Rechter „Kontrafunk“

Ein Radio für alle, die an Corona-Impfungen, Klimawandel und allen anderen Radios zweifeln

Ein altes Radio, die Taste "KONTRA" ist gedrückt (Fotomontage)
Foto: Imago, Montage: Übermedien

AfD-Rechtsaußen Björn Höcke und CDU-Reizfigur Hans-Georg Maaßen empfehlen es, „Tichys Einblick“ wirbt dafür, und die „Junge Freiheit“ (JF) begleitet den Start mit mehreren Artikeln und einem großen Interview: Seit dem Sommeranfang sendet „Kontrafunk“ – ein neues Webradio für alle, denen die „Mainstream-Medien“ politisch nicht mehr konservativ oder rechts genug sind. Oder, wie die Macher:innen es selbst sehen: die „politisch alternativ“ denken.

Maßgeblicher Macher, Gründer und Spendensammler ist Burkhard Müller-Ullrich, langjähriger Moderator des Deutschlandfunks (DLF) und Talkshow-Host bei SWR2. Schon seit einigen Jahren ist er deutlich rechts abgebogen, wobei in seiner Wahrnehmung natürlich alle anderen im konventionellen Medienbetrieb auf die linke Spur gewechselt sind. Im vergangenen Jahr warf er seinen Kollegen öffentlich „Dummheit und Charakterlosigkeit“ vor; vor kurzem haben SWR2 und Deutschlandfunk Kultur die Zusammenarbeit mit ihm beendet. Zuletzt produzierte er den Podcast „Indubio“ für „Die Achse des Guten“, hat sich von den Herausgebern nach eigenen Angaben jedoch eher im Streit getrennt.

Gegenüber der JF behauptet Müller-Ullrich, „mittlerweile definieren hierzulande Linksextremisten, was ‚rechts‘ ist – weshalb intelligente Menschen bei dieser Zuschreibung doch nur noch mit den Schultern zucken können“. Der Slogan seines Kontrafunks lautet: „Die Stimme der Vernunft“. Definiert wird das von ihm und seinen Mitstreiter:innen vor allem in Abgrenzung zu dem, was sie nicht sein wollen: „Vernünftig“ statt „woke“ ist ein durchgängiges Motto im Programm.

In einer „Eröffnungsansprache“ wettert er gegen die „Altmedien und hochmögenden Afterjournalisten“. Viele Redaktionen verschwiegen angebliche Tatsachen wie die, dass „die Erzählung von der drohenden Klimakatastrophe äußerst zweifelhaft“ sei.

Professionelle Stimmen

Auffallend ist, dass das Programm professionell vorgetragen wird, man merkt den meisten Beteiligten an, dass sie Erfahrung als Radio- oder Podcast-Macher:innen haben: So liest der ehemalige DLF-Sprecher Volker-Andreas Thieme die Nachrichten. Die Redaktion besteht laut Müller-Ullrich aus 20 Redakteurinnen und Redakteuren, die sich auf zwölf volle Stellen verteilen, mit einigen in Teilzeit. Glaubt man Müller-Ullrich, kommen etwa ein Drittel von ihnen vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk, ein Drittel von „Russia Today“ und ein Drittel aus anderen Bereichen. Russische Einflussnahme oder Agenda bestreitet er in diesem Zusammenhang vehement.

Bemerkenswert für ein neues Projekt ist der erhebliche finanzielle Aufwand: Nach eigenen Angaben hat Müller-Ullrich 1,2 Millionen Euro Startkapital eingesammelt. Erster Geldgeber mit 100.000 Euro sei ein „bekannter Journalist“ gewesen, dessen Namen er aber nicht nenne. Dann seien mehrere Großspender hinzugetreten, mit Beteiligungsoption von 25.000 bis maximal 100.000 Euro, damit niemand sich einen großen Einfluss „quasi einkaufen“ könne, so Müller-Ullrich im Gespräch mit der JF. Die Gesamtsumme verteile sich auf 36 Investoren, laut Müller-Ullrich „alles private Mittelständler“.

