Fußnoten (31)

Die große Kunst der Titelbild-Fotomontage – in der kleineren Gabor-Steingart-Version

Als gerade mal niemand aufgepasst hat, sind Newsletter die neuen Magazine geworden.1)Ich meine damit journalistische Newsletter, aber es gibt natürlich Beispiele von Unternehmen, die sehr magazinartige und schöne Newsletter machen. Also quasi jetzt gerade, denn es passt immer noch niemand auf.2)Es ist zum Beispiel völlig unklar, warum Übermedien keine Newsletter rezensiert. Newsletter sind die freier drehenden Brüder und Schwestern tagesaktueller Medien, liebevoll und oft sehr kreativ formatiert, mit kleinen Rubriken, auf die man sich jedes Mal wieder freut. Sie haben in vielen Fällen einen sehr eigenen Sound, und in einem Fall auch einen eigenen Look: Bei Gabor Steingarts „The Pioneer Briefing“3)Der hier als Beispiel herhalten muss, sehr vieles vom Beschriebenen gilt für das gesamte Angebot von „The Pioneer“. ist jemand in einen Topf voll Photoshop gefallen, und das Ergebnis ist psychedelisch. Fast jeden Morgen deutet eine per Fotomontage erstellte Karikatur die Weltlage, angelehnt an die stolze4)Okay, das ist subjektiv, aber ich finde, es ist eine stolze Tradition. Tradition der Titelblätter von Illustrierten und Nachrichtenmagazinen.

Collage aus Montagen
Im Photoshop-Rausch Fotos: „The Pioneer Briefing“

Über die Tradition reden wir gleich noch. Aber kommen wir zuerst zu ihrer Funktion: Es gibt keinen Hinweis, dass die Fotomontagen heute erfolgreicher oder weniger erfolgreich als Verkäufer eines Heftes funktionieren als zum Beispiel ein Foto – und ganz ehrlich: Manchmal sind sie wahrscheinlich auch die Notlösung, weil es das eine Foto, das ein Thema perfekt bebildert, nicht gibt –, aber sie funktionieren wie Filmplakate oder die Cover von den Krimis im Bahnhofsbuchhandel als Hinweis auf das Genre, in dem sie spielen.

Die Karikatur als Fotomontage ist auf den Titel von „Spiegel“ und „Stern“ – oder international zum Beispiel dem „Economist“ – gelerntes Signal für kritischen politischen Journalismus.5)Ohne zu weit abdriften zu wollen würde ich argumentieren, dass die Skala bis zur Satire der „Titanic“ reicht. Ich glaube, so muss man die Karikaturen des „Pioneer Briefing“ verstehen, und mit „müssen“ meine ich: Zum Glück gibt es einen Weg, sie so zu verstehen, denn als Karikaturen sind sie oft unverständlich.

Fotocollage: Putin als Tankwart
Foto: „The Pioneer Briefing“

Ich nehme ein willkürliches Beispiel: Unter der Betreffzeile „Die westl. Selbstverletzung“ sehen wir Wladimir Putin als für seine Verhältnisse recht freundlich dreinblickenden Tankwart verkleidet (Tankstelle im Hintergrund, Zapfpistole in der erhobenen Hand) mit dem Schriftzug „Gazprom“ auf der blauen Kappe. Und Putin in Latzhose ist erstmal ulkig, und das Bild soll wahrscheinlich aussagen, dass Putin unser Benzin kontrolliert. Was stimmt. Es bringt nur als Karikatur keinerlei Mehrwert. Oder ich verstehe es nicht.

So geht das häufiger: Wolodymyr Selenskyj mit Megaphon vor einem Pop-Rocky-Poster-Sternenhintergrund6)Remember those? You’re old!. Scholz, Biden und Macron (zu Schloss-Elmau-Zeiten) im Mönchsgewand à la „Name der Rose“. Oder Scholz und Biden dämlich lachend und salutierend in Armee-Uniformen. Ich würde schätzen, etwa die Hälfte der Karikaturen haben inhaltlich weiter keine Aussage, als dass sie ein bisschen lustig aussehen.

