Begräbnis der Queen

4,1 Milliarden Zuschauer oder halt irgendeine andere ausgedachte Zahl

Ältere Frau sitzt vor Fernseher, auf dem das Begräbnis der Queen läuft
Foto: Imago / NurPhoto

4,1 Milliarden Menschen auf der Welt sollen gestern das Begräbnis von Queen Elizabeth im Fernsehen verfolgt haben. Das wären nicht nur erstaunlich viele, sondern, mindestens ebenso erstaunlich, auch genauso viele, wie vorher prognostiziert worden waren: 4,1 Milliarden.

Die Zahl steht in ungezählten Artikeln, als Quelle werden mal ungenannte „TV-Analysten“ angegeben, mal unbestimmte „Medienberichte“, aber in die Welt gebracht hat sie offenbar eine einzige Frau: Carolina Beltramo von WatchTVAbroad.com. Die Seite hat sich nach eigenen Angaben darauf spezialisiert, Menschen zu helfen, ihre Lieblingssendungen auch im Ausland zu sehen. Aktuell produziert die Seite beim Aufruf diverse Fehlermeldungen und empfiehlt die 15 besten Filme, die wie „Inception“ sind, und die 15 besten Shows, die wie „Modern Family“ sind. Auf Twitter hat die Seite 33 Follower, auf Facebook immerhin ein paar Hundert.

Liebe und Bewunderung

Carolina Beltramo, die nichts mehr liebt, als die neuesten Netflix-Serien zu bingewatchen, hat vor einer Woche eine Vorhersage gewagt:

„Die Liebe und Bewunderung für Queen Elizabeth II. in aller Welt ist so groß, dass ihre Beerdigung dafür bestimmt ist, das größte Live-Fernsehevent in der Geschichte zu werden. (…) Es werden nicht weniger als 4,1 Milliarden Menschen erwartet, die am Montag einschalten, um Zeuge dieses historischen Ereignisses zu werden, wenn die Hälfte der Menschen auf dem Planet Erde innehalten, um ihren Respekt zu bekennen.“

Hinweise darauf, wie sie zu dieser Zahl kam, gab sie nicht; ob sie etwa davon ausging, dass die Inder überdurchschnittlich oft einschalten würden im Vergleich zu den Chinesen, oder ob viele Amerikaner sich eigens den Wecker stellen würden, um sehr früh morgens live dabei sein zu können. Die Hälfte der Menschheit womöglich, könnte sein, wer weiß es schon.

4,1 Milliarden ist aber für Medien eine sehr viel bessere Zahl als „vielleicht rund die Hälfte der Menschheit“. Die Nachkommasstelle ist zwar völlig absurd, wenn man seriös nicht einmal vorhersagen kann, ob es 3 oder 5 Milliarden werden. Gleichzeitig suggeriert sie, dass hier jemand, der sich auskennt, etwas berechnet hat, und nicht nur irgendeine Carolina von irgendeinem Blog sich etwas ausgedacht hat.

Experte zitiert Experten

Und so gingen die 4,1 Milliarden um die Welt. Die Onlineseite der britischen Gratiszeitung „Metro“ scheint sie als eines der ersten Medien verbreitet zu haben, am vergangenen Mittwochvormittag. Der höchstens viertelseriöse, aber sehr erfolgreiche Internetauftritt der britischen Boulevardzeitung „Daily Mail“ brachte sie wenig später und wird von vielen anderen nationalen und internationalen Medien, die die vermeintliche Nachricht dann weitertrugen, als Quelle genannt.

In Deutschland wurde die Zahl von seriös wirkenden Quellen geadelt: Die Nachrichtenagentur epd sprach mit dem Sozialforscher Marcel Schütz, Professor für Organisation und Management von der Northern Business School Hamburg. Er sagte in einer am Sonntag veröffentlichten Meldung: „Experten rechnen damit, dass am Montag mehr als 4,1 Milliarden Menschen einschalten, mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung.“ In einem Beitrag des Deutschlandfunks wurde dann Schütz selbst zur Quelle für die Zahl.

Am Tag zuvor bereits hatte die Agentur AFP die Zahl in ihrer Übersicht „Das Staatsbegräbnis der Queen in Zahlen“ untergebracht: „Schätzungsweise 4,1 Milliarden Menschen werden die Beisetzung der Königin weltweit verfolgen und damit alle bisherigen Rekorde brechen.“ (Die Kombination aus „schätzungsweise“ und der Angabe einer Nachkommastelle scheint niemanden gestört zu haben.)

In einer späteren Meldung behauptete AFP: „Es wird erwartet, dass sich mehr als vier Milliarden Menschen das Staatsbegräbnis im Fernsehen anschauen“, was natürlich insoweit stimmt, dass das zu diesem Zeitpunkt tatsächlich viele erwarteten, weil es ja viele Medien so behauptet hatten.