Der Sitz des Radios ist im schweizerischen Cham, auch Müller-Ullrich selbst wohnt seit einiger Zeit in der Schweiz. Er sei zugunsten seines Sohnes „vor der deutschen Politik geflohen“, damit der 15-Jährige nicht verkümmere und weiter in die Schule gehen könne, was in Köln nicht mehr möglich gewesen sei. Doch man betreibt keinen Sender im eigentlichen Sinn mit Redaktionsräumen, Sprecherkabinen und Studio, sondern alle Macher:innen senden aus ihren privaten Räumlichkeiten.

Das Radio soll langfristig durch 12.000 „Patenschaften“ zu zehn Euro monatlich finanziert werden. Damit käme man auf gut 1,4 Millionen Euro jährlich, was den Sendebetrieb sicherstellen würde. Der Plan klingt sehr ambitioniert: Momentan folgen „Kontrafunk“ auf Twitter rund 3.700 Accounts, Müller-Ullrich als Macher und bekannte Figur hat dort gut 5.500 Follower, darunter zahlreiche ehemalige „Mainstream“-Kolleg:innen, die mutmaßlich nicht in die Finanzierung seines Projekts einsteigen werden. Die tatsächliche Zahl der Hörer:innen lässt sich momentan nicht unabhängig ermitteln.

Noch viele Wiederholungen

Momentan besteht das angekündigte Vollproramm noch aus viel Musik und circa drei bis vier Stunden echtem Wortprogramm, das mehrmals am Tag wiederholt wird. So sind die mehrfach wiederholten Nachrichten zum Teil erkennbar veraltet; der einstündige „Podcast des Tages“ wird sechs Mal täglich ausgestrahlt; die als „Aktuell“ betitelten Nachrichtenausgaben, plus knapp einstündigem aktuellem Tagesgeschehen, sollen drei Mal am Tag aktualisiert werden, werden aber auf zehn Sendeplätze verteilt. Doch selbst diese Aktualisierung gelang in der ersten Woche noch nicht, laut Müller-Ullrich wegen technischer Probleme zum Sendestart.

Inhaltlich bietet das Programm wenig Überraschendes. Es kreist um die Themen, die in der angestrebten Zielgruppe dominieren: Die Corona-Politik und die Impfungen nehmen einen großen Raum ein, auch Gender-Politik wird ausführlich behandelt, gefolgt von Kritik an den „Mainstream“-Medien und allem, was aus Sicht der Betreiber:innen irgendwie „politisch korrekt“, „moralisierend“, oder „woke“ daherkommt.

Insbesondere das Thema Corona zieht sich wie ein Roter Faden durchs Programm, auch musikalisch hört man immer wieder Stücke deutscher Barden mit Klampfe, die lyrische Schauergeschichten aus der Corona-Diktatur erzählen, wo Großväter von ihren Enkeln verstoßen, an Lungenkrebs erkrankte Menschen aus dem Job geekelt und Impfgegner verfolgt werden. Dabei wird der Großteil der Musik ohne Moderation gespielt, so dass leider unklar bleibt, wer die Interpreten des Liedguts sind.

„Sogenannte Impfungen“

Für ein Programm, das die unterstellte „Mainstream“-Haltung als fixen Kritikpunkt hat, ist die Berichterstattung allerdings selbst oft sehr wertend: So werden die Corona-Schutzimpfungen in den Nachrichten schon mal als „sogenannte Impfungen“ bezeichnet, die Möglichkeit, sein Geschlecht gegenüber Behörden künftig selbst zu bestimmen, heißt „sogenanntes Selbstbestimmungsgesetz“, und Klima-Aktivist:innen, die Fahrbahnen blockieren, werden sofort als „Kriminelle“ verurteilt.

Zum Teil gerät die Nachrichtenauswahl unfreiwillig komisch, etwa wenn Moderatorin Ilona Pfeffer eine Auswahl von Meldungen ankündigt, „die es vielleicht nicht in die Schlagzeilen der großen Medien geschafft haben“, um dann eine Titelgeschichte der „New York Times“ über die US-Militär-Aktivitäten in der Ukraine vorzutragen, die es in ungefähr alle großen Medien geschafft hatte.