Fotomonate: Putin mit nacktem Oberkörper und Rohr
Foto: „The Pioneer Briefing“

Es gibt natürlich die andere Hälfte: Putin mit nacktem Oberkörper vor einer Raffinerie, der ein Rohr mit der Aufschrift „NordStream“ hält, als wolle er es gleich als Panzerfaust über die Schulter legen. Oder zum Thema Verkehrschaos der Verkehrsminister und die Chefs von Bahn und Lufthansa in zu großen Schaffner- und Pilotenmützen, offensichtlich überfordert mit zu großen Aufgaben. Das ist toll, weil es grandios rotzig vorgetragene Kritik ist. Sonst wäre es nur ein albernes Bild.

Beinahe wirklich gut

Womit wir beim Sinn der Übung wären, nehme ich an: Die Pioneer-Karikaturen symbolisieren (wie die Illustrierten-Cover vor ihnen) einen ironisierenden, von Unterwürfigkeit befreiten Umgang mit den Mächtigen, und das ist gut. Aber es ist leider oft auch nur das, was Gabor Steingart in seinen vielen Podcasts als Stimmfarbe verwendet7)Auch das Autorenbild von Steingart ist ganz offensichtlich mit einem Gesichtausdruck gezeichnet, den man sich unter „verschmitzt“ vorstellen soll.. Je nach persönlicher Präferenz wird man die als ironischen Unterton oder veralbernde Überheblichkeit wahrnehmen.

Mich macht es ein bisschen wahnsinnig, weil ich so oft das Gefühl habe, sie wären bei „Pioneer“ ganz kurz davor, etwas wirklich Gutes zu machen, aber sie brechen vorher ab. Und das ist für mich fast schlimmer, als es gar nicht zu versuchen.

Vor meinem inneren Auge sehe ich die Mannschaft an Bord des Pioneer-Redaktionsschiffes jeden Tag dastehen und die Ideen wälzen für den Newsletter-Aufmacher des nächsten Tages, und in meiner Fantasie schwitzen sie und schimpfen und trinken heimlich Schnaps, weil kreative Arbeit so scheiß anstrengend ist. Und manchmal gibt man sich dann mit der nicht so guten Lösung zufrieden, und dann ist manchmal plötzlich Montag und Mittwoch bis Freitag. Das ist natürlich keine befriedigende Lösung und führt direkt in den kreativen Burn-Out 8)Oder, wie man in unserer Branche sagt: zur „Welt“..

Um es noch komplizierter zu machen, soll das Ganze auch noch witzig sein, und Humor ist die schwierigste Übung, und wie überall sind die letzten Meter zwischen etwas irgendwie Guten und etwas Großartigem die schwersten. Bei „Stern“ und „Spiegel“ gibt es, so weit ich das weiß, immer noch eigene Titel-Redaktionen, und die müssen das nichtmal jeden Tag machen. Warum also das Ganze?

Der Magazin-Cover-König

Wir gucken uns einmal kurz die Genese der Fotomontage auf Zeitschriftentiteln an, um es zu verstehen – und ganz nebenbei glaube ich, dass da sogar eine Lösung drin versteckt liegt. Die Geschichte dieser Titel beginnt, wenn man sie an einem Punkt festmachen will, Ende der Fünfzigerjahre bei dem amerikanischen Magazin „Esquire“. Dort hatte der gelernte Fotograf Henry Wolf als Art Director in den Jahren zuvor mithilfe seiner eigenen Fotos großartige Collagen als Titelbilder designt, wahnwitzig ästhetisch und künstlerisch wertvoll. Dann wurde er abgeworben (von „Harper’s Bazaar“).

Und bei „Esquire“ traf man eine verwegene Entscheidung: Man heuerte extra und ausschließlich für die Titelgestaltung9) Interessanterweise wurde der Innenteil des Heftes von einem Mann gestaltet, der später für ganz andere Dinge berühmt wurde: Robert Benton, Autor und Regisseur zum Beispiel von „Kramer gegen Kramer“. George Lois an, der zwar ein begnadeter Art Director war10)Er war außerdem Sohn griechischer Einwanderer, was hier überhaupt keine Rolle spielt, was ich aber trotzdem gesagt haben will. Weil ich will. – aber aus der Werbung. Die nächsten Jahre brachten einige der berühmtesten und meist diskutierten Magazin-Cover aller Zeiten. Allen voran das Bild des gefesselt von Pfeilen durchbohrten Muhammad Ali.