Neben diversen Zeitungen zum Beispiel auch die „Tagesschau“, deren Korrespondentin behauptete: „Schätzungen zufolge werden weltweit rund vier Milliarden Menschen vor den Bildschirmen sitzen.“

Medien berichten über Medienberichte

Die Verwandlung einer zweifelhaften, von irgendjemandem in den Raum geworfenen Zahl zur etablierten, allgegenwärtigen Expertenschätzung ist schon erstaunlich. Aber fast noch beeindruckender ist, wie aus der Vorhersage schon sehr bald nach dem Ereignis eine Tatsache wurde: „Über vier Milliarden Menschen sahen das Staatsbegräbnis der Queen“ meldete zum Beispiel RTL. Der Sender hatte das von der Promiklatschagentur Spot On News übernommen, die sich vage auf „mehrere Medienberichte“ berief: „Mehreren Medienberichten zufolge lag die Gesamtzuschauerzahl bei rund 4,1 Milliarden Menschen weltweit.“

Die „Bild“-Zeitung war am Morgen schon mit der Behauptung von „4 Milliarden TV-Zuschauern“ auf der Titelseite erschienen, ihr Kolumnist Franz Josef Wagner hatte an sie sogar schon einen seiner berüchtigten Briefe geschrieben und sich das alles ausgemalt: „Ein gemeinsames Trauern von einem Ende der Welt zum anderen, getrennt von Weltmeeren fallen die Tränen. Vier Milliarden Menschen, Menschen in Slums, wo der Fernseher wackelt mit den Bildern aus der Westminster Abbey.“

Andererseits ist Wagners kleine Kolumne des Wahnsinns immerhin irgendwie der richtige Ort für eine solche Zahl, die niemand ernsthaft überprüfen kann und vielleicht stimmt, vermutlich nicht, aber gefühlt doch irgendwie wahr ist.

Seriöse Nachrichtenmedien sind eher nicht der richtige Ort dafür. Aber der Magie der Zahl können sie sich offenbar nicht entziehen. Sie macht aus etwas, das wir alle ähnlich gut vorhersagen könnten wie Carolina von WatchTVAbroad.com – dieses Ereignis, das überall läuft, gucken bestimmt sehr viele Leute in aller Welt – , eine Nachrichten- und sogar Schlagzeilen-taugliche Größe, zitierbar, weitererzählbar und voller falscher Scheinseriösität, insbesondere nachdem es beim Weitererzählen die eigentliche Quelle verloren hat. Versatzstücke einer seriösen Nachrichtenkonstruktion sind als Hülle noch da, aber die notwendige Quellenangabe lautet am Ende nur noch: „berichten viele Medien“, steht ja überall.

„Weiß man jetzt nicht so genau“

Das öffentlich-rechtliche Junge-Leute-Netzwerk „Funk“ hat einen besonderen Umgang damit gefunden, die Zahl verbreiten zu wollen, ohne ihr zu trauen. Man kann ihn elegant oder auch ein bisschen verlogen finden. Es hat eine Instagram-Kachel produziert mit den Top-Ten der „höchsten TV-Einschaltquoten aller Zeiten“.

Dazu schreibt „Funk“:

„Die 4,1 Milliarden für die Queen-Beerdigung geht übrigens auf Schätzungen von ‚industry experts‘ zurück, die von der britischen Daily Mail zitiert werden. Kurz: Weiß man jetzt nicht so genau.“

Und in einer zweiten Kachel macht „Funk“ das „Problem mit den Daten“ transparent und schreibt, dass das Konzept des Vergleichs „ein paar Schwächen hat“. Fazit:

„Die Quoten sind oft Schätzungen, teilweise gibt es sich widersprechende Quellen oder unklare Infos, wie Quoten berechnet wurden.

Wir haben hier versucht, möglichst sauber zu arbeiten.

Nehmt die Liste trotzdem nicht zu ernst.

😊

Für Carolina Beltramo und ihre Seite ist die Sache natürlich zweifellos ein sensationeller Erfolg. Nach einer Analyse von Übermedien.de haben schätzungsweise 11,43 Milliarden Menschen die von ihr in Umlauf gebrachte Zahl gelesen.

16 Kommentare

  1. Geht es nicht etwas genauer, Herr Niggemeier? Nach meinen cloudgestützten Berechnungen waren es 11 Milliarden 431 Millionen 256 Tausend 788 Zuschauer weltweit ohne Raumstation ISS.

  2. wenn man die gemessenen Zuschauerzahlen* der Fernsehsender zusammenzählt, die die Prozession gestern in Deutschland übertragen haben, kommt man auf etwa acht Millionen Zuschauer, oder zehn Prozent der Menschen hier. Global wären zehn Prozent nicht einmal eine Milliarde.

