Wochenschau (130)

Der Körper ist Privatsache – bis er politisch wird

Links: Sanna Marin im geleakten Party-Video. Rechts: Sanna Marin stellt sich den Fragen der Journalist:innen
Links: Sanna Marin im geleakten Party-Video. Rechts: Die finnische Premierministerin stellt sich den Fragen der Journalist:innen in Kuopio. Screenshot: „Iltalehti“; Foto: IMAGO / Lehtikuva / Matias Honkamaa

Die finnische Premierministerin Sanna Marin tanzt ausgelassen bei einer Privatfeier, trinkt mit Freunden, Momentaufnahmen der Sorglosigkeit.

Diese von der Boulevardzeitung „Iltalehti“ veröffentlichten Aufnahmen sorgen in Finnland für eine Kontroverse. Etliche sprechen sich für das Recht der Premierministerin auf Party aus, manche loben ihre Nahbarkeit und Coolness. Kritiker und politische Opportunisten hingegen sehen einen Konflikt zwischen Marins unbekümmert wirkendem Lebensstil und ihrer politischen Verantwortung. Auch in Deutschland wird das Video verteidigend, amüsiert, offen neidisch oder aber spöttisch kommentiert und besprochen. Ich behaupte, weil so viel (wenn auch unfreiwillig) sichtbar gemachte Privatheit einer Politikerin für uns derart ungewohnt ist, dass es buchstäblich einen Neuigkeitswert hat. Der Nachrichtenwert generiert sich aber aus einem Wort, das eine Person im Hintergrund der Aufnahmen laut finnischen Medien gerufen haben soll: „jauhojengi“, auf Deutsch „Mehl-Gang“. Wobei „Mehl“ als Synonym für Kokain stehen dürfte.

Drogenkonsumierende Politiker:innen haben in der Tat einen Nachrichtenwert. Etwa wegen der möglichen Strafbarkeit des Besitzes oder weil die moralische Integrität in Frage gestellt werden könnte, aber auch, weil der Missbrauch von Rauschmitteln die Handlungsfähigkeiten einer regierenden Person beeinflussen könnte.

Marin weist den Vorwurf von sich und sagt: „Ich selbst habe weder Drogen noch etwas anderes als Alkohol konsumiert. (…) Ich habe getanzt, gesungen, gefeiert, meine Freunde umarmt und völlig legale Dinge getan.“

Der Umgang mit dem Video wirft die Frage auf, wie viel Recht wir auf Auskunft über einen privaten, aber eben auch politischen Körper wie den von Sanna Marin haben. Denn diese Auskunft wird in Marins Fall offensiv eingefordert. Der Abgeordnete Mikko Kärnä (Zentrumspartei) twitterte:

„Allein für die Diskussion in der Öffentlichkeit wäre es sinnvoll, wenn sich die Premierministerin @MarinSanna freiwillig einem Drogenscreening unterziehen würde, dessen Ergebnisse von einer unabhängigen Stelle öffentlich gemacht würden.

Das darf das Volk auch von seiner Ministerpräsidentin erwarten. #jauhojengi“
Übersetzt aus dem Finnischen

Eine explizite Aufforderung also, den eignen Körper zu nutzen, mit ihm zu beweisen, dass die private Party kein Politikum zu sein braucht, weil dort nichts passiert ist, was Marins Politik beeinflussen könnte.

Am Donnerstag äußerte Sanna Marin gegenüber den Journalisten der „Iltalehti“, dass sie bereit sei, sich testen zu lassen (was sie am Freitag laut eigener Aussage dann auch getan habe) und die Ergebnisse zu veröffentlichen.

„Ich habe nichts zu verbergen. Ich habe keine Drogen genommen und habe daher kein Problem damit, mich einem Drogentest zu unterziehen, aber ich finde es auch ziemlich ungewöhnlich, dass so etwas verlangt wird.“

Die unendliche Geschichte von Körper und Geist

Und in der Tat: einen Drogentest von einem politische Akteur in seiner Amtszeit einzufordern, ist ungewöhnlich. Andererseits gibt es eine lange Tradition des medial und öffentlich verhandelten körperlichen und geistigen Zustands von Regierenden.