Lois’ Erfolg basierte darauf, dass er anders dachte als Magazinmacher. Er betrachtete das Cover, für das er verantwortlich war, völlig losgelöst von dem Magazin (das ihm möglicherweise ziemlich egal war, er war so ein Typ)11)Fürs Protokoll: Lois war ein großer Kreativer, aber offenbar auch ein Egomanie, der jede Idee, die irgendwann mal in seiner Nähe vorbeigetragen wurde, als seine deklariert hat. – und er nahm das Thema der Titelgeschichte und erzählte es in einem Bild, so als würde er ein Werbeplakat gestalten. Er war es gewohnt, Fotos zu entwerfen, die in Wahrheit keine Fotos waren,12)Auf die Ära des Werbers als Magazin-Cover-König geht also auch die merkwürdige Tatsache zurück, dass Nachrichtenmagazine ihren Lesern regelmäßig auf der Titelseite beweisen, wie gut sie in der Lage sind, Fotos zu manipulieren. Das wird auch bei den „Pioneer-Newslettern“ manchmal zum Balance-Akt: Unter dem Betreff „Der Stellvertreterkrieg“ war die Bebilderung Seleskyj in einer US-Armee-Uniform. Das ist als Bild fast problematisch, weil man sich darauf verlassen muss, dass Leser eine (technisch gute) Montage als solche erkennen, also eindeutig den Kontext verstehen. Vielleicht ein spannendes Thema für ein anderes Mal. sondern Montagen: Andy Warhol, der in einem Strudel aus Tomatensuppe in eine Campbell’s-Dose gesaugt wird. Nixon, der zum Fernseh-Duell geschminkt wird,13)Beim ersten Versuch gegen Kennedy hatte sein verschwitztes, unrasiertes Gesicht im Fernsehen angeblich die Wähler verschreckt. oder – heute undenkbar – eine junge Frau in einer Mülltonne unter der Headline „Die neue amerikanische Frau – mit 21 schon durch“.

Die fehlende Umdrehung

Eine Geschichte in einem Bild erzählen – das ist der Schritt, an dem die Karikaturen des „Pioneer“ am häufigsten scheitern. „Wladimir Putin ist Tankwart für Gazprom“ ist noch keine. Er müsste noch etwas tun, jemanden bedrohen mit der Tankpistole oder die Limousine des deutschen Bundeskanzlers betanken oder so etwas. Als Cowboy zum Duell antreten mit der Tankpistole und dem Gazprom-Schriftzug auf dem Hut.14)Man erkennt an meinen Vorschlägen: Sohn griechischer Einwanderer zu sein allein macht noch keinen George Lois. Jedenfalls fehlt eine Dimension, es bräuchte eine Umdrehung mehr.

Das gilt übrigens auch, wenn man die meiner Meinung nach am besten einsetzbare Definition für Humor im Storytelling als Maßstab nimmt: Wahrheit und Schmerz. Putin ist Tankwart ist wahr, aber es fehlt der Schmerz, wenn er seine Machtposition nicht auf dem Bild einsetzt (wie im Positivbeispiel mit dem Gasrohr).

Natürlich ist es schwer, das jeden Tag zu tun, Lois musste nur ein Cover im Monat liefern. Aber offensichtlich gibt es an Bord des Redaktionsschiffes15)Kein Witz, keine Metapher von „The Pioneer“ Menschen, die Ideen haben, und welche, die meisterhaft mit Photoshop umgehen können, vielleicht sogar jeweils vereint in einer Person. Und das muss an dieser Stelle einmal gesagt sein: Was für das Golfspiel die Erfindung des Rasenmähers war, ist für die Fotomontage die Entwicklung von Photoshop. Es ist die eine technische Neuerung, die das ganze Spiel auf ein neues Level hebt. Man kann jede Fotomontage an einem Tag produzieren, wenn es scheitert, dann an der Qualität der Idee.

