Wochenschau (134)

Das langweilige Hundepfeifen-Vokabular von Friedrich Merz

Friedrich Merz im "Bild"-Interview
Screenshot: bild.de

​​Es nervt so sehr, sich an dieser Stelle mit dem Unwort des Jahres 2013 auseinandersetzen zu müssen. Aber es muss sein. CDU-Chef Friedrich Merz hat am Montagabend in einem Interview mit „Bild“ den Begriff „Sozialtourismus“ benutzt, um eine angebliche Ausnutzung des deutschen Sozialsystems durch ukrainische Flüchtlinge zu behaupten:

„Wir erleben mittlerweile einen Sozialtourismus dieser Flüchtlinge: nach Deutschland, zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine.“

Diese Aussage ist falsch und „Spiegel“-Recherchen zufolge über rechtsextreme und russische Propaganda verbreitende Accounts in Umlauf gebracht worden. Und nun wird sie breit diskutiert, auch an dieser Stelle.

Ich weiß, ich weiß, ich weiß, es nervt so sehr. Und es nervt, sich wieder mit einem weiteren verbalen Übertritt von Friedrich Merz zu beschäftigen. Was erinnern wir uns gerne daran, als er Homosexualität in die Nähe von Pädophilie dachte oder als er sexuelle Orientierung als einen „Lebenswentwurf“ bezeichnete, so also suche man sich das Queersein aus wie eine Ausbildung oder als er sich über feminstische Außenpolitik lustig machte.

Was aber an Merz’ Verwendung des Wortes sehr gut herausgearbeitet werden kann, sind Diskursdynamiken populistischer Rhetorik, die wir etwa mit Blick nach Italien in Bezug auf Geflüchtete vermutlich nun häufiger beobachten werden können. Diskriminierungen von Minderheiten, in diesem Beispiel in Form einer kollektiven Diffamierung Geflüchteter, sind immer noch ein zu effizientes Instrument für politisch Arbeitende, um es nicht zu nutzen. Antagonisierungen von Menschengruppen, die durch die Aussagen explizit nicht als zur eigenen Ingroup zugehörig definiert werden, erfolgen aus Effektivität – es ist eine Ökonomie der gemachten Erregungsangebote.

Es geht um Macht

Fangen wir von hinten an und mit der Entschuldigung oder besser gesagt der Nonpology, die Merz twitterte, nachdem er viel Kritik für seine Aussage bei „Bild“ bekam. Darin schreibt er:

„Wenn meine Wortwahl als verletzend empfunden wird, dann bitte ich dafür in aller Form um Entschuldigung.“

Das Besondere an dieser Nicht-Entschuldigung: sie antagonisiert die beschriebenen Geflüchteten erneut. Nun zwar nicht mehr als kriminelle Touristen, immerhin, aber als die sensiblen Anderen. Durch Merz‘ Formulierung werden sie zu Opfern ihrer eigenen Empfindlichkeit. Er entschuldigt sich dafür, dass sie zu diesen Opfern wurden, aber nicht dafür, dass er sie dazu machte. Das ist vermutlich nicht die Intention, aber es macht ein grundsätzliches Missverständnis deutlich, wenn es um Sprachkritik geht. Die Art wie, diese Entschuldigung ausgeführt wurde, der Umstand, den Fokus auf verletzte Gefühle zu legen, zeigt, dass es im Politischen offenbar kein Verständnis davon gibt (oder man es nicht haben möchte), dass es bei Diskriminierungen nicht um Befindlichkeiten geht – sondern um ausgeübte und missbrauchte Macht.

Kränkungen werden zu realen Bedrohungen

Menschen, die antagonisiert werden – in diesem Fall die Geflüchteten, aber es könnten auch von Sexismus, Antisemitismius, Rassismus, Ableismus, Queer- oder Armenfeindlichkeit Betroffene sein – und durch die Diskriminierung unmittelbare Nachteile erfahren (ökonomische, soziale oder physische durch Verfolgung), hadern nicht mit der Kränkung, sondern mit Machtlosigkeit. Die Demütigung ist das eine, doch die existenziellen Konsequenzen machen die Ausgrenzung zu etwas Strukturellem und Unüberwindbarem.