Weniger amüsant ist allerdings die fortschreitende Anti-Impf-Rhetorik im Sinne der „Querdenker“ und anderer Gegner:innen der Corona-Politik: Hier wird zum Teil handfeste Desinformation geliefert, etwa wenn die Hamburger Ärztin Sonja Reitz behauptet, „allein die Gabe von Vitamin D“ verhindere „80 Prozent der schweren Verläufe“ von Corona-Infektionen. Alte Menschen „die noch zuhause leben, die noch ein paar Vitamine nehmen, die haben keine schweren Verläufe“, verspricht Reitz. Auch werde „durch die Impfungen das Immunsystem der Menschen beschädigt.“ Nichts davon entspricht dem aktuellen Konsens der Wissenschaft oder schlichter gesagt: der Wahrheit.

Unfreiwillige Komik

Holprig verlief die erste Ausgabe der abendlichen Talk-Sendung „Die Beichte“, in der die Ex-Russia-Today-Moderatorin Jasmin Kosubek und Co-Moderator Aron Morhoff die soeben im Streit von Springer geschiedene Autorin Judith Sevinç Basad zu Gast hatten. Zur Eröffnung forderte Kosubek das Publikum auf: „Lehn Dich zurück, aber nicht zu weit, Empörung ist nur eine Beichte entfernt“ – und ähnlich kryptisch ging es weiter.

Gebeichtet wurde jedenfalls wenig bis nichts, denn Basad wollte in keiner Weise über Details oder Interna ihres Zerwürfnisses mit „Bild“ bzw. Springer reden. Sie reagierte gleich auf die erste Frage nach den Gründen deutlich zugeknöpft, in dem sie auf ihre Substack-Seite verwies und es ansonsten „gerne dabei belassen würde“. Das warf die Moderation zunächst hörbar aus der Bahn, Kosubek fragte anschließend, ob sie aus Basads offenem Brief zitieren dürfe. Das durfte sie, aber nachdem Basad nach gut sechs Minuten nochmal sagte, dass sie „nur ungern auf die Affäre um meine Kündigung“ eingehen wolle, verschwand das Thema, das der Aufhänger für Basads Anwesenheit war, schnell von der Agenda. Danach redeten die drei schlicht über alles, was sie an der „woken Bewegung“ stört.

Auch hier kam es zu unfreiwilliger Komik, etwa als Basad daran scheiterte, Kosubeks Frage „Was ist denn eine Frau?“ zu beantworten. Zunächst versuchte sie es mit „eine Person mit bestimmten biologischen Eigenschaften“, schob dann allerdings schnell hinterher, sie kenne „die genetischen Fachbegriffe nicht auswendig“, es folgte eine Aufzählung von „Eierstöcken, Brüsten, weiblichen Hormonen, Vagina“, worauf Kosubek versuchte einzuwenden, dass es ja auch Frauen gebe, die nach einer Krankheit keine Brüste mehr hätten, worauf Basad nicht einging, sondern sich in den Zwischenruf „zwei X-Chromosome“ flüchtete. Ungewollt offenbarte der Dialog, dass es mit Sex und Gender vielleicht doch nicht ganz so einfach ist, wie Basad es gerne hätte.

Geradezu bizarr waren Teile der satirischen Sprachkritik „Yoyogaga“ des Schweizer Kabarettisten Andreas Thiel. Der Titel möchte sich vermutlich über modernen Sprachgebrauch lustig machen, doch Thiel sorgte im Verlauf der Sendung eher selbst für Gaga, als er ein offenbar gegen ihn gerichtetes Schweizer Urteil wegen des Nicht-Tragens einer Atemschutzmaske auf sein Versmaß hin überprüfte. Dabei dozierte Thiel im Stile eines Deutschlehrers der gymnasialen Oberstufe über Jamben und Trochäen und brütete minutenlang über dem Versmaß seines Gebührenbescheides, indem er „Taa tata taa, tata taataa“ ins Mikrofon sprach.

Zugegeben: Das läuft im Deutschlandfunk nicht.

Ob „Kontrafunk“ von den Themen und der Machart das Potential bietet, seine sehr ambitionierten Finanzierungsziele zu erreichen, lässt sich noch nicht sagen. Sicherlich kann ein unabhängiges Radio für eine bestimmte Zielgruppe eine gewisse Wirkung entfalten, allerdings zeigt die Geschichte der zahlreichen freien Radios, zumeist linker oder linksradikaler Provenienz, dass deren Erfolg eher überschaubar bleibt. Momentan wirkt „Kontrafunk“ zum großen Teil wie ein Altherren-Radio für eine abtretende Generation Konservativer, auch wenn man sich um einige junge Stimmen bemüht. Dass der Neuen Rechten hier ein reichweitenstarkes Medium zuwächst, erscheint eher fraglich.