Das ärgert mich, aber zugegebener Weise auch deshalb, weil ich Steingarts komisch süffisanten Ton im Ohr habe, der bei mir immer den Verdacht weckt, was er sagt wäre nicht so schlau, denn wer etwas wirklich Kluges sagt, der braucht die alberne Stimme nicht. Die besten Comedians machen auch keine lustigen Grimassen, sondern erzählen etwas, das so wahr ist und so weh tut, dass wir uns durch Lachen befreien müssen. Wladimir Putin in eine blaue Latzhose zu stecken ist noch nicht wirklich komisch. Aber es kann der Anfang zu etwas Großem sein.

Ich bin ein großer Fan von Magazinen16)Möglicherweise erinnert sich jemand an die Kolumne „Bahnhofskiosk“, die ich hier gut 100 Mal bestücken durfte., und ich liebe den Gedanken, dass es Redaktionen gibt, die die besondere Qualität dieser Form in ein neues Medium tragen. Und dazu gehört eine übertriebene Hingabe zu den Details. Ich wäre wahnsinnig dankbar, wenn jemand den Weg bis zum Gipfel geht.

Fußnoten

Fußnoten
1 Ich meine damit journalistische Newsletter, aber es gibt natürlich Beispiele von Unternehmen, die sehr magazinartige und schöne Newsletter machen.
2 Es ist zum Beispiel völlig unklar, warum Übermedien keine Newsletter rezensiert.
3 Der hier als Beispiel herhalten muss, sehr vieles vom Beschriebenen gilt für das gesamte Angebot von „The Pioneer“.
4 Okay, das ist subjektiv, aber ich finde, es ist eine stolze Tradition.
5 Ohne zu weit abdriften zu wollen würde ich argumentieren, dass die Skala bis zur Satire der „Titanic“ reicht.
6 Remember those? You’re old!
7 Auch das Autorenbild von Steingart ist ganz offensichtlich mit einem Gesichtausdruck gezeichnet, den man sich unter „verschmitzt“ vorstellen soll.
8 Oder, wie man in unserer Branche sagt: zur „Welt“.
9 Interessanterweise wurde der Innenteil des Heftes von einem Mann gestaltet, der später für ganz andere Dinge berühmt wurde: Robert Benton, Autor und Regisseur zum Beispiel von „Kramer gegen Kramer“.
10 Er war außerdem Sohn griechischer Einwanderer, was hier überhaupt keine Rolle spielt, was ich aber trotzdem gesagt haben will. Weil ich will.
11 Fürs Protokoll: Lois war ein großer Kreativer, aber offenbar auch ein Egomanie, der jede Idee, die irgendwann mal in seiner Nähe vorbeigetragen wurde, als seine deklariert hat.
12 Auf die Ära des Werbers als Magazin-Cover-König geht also auch die merkwürdige Tatsache zurück, dass Nachrichtenmagazine ihren Lesern regelmäßig auf der Titelseite beweisen, wie gut sie in der Lage sind, Fotos zu manipulieren. Das wird auch bei den „Pioneer-Newslettern“ manchmal zum Balance-Akt: Unter dem Betreff „Der Stellvertreterkrieg“ war die Bebilderung Seleskyj in einer US-Armee-Uniform. Das ist als Bild fast problematisch, weil man sich darauf verlassen muss, dass Leser eine (technisch gute) Montage als solche erkennen, also eindeutig den Kontext verstehen. Vielleicht ein spannendes Thema für ein anderes Mal.
13 Beim ersten Versuch gegen Kennedy hatte sein verschwitztes, unrasiertes Gesicht im Fernsehen angeblich die Wähler verschreckt.
14 Man erkennt an meinen Vorschlägen: Sohn griechischer Einwanderer zu sein allein macht noch keinen George Lois.
15 Kein Witz, keine Metapher
16 Möglicherweise erinnert sich jemand an die Kolumne „Bahnhofskiosk“, die ich hier gut 100 Mal bestücken durfte.

2 Kommentare

  1. Das Bild mit Muhammad Ali ist ja wirklich „ikonisch“!
    Auch sonst danke für die Einblicke.
    Sonst dachte ich immer, dass ich einen Witz nicht raffe…

  2. Ihre Analyse ist ja ok, aber – wie bei Reichelt – lasst doch so Figuren – sorry, who cares? – wie G . Steingart einfach weg. Der freut sich, dass ihn überhaupt noch jmd. erwähnt, das gibt ihm aber nur Raum, den er m.E. überhaupt nicht verdient.

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