Die körperliche Gesundheit der Machtinhaber wurde historisch schon immer verhandelt, von Pharaonen zu Präsidenten. Besonders bemerkenswert war aber die Vorstellung über den Körper von Monarchen, der zwei Rollen gleichzeitig erfüllen musste: einerseits als der eines Repräsentanten von Gottes Gnaden, andererseits als alternder Kronenträger.

Der deutsche Historiker Ernst Kantorowicz entwickelte in seinem Buch „Die zwei Körper des Königs – eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters“ (1957) die Idee einer Dualität von königlichem Körper, bestehend aus dem regierenden, transzendentalen, politischen einerseits sowie dem privaten, sterblichen Körper des Königs andererseits.

Im Gespräch mit dem Wiener Burgtheater (Titel: „König sein, Präsident werden“) erklärt der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke diese Dualität sehr aufschlussreich:

„Das mittelalterliche Verständnis vom Mysterium der Verkörperung des ‚body politic‘, also des ‚ewigen‘ Königtums im ‚body natural‘, also im leibhaftigen, sterblichen Herrscherkörper bietet die Lösung eines technischen Problems monarchischer Herrschaft. Wie waren die Eide, die ihm geleistet worden waren, die Verträge, die er unterzeichnet, die Privilegien, die er verteilt hatte, nach dem Ableben des Herrschers (und in seltenen, aber prominenten Fällen der Herrscherin) zu bewerten?

Zur Lösung dieser Frage entwickelte sich mit der Zeit die Vorstellung, dass es einen institutionellen Kern geben müsse, der über die Abfolge der verschiedenen Könige hinaus Geltung behielte. Da wird die Vorstellung des Amtes geboren, oder der Institution, wie wir sie heute noch kennen: Wer auch immer ein Amt bekleidet, eine Institution verkörpert – die Institution ist eigentlich das Ewige.“

Regierende haben also seit jeher nicht nur mit ihren geistigen, politischen und rhetorischen Mitteln, sondern auch ihrer Körperlichkeit die Fähigkeit zu regieren unter Beweis stellen müssen. Es schwingt die Idee einer physischen Regierungs-Tauglichkeit und gleichzeitig der Verteidigung der eigenen Glaubwürdigkeit mit, dadurch, dass sich Amtsinhaber:innen möglichst transparent machen.

In den Vereinigten Staaten hat die Offenlegung von Gesundheitsdaten bei hochrangigen Politikern Tradition; der Gesundheitszustand von Hillary Clinton oder von Joe Biden etwa waren ebenso Teil des Wahlkampfes wie ihre Programme. Der Körper der Politiker wurde öffentlich mit derselben Selbstverständlichkeit diskutiert, wie er von der politischen Gegenseite instrumentalisiert wurde.

Dass Clinton beispielsweise bei einer Zeremonie zum Gedenken an die Opfer des 11. September 2001 stolperte oder sich schwach fühlte, hätte keine Schlagzeilen gemacht, wäre sie nicht später Kandidatin für das höchste Amt in ihrem Land geworden. Dieser Umstand veranlasste im Übrigen auch Donald Trump damals dazu, nicht nur Witze über die körperliche Verfassung seiner politischen Widersacherin zu machen, sondern auch der Öffentlichkeit mitzuteilen, dass bald ein Bericht über seinen eigenen Gesundheitszustand veröffentlicht werden würde. Sein Vorgänger Barack Obama hatte sogar jährlich seine Gesundheitsdaten offengelegt. Selbst wenn ein erheblicher Druck auf Politiker:innen ausgeübt wird, so zu verfahren: Sie sind durch kein Gesetz oder eine Vorschrift dazu gezwungen.

Die Tradition lässt sich teilweise durch die Geschichte der USA erklären. Mehrere Präsidenten sind im Amt gestorben. Im Nachhinein wurde in manchen Fällen aufgedeckt, in anderen zumindest vermutet, dass Präsidenten ihre teils erheblichen gesundheitlichen Probleme mit Hilfe ihrer Ärzte, ihrer politischen Helfer oder ihrer Familie absichtlich vor der Öffentlichkeit verbargen.

Es geht beim besprochenen Körper von Politiker:innen um Macht und Machterhalt. Auch Angela Merkels Körper und ihre Gesundheit waren zwischenzeitlich Gegenstand medialer Auseinandersetzung. Und damit auch die Frage, wie übergriffig es ist, ihr Zittern nicht nur zu kommentieren und zum Gegenstand von Berichterstattung zu machen, sondern eine Auskunft darüber zu fordern, was die (doch eigentlich private) Ursache dafür gewesen ist.