16 Kommentare

  1. Wissenschaftlichen Konsens mit Wahrheit gleichzusetzen, ist schon eine gewagte Behauptung. Die Wahrscheinlichkeit, nah an der Wahrheit zu sein, ist sicher recht hoch. Dennoch kann sich auch eine Mehrheit irren oder falsche Schlüsse ziehen. Natürlich sind auch die einzelnen Gegenstimmen nicht automatisch die Märtyrer oder die wissenden Auserkorenen, wie sie sich gerne inszenieren. Wenn das Durchschauen angenommener Verschwörungen als eigene Denkleistung verkauft wird, wirkt es doch lächerlich, wenn die eigenen Erkenntnisse doch eher wiedergekäut klingen und sich sogar in der Wortwahl anderen Quellen sehr ähneln.

  2. Wie kommt es eigentlich, dass sich Rechtsausleger immer und überall vom Zeitgeist, dem Mainstream oer was sonst gerade woke oder angesagt ist, verfolgt fühlen (nach meiner Erinnerung war das bei denen rechts in und von der Union schon in den 80ern so)? Gehört Paranoia da automatisch zur Stellen- und Funktionsbeschreibung?

  3. @#2 Ich als Küchenpsychologe sage: Angst vor Bedeutungslosigkeit. Da man nicht Schritt halten kann, muss man das bestehende verteidigen und das Neue bekämpfen. Der Witz dabei: das kann durchaus sinnstiftend sein, findet man hier doch plötzlich Anschluss in einer besonderen Blase. Finden auch andere das Neue doof, ist man nicht mehr allein. Und man stilisiert die Minderheit zu einer Elite hoch. Die Aufgewachten oder eben Querdenker.

  4. Hurra. Wieder ein neuer Kanal, der den Durchblick hat. Wie die Frittenbuden an jeder Ecke. Wo kämen wir sonst hin.

  5. #1 „Wissenschaftlichen Konsens mit Wahrheit gleichzusetzen, ist schon eine gewagte Behauptung. Die Wahrscheinlichkeit, nah an der Wahrheit zu sein, ist sicher recht hoch. Dennoch kann sich auch eine Mehrheit irren oder falsche Schlüsse ziehen“

    Exakt so funktioniert false-balancing. Das klassische Galileo Gambit.

    Wenn jemand behauptet, dass „allein die Gabe von Vitamin D“ 80% der schweren Verläufe vermeiden kann, dann ist das empirisch belegbar unwahr. Denn bei Vitamin-D Mangel wird bei Covid-19 Patienten auf den Intensivstationen standardmäßig Vitamin-D verabreicht, eine Blindstudie ergab bei vorsorglicher Vergabe keinen Unterschied zur Placebo Gruppe. Vitamin-D ist aber ein fettlösliches Vitamin und Überdosierung kann daher zu Kalzium Anstieg im Blut führen. Folgen können Herzrhythmusstörungen und/oder Nierensteine sein
    Und, die Menschen, die sich über VT-Geschwurbel lustig machen, machen das idR nicht, weil sie eigene Informationen aufwerten wollen, sondern weil die Art und Weise, wie diese VT Informationen dargereicht und weitergegeben werden, so lächerlich ist.

    Im übrigen funktioniert Wissenschaft im besten Fall genau so: Man ist nicht in der Lage alles und jedes, was man an Informationen validieren möchte, durch eigene Studien zu erarbeiten. Deshalb werden Aussagen daran gemessen, wie sorgfältig sie die Standards wissenschaftlichen Arbeitens erfüllen.
    Ja, das funktioniert nicht immer, aber doch so häufig, dass die gleichberechtigte Erwähnung der Schwurbelei absurd ist.
    Neben den Dingen, die sowieso empirisch belegbar falsch sind.