    * https://m.dwdl.de/a/89786

  3. 4,1 Milliarden sind schlichtweg unmöglich als Einschaltquote. Ich glaube, so viele hatten nicht mal theoretisch die Fähigkeit, es zu sehen.
    Ich wage sogar die ebenfalls kolportierten 1,4 Milliarden mehr als in Frage zu stellen.
    In meinem Umfeld hat es niemand live angeschaut und unter meinen Schülerinnen und Schülern wird es auch nur ein Bruchteil überhaupt gewesen, wenn überhaupt.

  4. Es verhält sich übrigens nur wenig anders mit den ganzen Reichen-Listen. Auch die basieren auf solch einem Pi-mal-Q-mal-Daumen-System – werden aber überall zitiert und als Fakt genommen. Und genauso der Marktwert von Spielern bei Transfermarkt.de…

  5. @#4: … oder mit Umsatzentwicklungen (17,4 Mrd. Euro im Jahr 2025) oder mit Umsatzzielen, die man verordnet bekommt (15 Prozent Wachstum also xx,35 Mio. Euro in diesem Jahr). Alles Bullshit von Leuten, die auch keine Glaskugel haben, aber viel Selbstbewusstsein und ein Lineal.

  6. Moin Stefan!

    Darf ich mal kleinkariert sein? Der Gag war klasse, aber bei dem Komma in „4,1 Milliarden“ von einer Nachkommastelle zu sprechen, ist schon ein bisschen dick aufgetragen. Der damit ausgeklammerte Bereich ist immerhin 100.000.000 Menschen groß – also ungefähr so viele Menschen, wie im Kongo leben.

    Und du willst doch nicht etwa behaupten, der Kongo hätte nicht zugeguckt…;-)…?

  7. @Don Krypton: Das stimmt schon, aber ändert nichts daran, dass es völlig bekloppt ist, von „4,1 Milliarden“ zu sprechen, weil es eine irreführende Illusion von Genauigkeit gibt – eben durch die, naja: Nachkommastelle.

  8. Egal wie hoch die Zahl ist, es müsste auch noch definiert werden, was angeschaut bedeutet. Mal fünf Minuten reingeluschert oder neun Stunden vor dem Fernsehschirm gehangen? Ab wann wird ein Zuschauer seriös als ein solcher gezählt. Und bin ich bei den 4,1 Milliarden dabei, weil das Funeral auf dem Großbildschirm der Redaktion irgendwo rechts oberhalb meines Bildschirms lief und ich aus dem Augenwinkel ab und zu mal Bewegung wahrgenommen habe?

  9. Ich bin auch drauf reingefallen. Die Zahl ist zwar wirklich riesig, durch das Komma wirkt sie aber so pseudo-genau. Und dann wurde sie hoch und runter zitiert. Menno!

  10. Das ZDF sprach (ich hab nur halb zugehört und zugesehen, das macht also 0,5 Personen in meinem Haushalt – oder sagen wir besser 0,54) während der Sendung davon, dass 4,1 Mrd. „hätten zusehen können“ (Zitat daher auch nur zu 0,75 verlässlich).

  11. @Lars
    Das ergibt Sinn. Man könnte sich in der Tat vorstellen, dass auf so gut wie jedem Fernseher der Welt die Übertragung theoretisch einschaltbar war.

    @Susanne
    Das läuft ja noch in jedem Land anders. Hier bei uns gibt es eine repräsentative Menge von etwa 10.000 Personen. Bei denen wird sekundengenau gemessen, was sie eingeschaltet haben, d.h. es gibt dann für jede Sekunde eine eigene Einschaltquote.
    Kolportiert werden dann meist die Spitze und/oder die mittlere Einschaltquote.
    Wenn also die Person, die „die Susannes“ dieses Landes repräsentiert nur kurz reingezappt hat, könnte es eventuell mit mehr oder weniger viel Glück die Spitze bewegt haben, die mittlere Einschaltquote aber nicht.

  12. Kalenderspruch/Maxime des Tages: Nichts genaues weiß man nicht.
    Schon erstaunlich, wie besoffen auch seriöse Medien sich auf Nachkommastellen stürzen, die keine Bedeutung haben, aber genau das vorgeben. Vgl. Sätze wie „(…) aktuelle 7-Tage-Inzidenz von 136,4 (…)“
    Zur Erinnerung: In einer Zeit, nicht allzu lange her, wäre ein vergleichsweise großer Teil der Menschen hierzulange in der Lage gewesen, Begriffe wie „Konfidenzintervall“ u.Ä. annägernd korrekt zu verwenden.

  13. @Nils
    Ich würde dem arg widersprechen, was Sie nach „Zur Erinnerung:“ schreiben.
    Ich denke nicht, dass z.B. unter den heute 60jährigen der Anteil derer, die das Konfidenzintervall höher war oder ist als bei 30jährigen.

Einen Kommentar schreiben

Mit dem Absenden stimmen Sie zu, dass Ihre Angaben gemäß unseren Datenschutzhinweisen gespeichert werden. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.