tatsachen zu revidieren, gehören in meinen Augen zu den größten Tugenden. Schon allein rein menschlich jetzt, aber wenn ich’s bedenke sicher auch journalistisch.
Und in diesem Artikel wird genau das so ehrlich und nachvollziehbar demonstriert, dass es mir zu nachtschlafener Zeit gar sehr das Herz erwärmt.
Darauf ein <3
Wo gibt es die Selfie-Videos zu sehen? :)
Darüber hinaus: Mal wieder ein Dankeschön für einen wunderbaren Artikel.
Ach, lasst den Reichelt doch in Ruhe, der Troll will doch nur spielen.
Ich lese bis jetzt jeden Beitrag von M.P. mit Interesse – und bin neugierig, welchen Sprachstil er nun anwendet, welche Wörter und Wortkombinationen er findet, wie er sich in Sprachspiralen hochwindet und kopfüber runterstürzt –
aber das Thema dabei ist mir jedes Mal wurscht.
Ob das an mir liegt oder seiner Selbstbespiegelung weiß ich wirklich nicht.
Wäre mir jetzt neu, dass paralympische Sportarten obskur wären, aber der Troll wird sich schon was dabei gedacht haben…
Jedenfalls freue ich mich bei Tokio 2020 schon auf Softball, Sportklettern und Skateboard.
„Es ist ein bisschen mühsam, Geschichten über Glitzer-High-Heels zu lesen, wenn man sich selbst nicht so richtig welche wünscht…“
Wunderbar. Und noch wunderbarer, wie der Autor jede Woche wieder Dinge/Themen mit einem Schmunzeln ernst nimmt.
Danke.