Die türkische Familie, die die Wohnung nicht bekommt, weil dem Vermieter der Nachname suspekt ist, und die somit einen ökonomischen Nachteil durch Rassismus erfährt, ist nicht hauptsächlich „verletzt“ oder „gekränkt“ – sie hat keine Wohnung. Das hat nichts mit Empfindsamkeit zu tun, sondern mit Überleben. Die erfahrene Kränkung ist ein Nebenprodukt dieser Demütigung und Enthumanisierung, aber wird durch den systematischen sozialen Nachteil, den Menschenfeindlichkeiten erlauben, zum strukturellen Problem und nicht etwa zu einem des Emotionsmanagents. Die praktischen Konsequenzen, die Geflüchtete, die sich gerade aus einem Krieg hierher in Sicherheit bringen konnten, erleben müssen, wenn sie als „Sozialtouristen“ diffamiert werden, sind nicht nur die empfundene Traurigkeit oder Wut über diese Bezeichnung, sondern auch die existenzielle und reale Bedrohung in Form von Ausgrenzung, Hass und Attacken. Weil Agitierte sie für kriminelle Schmarotzer halten, also nicht der eigenen Gruppe zugehörige Menschen, erscheint ihre Enthumanisierung und Gewalt gegen sie vollkommen legitim.

Politisch geht es bei Sprachkritik nicht um Sensibilitäten, um den guten Ton, es geht nicht mal um Herz oder Anstand, sondern um die Macht. Hier die Macht, mit Worten und Bildern Menschen eine Zielscheibe auf den Rücken zu malen.

Wie man’s macht, macht man’s falsch

Nun zum Wort selbst. Es funktioniert wie jedes langweilige Vokabular einer Hundepfeifen-Politik, beispielsweise die „bad hombres“ von Donald Trump, um Hass auf Mexikaner zu schüren oder die „LGBT-Lobbies“ von denen Giorgia Meloni raunt. Solche Hochfrequenztöne schmeicheln den Eingeweihten, die sie vernehmen, binden die Energien der politischen Opponenten und enthumanisieren die Beschriebenen.

Und sie sind stets eine politische und mediale Falle, in die man tappt, wenn man sich mit dem Wort, wie auch hier in dieser Kolumne, auseinandersetzt, unabhängig davon, ob man darauf reagiert oder bewusst eben nicht: Denn Konservative benutzen das populistische Degradieren einer Menschengruppe eben nicht nur nur um Ressentiments zu schüren und nach Stimmen zu fischen (wenn das überhaupt gelingt), sondern auch, um durch diese Provokation Kritiker:innen aus der Deckung zu locken, deren Energie zu nutzen und ihre Kanäle in geistigem Guerrillatum zu belegen. Das scheint gerade in Bezug auf die anstehende Wahl in Niedersachsen aus konservativer Sicht eine sinnvolle Strategie, um potenziell AfD-Wählende für sich zu gewinnen.

Auch und gerade heftige Kritik und Widerspruch generieren Aufmerksamkeit für die Hundepfeifentöne; soziale Medien messen nicht, ob die inhaltlichen Auseinandersetzungen affirmativer oder demontierendender Natur sind.

„Algorithmen unterscheiden aber nicht, ob ihr etwas kritisiert oder gut findet. Wenn ihr anfangt, Dinge zu teilen oder zu kommentieren, pusht ihr den Post. Es bekommen ihn mehr Menschen in die Timeline gespült und die Person kann ihre Reichweite vielleicht sogar steigern“, schreibt Pia Lamberty, Geschäftsführerin der cemas und Expertin für Verschwörungsmythen, auf Twitter.

Eine Diskurstaktik ist natürlich: willentlich nicht darüber zu sprechen, Aussagen wie die von Merz als kalkulierte Empörung des Tages wegzusortieren. Das willentliche Ignorieren erfolgt jedoch um den Preis, dass der symbolischen Gewalt gegenüber Geflüchteten freier Lauf gelassen wird.