Der politische Körper in seiner Vorbildfunktion

Die Corona-Pandemie hat die öffentliche Verhandlung des privaten oder politischen Körpers noch verstärkt. Die Dokumentation des eigenen Gesundheitszustandes erhielt eine neue, selbstlegitimierende Funktion. Es kam nun ein weiter Aspekt hinzu: die Vorbildfunktion.

Als Rolemodels benutzten Politiker ihren Körper nun um ein nachahmenswertes Verhalten zu demonstrieren und mit ihrer Hilfe in Form von Impf-Selfies zu inspirieren.

Regierende dokumentierten ihren Impfprozess fotografisch derart bemüht, dass ich für meinen Geschmack entschieden zu viele oberkörperfreie Politiker in meiner Timeline hatte. Dann doch lieber die Tanzvideos einer Ministerin.

Der politische Journalismus in Deutschland übt derweil Kritik am Umgang von Gesundheitsminister Karl Lauterbach mit seiner Corona-Erkrankung. Es wird, zurecht wie ich finde, untersucht, wie und ob er sich an die Isolationszeiten hält, ob und wann er eine Maske trägt.

Die Idee dahinter ist natürlich auf mehreren Ebenen, politisch, moralisch aber auch epidemiologisch eine notwendige Frage. Denn gerade bei einem Gesundheitsminister, der mit für Gestaltung der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie verantwortlich zeichnet, gibt es ein öffentliches Interesse an der Frage, ob dieser sich selbst streng genug an die Regeln hält, für deren Einhaltung er wirbt. Es geht um die Integrität und Glaubwürdigkeit eines Politikers.

Auch um Marin gab es bereits eine Kontroverse in Bezug auf die Einhaltung ihrer Coronaisolation. Sie stürzte sich 2021 ins Nachtleben Helsiniks, obwohl sie zuvor mit einem positiv getesteten Außenminister Kontakt hatte. Ihrer Aussage nach war ihr keine Quarantäne nahegelegt worden. Die SMS, die sie darüber informieren sollte, dass sie sich in Quarantäne begeben müsse, war auf ihr Regierungstelefon geschickt worden, das sie beim nächtlichen Feiern nicht dabei gehabt hätte.

Das brachte ihr gleich doppelt Kritik ein: Für die Nachlässigkeit hinsichtlich der nationalen Sicherheit, das Arbeitstelefon nicht dabei zu haben. Und für die Fehleinschätzung, eine Selbstisolation sei nicht geboten.

Präsentation des politischen Körpers in Perfektion

Die politisch gewordenen privaten Politiker:innenkörper bekamen während der Pandemie jedenfalls eine Selbstverständlichkeit in ihrer sozialmedialen Sichtbarkeit verliehen. Die fast ritualisierte, persönliche Inszenierung des eigenen Körpers wurde gewissermaßen auch zu einer Form der Überzeugungsarbeit, die über das Argumentative hinausgeht. Mit dem publikumswirksamen Präsentieren des eigenen gesunden oder genesenen Zustandes bewies man gewissermaßen die Sinnhaftigkeit der eigenen Pandemie-Politik.

Auch das Posten des positiven Selbsttests (und das anschließende Posten des negativen Test zum Beweis, dass man wieder fit sei) wurde zu einer unglaublich nervigen, weil meinem Gefühl nach fast aufdringlichen Kommunikationästhetik.

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat diese körperliche Selbstveranschaulichung als politisches Mittel perfektioniert. Als er positiv auf Covid-19 getestet wurde, stellte er sich vor eine sorgfältig in Szene gesetzte, gefällige Kulisse samt französischer Flagge und Handdesinfektionsmittel auf dem Schreibtisch. Er nahm ein Selfievideo auf, in dem er über seinen Gesundheitszustand berichtete.

Die Präsentation war darauf ausgelegt, Zugänglichkeit, aber auch Verletzlichkeit zu vermitteln. Kann ein Körper, der als Werkzeug für die politische Kommunikation dient, noch Privatsache sein?