  6. „Vitamin-D ist aber ein fettlösliches Vitamin und Überdosierung kann daher zu Kalzium Anstieg im Blut führen.“

    Das ist in der Formulierung falsch. Vitamin D ist hauptsächlich für den Kalziumstoffwechsel verantwortlich und würde auch dann einen Kalziumanstieg verursachen, wenn es _nicht_ fettlöslich wäre. Vitamin A ist auch fettlöslich, erzeugt aber bei Überdosierung _keinen_ Kalziumanstieg. Die Kausalkette Fettlöslichkeit-Kalziumanstieg ist also so nicht gegeben.
    Dass man mit wasserlöslichen Vitaminen viel schwieriger eine Überdosis erzielt, weil da der Überschuss schneller ausgeschieden wird, ist ein anderes Feld.

    Wo wir schon beim Balancieren sind.

  7. #6 Leider zu kurz gedacht:
    Wasserlösliche Vitamine lassen sich leichter wieder ausscheiden, werden also nicht so leicht überdosiert. Darauf beziehe ich mich. Wenn Sie das anders lesen wollen, ist das Ihr Problem.

    Einen Zusammenhang damit zu konstruieren, dass @Nils dort oben offensichtlich false-balancing betrieb, ist beliebig.

    Lustigerweise versuchen Sie nicht einmal, inhaltlich tatsächlich etwas anderes auszusagen. Was also auch immer Ihre Intention sein mag, was anderes als schnödes ad hominem kann schwerlich dabei herauskommen.

    Gähn.

  8. „Leider zu kurz gedacht: Wasserlösliche Vitamine lassen sich leichter wieder ausscheiden, werden also nicht so leicht überdosiert.“ Habe ich doch geschrieben.
    „Wenn Sie das anders lesen wollen, ist das Ihr Problem.“ Was ich will, ist egal. Ihre Formulierung ist unsauber und missverständlich. Das „daher“ kann sich in Ihrer Formulierung nur auf „Vitamin D ist fettlöslich“ beziehen.

    „Einen Zusammenhang damit zu konstruieren, dass @Nils dort oben offensichtlich false-balancing betrieb, ist beliebig.“
    Eigentlich nicht. Es kommt häufiger vor, dass journalistische Texte wissenschaftliche Zusammenhänge verkürzt, missverständlich oder falsch darstellen, teilweise, weil sie den fraglichen Journalisten falsch erklärt wurden, teils, weil die sie falsch verstanden haben, weil Journalisten nicht für alles Experten sein können. Oder die Redaktion verschlimmbessert es. Balancing, und daher auch False-Balancing, ist der Versuch von Journalisten, etwas richtig darzustellen, bei dem sie sich unsicher sind: man lässt alle Experten (oder manchmal auch „Experten“) direkt zum Publikum sprechen. Weil sie nicht genau wissen, welche von zwei wissenschaftlichen Aussagen stimmt, geben sie beide wieder, mit den bekannten Problemen.
    Der andere Grund für False-Balancing sind mMn Talkshows. Wenn man 5 Leute einlädt, die zum Thema _eine_ Ansicht haben, ist das eine recht langweilige Runde. Also diskutiert man das Thema entweder gar nicht, oder lädt jemanden mit Außenseitermeinung ein.

    „Lustigerweise versuchen Sie nicht einmal, inhaltlich tatsächlich etwas anderes auszusagen.“ Warum auch?
    Wenn man False Balancing vermeiden will, muss man journalistischerseits genug Expertise haben, um zumindest die völlig ahnungslosen „Experten“ aussortieren zu können. Und man kann natürlich auch _versuchen_, die proportionale Verteilung der unterschiedlichen Hypothesen in der Wissenschaft festzustellen.
    Und alles, was unter der 5%-Hürde bleibt, hat Pech gehabt, wie im Bundestag.

  9. „Vitamin-D ist aber ein fettlösliches Vitamin und Überdosierung kann daher zu Kalzium Anstieg im Blut führen. “ schrieb ich.

    Das ist ebenso exakt so zu verstehen, wie es gemeint ist.
    „Eine Überdosierung ist möglich, weil es ein fettlösliches Vitamin ist.“

    Ein ganz anderer Schnack ist es aber zu schreiben:
    „Wissenschaftlichen Konsens mit Wahrheit gleichzusetzen, ist schon eine gewagte Behauptung. “

    wenn es um empirisch so leicht widerlegbare Schwurbeleien geht wie
    „„allein die Gabe von Vitamin D“ verhindere „80 Prozent der schweren Verläufe“
    oder
    „Alte Menschen „die noch zuhause leben, die noch ein paar Vitamine nehmen, die haben keine schweren Verläufe“,

    Not the same ballpark.