Es ist das Aufmerksamkeitsdilemma unserer liberalen Demokratien: wir können nicht ignorieren, was Menschen absichtsvoll verletzt, in einer Demokratie zum Schutz der Demokratie nicht unwidersprochen lassen, was antidemokratisch ist – doch indem wir uns damit beschäftigen, machen wir es mächtiger. Man will das Spiel mit dem Trillern der Hundepfeife in Richtung reaktionärer Wähler nicht mitspielen, indem man genau diesen Ton mithilfe seiner eigenen Verbreitung amplifiziert. Unwidersprochen lassen kann man eine menschenfeindliche Aussage auch nicht, weil kein Widerspruch reale und negative Konsequenzen für die Personen hat, die es betrifft.

Wir haben das Toleranzparadox von Karl Popper mit dem Twist der modernen, abbildenden Sprachkritik erreicht. Ein Versuch, dieses Dilemma zu überwinden, ist über Umwege zu kritisieren in einer Art Voldemortisierung und dem Versuch die Algorithmen auszutricksen: also beispielsweise Originaltweets oder die Interviewausschnitte nicht zu teilen, sondern in Form von Screenshots, und die verwendeten Worte nicht zu replizieren, um sie in den Netzwerken nicht trenden zu lassen. Ein gegen Menschenfeindlichkeiten angewandter, umgekehrter Barbara-Streisand-Effekt oder wie Autor Friedemann Karig es beschreibt: „eine Ethik des Teilens“.

Hundefoto statt Merz-Retweet

Was mich bei allen Überlegungen an mir selbst ärgert, sogar in dieser Kolumne, bei allen Überlegungen, wie man ein solches Kalkül medial aushebelt und die Macht, die jemand verbal ausübt, verringern kann: die Besprochenen, in diesem Fall die Geflüchteten, werden in diesen rhetorischen Pokertricks zu Spielkarten populistischer Rhetorik gemacht, gezogen und weggelegt, instrumentalisiert und dadurch erneut: entmenschlicht.

Eine Möglichkeit, ein Versuch aus dem Dilemma wieder herauszukommen, ist, den Fokus wieder auf sie zu lenken. Es geht um ihr Leben. Der Twitter-Account von Frohmann-Verlag plädiert seit Jahren unter den Hashtags #endclickbait und #UmsehenLernen dafür, umsichtig zu teilen und die Aufmerksamkeit umzulenken, um sie besser zu nutzen. Und diesen, ihren Vorschlag finde ich insbesondere für Social Media besonders sinnvoll und konstruktiv:

„Postet jedesmal, wenn ihr euch über Sp…r aufregt, ein niedliches Tierfoto. Oder einen klugen Artikel. Es wird Wunder wirken. #UmsehenLernen bedeutet auch, Menschen andere Anblicke zu ermöglichen.“

Vielleicht reagieren wir fortan auf kalkulierte Merz-Aussagen statt mit einem Retweet nun mit einem schlauen Essay von Peter Pomerantsev oder aber einem Bild von einem Hund und seinem Fettnapf.

8 Kommentare

  1. Welches Wort könnte „Sp…r“ denn sein, dass man es so ausblenden möchte? Mir fällt nur das eher harmlose „Spinner“ ein…

  2. Zu #1: ich habe „Springer“ gelesen, wobei man den Verlag ruhig beim Namen nennen sollte. Ihr Wort ergibt etwas mehr Sinn, denn man könnte es als ableistisch ansehen.

  3. @erwinzk: das Wort, das mit „sp“ anfängt, mit „r“ endet und ableistisch ist, enthält auch die Buchstaben „a“, „e“, „i“, „k“, „s“ und „t“.
    Alphabetisch sortiert.

    Ganz so wirkmächtig, wie hier dargestellt, halte ich diese Algorithmen zwar nicht, aber hauptsächlich nur deshalb, weil die meisten Menschen bereits eine Einstellung zu Ukrainern haben, bevor Merz seinen Senf dazugibt.

  4. „Langweiliges Hundepfeifenvokabular“. Vielen Dank, Frau El Ouassill, ich liebe diese Wortschöpfung ! Vor allem in Verbindung mit dem Foto des echauffiert dreinschauenden Friedrich Merz über dieser verschlagenen Bauchbinde, der irgendwie auch genau so aussieht, als wolle er einem ungehorsamen Dackel außerhalb des Bildes ein „SITZ!“ zuzischen.
    What a moron.