Körper sind solange privat, bis sie es nicht mehr sind

In einem 2011 in Venedig gehaltenem Vortrag hatte die Philosophin Judith Butler ihre bemerkenswerten Beobachtungen über Demonstrierende ausgeführt und erläutert, wie diese ihren physischen Körper politisch nutzen, indem sie im öffentlichen Raum in Erscheinung treten und durch buchstäbliches Raumeinnehmen politisch handeln.

Sie kritisiert hierbei die Annahme von Hannah Arendt, welche den Körper im privaten Raum vom öffentlichen trennt:

„Es mag sein, dass für Arendt zwei Sinne des Körpers am Werk sind – einer, der in der Öffentlichkeit erscheint, und ein anderer, der im Privaten ‚abgesondert‘ ist –, und dass der öffentliche Körper derjenige ist, der sich als die Figur des sprechenden Subjekts zu erkennen gibt, eines, dessen Rede auch Handlung ist. Der private Körper erscheint nie als solcher, da er mit der sich wiederholenden Arbeit der Reproduktion der materiellen Lebensbedingungen beschäftigt ist. Der private Körper bedingt also den öffentlichen Körper, und obwohl es sich um ein und denselben Körper handelt, ist die Zweiteilung entscheidend für die Aufrechterhaltung der Unterscheidung zwischen öffentlich und privat. Vielleicht ist es eine Art Phantasie, dass eine Dimension des körperlichen Lebens im Verborgenen bleiben kann und muss, während eine andere, völlig unterschiedliche, in der Öffentlichkeit erscheint?“

Was, wenn wir diesen Gedanken auf diejenigen mit Macht übertragen? Politiker:innen nutzen Aussagen über ihren eigenen Zustand, nutzen ihren Körper in Form von sichtbar gemachten Tests, Fotos und Auskünften, um zu beweisen, dass sie glaubwürdige, regierungsfähige Politiker sind, mit dem Wissen, dass sie ihren privaten Körper politisch einsetzen. Das erzeugt einen Konflikt mit dem Recht auf Privatheit, weil Gesundheit wie auch die Frage nach Drogenkonsum Privatsache sind – aber nur, bis sie es eben nicht mehr sind.

5 Kommentare

  1. Die mögliche Kokain-Zeile wurde wohl von rechten Trolls auf 4chan herbeispekuliert, obwohl im finnischen Slang Mehl eigentlich nicht als Synonym für Koks verwendet wird. Weiteres Argument: Man sieht keine Flaschen im Video, also müssen wohl andere Drogen als Alkohol konsumiert worden sein…

  2. Ich habe die Theorie gelesen, dass das weniger von rechten Trollen als Gattung gepuscht wird, sondern mehr von russischen Staatstrollen.
    Was tatsächlich mal eine realistische Verschwörungstheorie wäre.

  3. Starke Frauen sind eine Bedrohung für neu- und alt-faschistische Ideologen. Der starke Mann an der Spitze der Hierarchie ist ebenso essentieller Bestandteil, wie die Mutter, die dem Land ihre Söhne schenkt. Passt also eitherway.

  4. Ich finde es richtig, dass Drogenkonsum bei einem Regierungschef oder einer -chefin keine Privatsache ist. Das hat aus meiner Sicht auch nur mittelbar etwas mit dem Körper der Person zu tun, der ist da ja lediglich Vehikel für den Geist, auf den es dabei ankommt. Und es geht mir nicht darum, dass Politiker*innen zu jedem Zeitpunkt frei von Drogen sein müssen. In ihrer Freizeit dürfen sie von mir aus gerne auch mal einen Joint rauchen, solange sie den Konsum von Drogen im Griff haben und er nicht ihre Arbeit beeinträchtigt. Dabei gilt es allerdings auch zu berücksichtigen, dass eine regierende Person, gerade eine höchstrangige, auch schon mal spontan und mitten in der Nacht schwierige und bedeutsame Entscheidungen treffen können muss. Insgesamt also: Kein Tabu und eine schwierige Abwägung.

    ABER!
    1. Natürlich wird im Beispiel von Sanna Marin sehr bemüht etwas konstruiert, das offensichtlich (und jetzt auch durch den geforderten Drogentest belegt) nicht da ist.
    2. In meine einleitende Aussage schließe alle Drogen mit ein – also ausdrücklich auch Alkohol. Dass eine Bier- oder Wodkaflasche im Video nicht zur Skandalisierung getaugt hätte, sagt viel aus, mag die bayerische politische KLasse aber beruhigt haben ;-)

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