    Eine exotische Meinung nur deshalb einzuladen, weil es die Diskussion belebt, ist eben kein seriöser Journalismus mehr, wenn es um Themen geht, die Menschenleben gefährden.
    Sie hätten mich fragen können, ob ich tatsächlich meine, dass Fettlöslichkeit des Vitamins etwas mit dem Kalziumstoffwechsel zu tun habe. Das könnte man mißverständlich lesen. Aber das lag ja nicht in Ihrem Interesse. Ums Verstehen geht es nicht, nur um den Effekt.

    Dass viele Menschen den Eindruck haben, die Wissenschaft habe eher nur manchmal recht und man könne sich die Einzelmeinung aussuchen, die einem persönlich gut gefällt, ist zu einem großen Teil den Medien zu verdanken, die diesen Eindruck erzeugt haben, eben durch das Interessantermachen dröger Themen.

    Ob bei einer Pandemie oder dem Klimawandel.

    Danke dafür.

  10. „Eine exotische Meinung nur deshalb einzuladen, weil es die Diskussion belebt, ist eben kein seriöser Journalismus mehr…“ Ja, das sind ja auch Talkshows.

    „Sie hätten mich fragen können, ob ich tatsächlich meine, dass Fettlöslichkeit des Vitamins etwas mit dem Kalziumstoffwechsel zu tun habe.“
    Warum? Wenn Sie nicht missverstanden werden wollen, formulieren Sie doch entsprechend.

    “ … ist zu einem großen Teil den Medien zu verdanken, die diesen Eindruck erzeugt haben, eben durch das Interessantermachen dröger Themen.“
    Ja, eine bessere Einordnung wäre in vielerlei Hinsicht nötig gewesen. Aber man kann falsche Ausgewogenheit nur durch richtige Ausgewogenheit bekämpfen, nicht durch gar keine Ausgewogenheit.

  11. „Aber man kann falsche Ausgewogenheit nur durch richtige Ausgewogenheit bekämpfen, nicht durch gar keine Ausgewogenheit.“

    „Im liberalen Sinne heißt liberal nicht nur liberal.“ [Loriot]

    „Ausgewogenheit“ im wissenschaftlichen Kontext…was für eine Schnapsidee.

    „Wenn Sie nicht missverstanden werden wollen, formulieren Sie doch entsprechend.“
    Ich habe kein Problem mit meiner Formulierung und finde sie ausreichend deutlich. Ihre Intention war und ist eh klar.

  12. „Ich habe kein Problem mit meiner Formulierung und finde sie ausreichend deutlich.“ Das Sie wissen, was Sie meinen, ist ja schön für Sie.
    „Ihre Intention war und ist eh klar.“ Haben Sie nicht mal gesagt, was man anderen unterstellt, täte man selbst?

    „„Ausgewogenheit“ im wissenschaftlichen Kontext…was für eine Schnapsidee.““ Wenn es „false balancing“, also falsche Ausgewogenheit gibt, müsste es ja auch „true balancing“ geben. Oder jedes „balancing“ ist „false“, dann ist der Begriff aber sinnlos.
    Es ist ja journalistischer Kontext, kein wissenschaftlicher. Die Medien selbst betreiben keine Wissenschaft, sondern wollen Wissenschaft wiedergeben. (So wie Sportreporter keinen Sport treiben.) Und wenn Medien selbst nicht genug von der jeweiligen wissenschaftlichen Frage verstehen, um zu entscheiden, was davon richtig ist, was tun?

    a) man fragt ganz viele Experten und gibt nur die Antwort wieder, die am häufigsten gegeben wurde (egal, wie häufig oder selten)
    oder
    b) man fragt ganz viele Experten und gibt alle Antworten wieder, die jeweils von mehr als x % gegeben wurden (wobei x zu diskutieren wäre), und ordnet die Antworten aber als „Konsens“, „Alternativtheorie“, „Außenseitermeinung“ etc. ein
    oder
    c) man fragt ganz viele Experten, und gibt die beiden häufigsten Antworten wieder, aber ohne jede Einordnung?

    c) ist klassisches false balancing und schlechter als b), aber besser als a).