  5. „Er entschuldigt sich dafür, dass sie zu diesen Opfern wurden, aber nicht dafür, dass er sie dazu machte. Das ist vermutlich nicht die Intention,….“. Da meint es die Autorin aber sehr wohlwollend. Ich persönlich halte diese Floskel der Entschuldigung inzwischen für Kalkül: bei den meisten Menschen dürfte das als Entschuldigung akzeptiert werden – während der Redner (hier Fotzenfritze (Titanic)) sich nichts vergibt und seiner Linie treu bleibt, aber die Empörten haben „Entschuldigung“ gehört.

  6. Ich vermute, Herr Merz macht sich nicht einmal 5% der Gedanken, die sich die Autorin macht. Er folgt einfach seinen dumpfen Instinkten, die in seiner Partei schon immer viel Raum einnehmen dürfen.Nix Neues also. Dumm nur, dass es Missbrauch von sozial gedachten Angeboten gibt. ImPrinzip wissen wir das alle. Dieses Thema wird dann allerdings im links alternativen Bereich tabuisiert bzw. den Rechten überlassen. Wer es anspricht, erntet im besten Fall einen Shitstorm. Wie umgehen, mit dem offensichtlich im Raum stehenden Elefanten? Solange das ausbleibt wird sich die schweigende Mehrheit ihren Teil denken. Und der ist nicht angenehm. Wie wäre es mit Einhalten von Regeln für alle? Bei einer Diskussion über acab fragte ich meinen revolutionären Gesprächspartner, wo ich denn in seiner Welt mein gestohlenes Fahrrad melden könnte? Stadtteilrat? Er sagte, es würde keinen Diebstahl mehr geben. Da in ich auch dafür .🥴 Da ich das reaktionäre Weltbild eines Herrn Merz nicht teile, interessiert mich schon , wie der links alternative Bereich auf den Missbrauch von Leistungen reagieren will. Da sind UkrainerInnen prozentual absolut zu vernachlässigen.

  7. #6
    Ich möchte mal behaupten, der im Raum stehende Elefant wundert sich, warum er keine Mücke mehr ist.
    Dazu:
    https://hartz4widerspruch.de/news/hartz-iv-missbrauch-zahlen-sinken-weiter/
    Und exakt das ist das Problem mit den anekdotischen Meldungen.
    Und die ACAB Anekdote, lassen Sie mich mal ketzerisch zurückfragen:
    Damit ich mein Fahrrad gestohlen melden darf, muss ich mich also auf Demonstrationen zusammenschlagen lassen und geduldig Gefahrengebiete und G20 Exzesse der Beamten ertragen?

    Dass ich die Beamten mitfinanziere reicht für diese Dienstleistung nicht aus?

    Ich weiss nicht, wen Sie so persönlich unter den „Revolutionären“(sic!) kennen. Seltsamerweise scheinen es aber immer die dümmsten Linken zu sein, die sich mit der „Bourgeoisie“ unterhalten.
    LoL.

  8. #7Gut geschrieben. Gleichwohl: Im Raum stehende Elefanten waren nie Mücken und wenn schon wundern, dann das sie nicht bemerkt werden.
    Anekdotische Meldungen haben den Vorteil, dass sie erlebt und erfahren wurden. Ich glaube auch nur den Statistiken, die mir in den Kram passen bzw. die ich selbst in Auftrag gegeben habe.🥴
    Warum nun gleich die Bourgeoise und das Zusammenschlagen auf Demonstrationen ins argumentative Spiel gebracht werden müssen, bleibt mir eher verschlossen. Liest sich jedoch gut. Lassen wir also die eher ketzerische Frage, wie links und alternativ mit Missbrauch von Leistungen umzugehen gedenkt. Wenden wir uns lieber Herrn Merz und seinen Kumpanen zu, die gerne braune Suppen kochen.

Einen Kommentar schreiben

Mit dem Absenden stimmen Sie zu, dass Ihre Angaben gemäß unseren Datenschutzhinweisen gespeichert werden. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.