  13. „Wenn es „false balancing“, also falsche Ausgewogenheit gibt, müsste es ja auch „true balancing“ geben.“

    Wird nicht besser.
    Es heisst false balancing, weil der falsche Eindruck erweckt wird, es gäbe zu dem Thema in etwa gleich starke konkurrierende Ansichten.
    Wenn der Astronom Ihnen sagt, dass die Erde eine Kugel ist, können Sie ja mal mit Ihrem true-balancing Konzept loslegen.

    Es lohnt sich komplett gar nicht, sich mit Ihnen auszutauschen.
    Schönes weiteres Leben. Meine Zeit ist dafür zu schade.

  14. „Es heisst false balancing, weil der falsche Eindruck erweckt wird, es gäbe zu dem Thema in etwa gleich starke konkurrierende Ansichten.“
    Dann ist praktisch alles false balancing, wenn mehr als eine Ansicht dargestellt wird, weil Ansichten selten gleich stark vertreten sind.

    Beispiel: Talkshow über Dunkle Materie.
    Gast A: „Das ist baryonische Materie, die noch nicht entdeckt wurde.“
    Gast B: „Das sind Neutrinos.“
    Gast C: „Das ist ein noch unbekannter Teilchenzoo.“
    Gast D: „Das ist überhaupt keine Materie, sondern die fraglichen Beobachtungen müssen durch ein modifiziertes Gravitationsmodell dargestellt werden.“

    Diese vier Thesen werden vermutlich nicht alle gleich stark, also von je rund 25% aller Wissenschaftler vertreten, man könnte das als Zuschauer aber denken. Also wäre das false balancing. Ihre Definition, nicht meine.

  15. @Mycroft:
    Mir stellt sich die Frage, warum Sie eigentlich zu ein Thema diskutieren, von dem Sie vorgeblich gar keine Ahnung haben?!

    Nein, ich beginne nun nicht auch noch zu versuchen, Ihnen false-balancing zu erklären. Wenn Ihnen das Ende 2022 nicht klar ist, dann ist das eh vergebene Liebesmüh.

    Das, was Sie beschreiben, ist es auf jeden Fall nicht. Das wäre auch gar kein Problem.
    Einen Intensivmediziner und einen Homöopathen einzuladen, die wechselseitig beschreiben soll, was man am besten gegen schwere Verläufe von Covid-19 tun kann, dass wäre false-balancing.

    Und da muss man auch noch unterscheiden, ob es um Heuschnupfen geht, oder eine Pandemie.

    Wie gesagt, wenn Sie das bis heute nicht begriffen haben, können Sie aufhören das zu versuchen.

  16. „Einen Intensivmediziner und einen Homöopathen einzuladen, die wechselseitig beschreiben soll, was man am besten gegen schwere Verläufe von Covid-19 tun kann, dass wäre false-balancing.“
    Das wäre ein Extremfall. Wie ein Flat-Earthler bei der Dunkle-Materie-Diskussion. Aber ich käme in dem Fall auch nicht auf die Idee, dass das zwei „gleich starke konkurrierende Ansichten“ wären.

    „Und da muss man auch noch unterscheiden, ob es um Heuschnupfen geht, oder eine Pandemie.“ Eigentlich würde ich auch keinen Homöopathen zum Thema Heuschnupfen hören wollen, aber gut.

    „Wie gesagt, wenn Sie das bis heute nicht begriffen haben, können Sie aufhören das zu versuchen.“ Ich will nur einen Grenzwert, wie man als Journalist false balancing vermeiden kann, ohne selbst Fachmann zu sein. Wie stark muss eine Ansicht in der jeweiligen Forschung und Wissenschaft vertreten sein, dass die Wiedergabe jeder anderen Ansicht false Balancing ist?
    Relative Mehrheit, absolute Mehrheit, 2/3, 90%, was?
    Oder welche anderen Kriterien – außer natürlich, keine Homöopathen, Astrologen, Flacherdler etc. einzuladen – könnte man nennen?

    Oder meinen Sie, dass false balancing Absicht wäre?

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