Wochenschau (127)

Aus dem Kliemannsland wird die Neverwokeranch

Zwischen diesen Bildern liegen drei Wochen. Links der sich geläutert gebende Fynn, rechts der rantende Kliemann.
Zwischen diesen Bildern liegen drei Wochen. Links der sich geläutert gebende Fynn, rechts der rantende Kliemann. Fotos: Instagram/fimbim; Montage: Übermedien

In seinen legendären Tagebüchern schrieb Fritz J. Raddatz: Das imposanteste Glied des deutschen Mannes ist der erhobene Zeigefinger. Selbstverständlich kannte er da noch nicht die mehr als imposante 100 Meter große „Penisexplosion“, die der Unternehmer Fynn Kliemann am letzten Tag des Jahres 2017 auf einem Acker seines Kliemannslandes zwischen Hamburg und Bremen inszenierte. In diesem Fall eines ausgefallenen silvesterlichen Feldexperiments ging es jedoch weniger um Maßregelung und Moralisierung, sondern vielmehr und ganz im Gegenteil um ein Zelebrieren von Freiheit.

Mittlerweile sieht Kliemann diese Freiheit bedroht: Durchgedrehte Reporter und Teile einer „woken linken Szene“ wollen sie ihm nehmen und das Land, das seinen Namen trägt, gleich mit. Das finde er unfair, denn dabei würden nicht nur er, sondern auch andere Menschen, „die sich für dich und sich verwirklichen, in Sippenhaft“ genommen.

Dieses In-Sippenhaft-nehmen wäre natürlich tatsächlich nicht okay. Denn schließlich sollte niemandem die Möglichkeit genommen werden, sich selbst für mich zu verwirklichen, nur weil ein Entrepreneur versehentlich ein paar krumme Geschäfte gemacht hat, die er später – als er erwischt wurde – als Ergebnis eines übereifrigen Unternehmertums und als verzeihbare ökonomische Naivität definierte. Bei Kliemanns jüngstem Rant gegen die Welt da draußen, jenseits der Grenzen seines eigenen Landes, blieb mir neben den „Reparationszahlungen“, die er geleistet habe – also soweit ich das verstanden habe eine Art Ablasshandel – vor allem auch die Bezeichnung „die Woken“ als designiertes Feindbild hängen. Denn wie immer, wenn ich diesen Ausdruck höre, frage ich mich: wer eigentlich soll damit gemeint sein?

Woke

Begriffshistorisch lassen sich zu „woke“ verschiedene Herkünfte finden. Die Idee des Aufwachens im Sinne der Bildung eines politischen (Selbst-)Bewusstseins findet man der „Vox.com“-Autorin Aja Romano zufolge bereits 1923 in einer Sammlung von Aphorismen und Ideen des jamaikanischen Philosophen und politischen Aktivisten Marcus Garvey („Wach auf Äthiopien! Wach auf Afrika!“).

Eine weitere Quelle könnte auch der 1938 veröffentlichten Song des US-amerikanischen Bluessängers „Leadbelly“ Hudson Ledbetter sein. Die titelgebenden „Scottsboro Boys“ waren neun Schwarze Teenager, die in den 1930er Jahren in Alabama fälschlicherweise der Vergewaltigung von zwei weißen Frauen beschuldigt wurden. Obwohl die Beweislage dürftig war, wurden sie zum Tode verurteilt, kamen dann ins Gefängnis, trotz bewiesener Unschuld. Drei von ihnen wurden 80 Jahre später begnadigt. In einem Gespräch mit dem Folkloristen Alan Lomax warnte „Leadbelly“ am Ende der Aufnahme des Songs:

„Ich rate jedem, ein bisschen vorsichtig zu sein, wenn er da durchgeht – am besten wach bleiben, die Augen offen halten.“
(Übersetzung von uns)

Es ist damit eine der frühesten dokumentierten Verwendungen des Wortes „woke“ im modernen Sinne eines sozialen oder politischen Bewusstseins.

Eine andere Referenz ist ein in der „New York Times“ veröffentlichtes  Essay aus dem Jahr 1962 mit dem Titel „If You’re Woke You Dig It“ des Schwarzen Autors William Melvin Kelley. Er schreibt darin über das afroamerikanische Englisch und seine Entstehung als souveräner Akt Schwarzer Menschen gegen eine Aneignung durch weiße. Afroamerikanisches Englisch, also African American English (AAE), auch als African American Vernacular English (AAVE) bezeichnet, ist eine innerhalb der afroamerikanischen Community verbreitete Varietät des Englischen, mit einer spezifischen Grammatik, eigener Aussprache mancher Wörter und auch eigenem Vokabular.

Im Jahr 2008 veröffentlichte Erykah Badu ihren Song „Master Teacher“, der mit seiner mantrahaften Wiederholung des Satzes „I stay woke“ wie eine politische Hymne zum Wort wirkt. In einem Gespräch für „OkayPlayer“ wurde die Autorin des Songs, Georgia Anne Muldrow, nach dem Ursprung des Wortes woke gefragt. Ihre Antwort:

„‚Woke‛ ist definitiv eine Schwarze Erfahrung – ‚Woke‛ ist, wenn dir jemand einen Sack über den Kopf stülpt, dich k.o. schlägt und an einen neuen Ort bringt und du dann zu dir kommst und merkst, dass du nicht zu Hause bist und die Leute um dich herum nicht deine Nachbarn sind. Sie verhalten sich nicht nachbarschaftlich, sondern sie sind diejenigen, die dir den Schädel eingeschlagen haben. Du wurdest hierher entführt und dann um deine eigene Sprache und alles andere gebracht. Das ist wach – zu verstehen, was deine Vorfahren durchgemacht haben. Man muss nur den Kampf kennen, den unser Volk hier durchgemacht hat, und verstehen, dass wir seit dem Tag, an dem wir hier gelandet sind, gekämpft haben. Es gab kein Jahr, in dem der Kampf nicht stattgefunden hat.“
(Übersetzung von uns)

Insbesondere nach der Erschießung des 18-jährigen unbewaffneten Michael Brown 2014 erweiterte sich das Wokesein auf eine Wachsamkeit gegenüber institutioneller Gewalt gegen die Schwarze Community. Der Ausdruck „stay woke“ wurde von Aktivisten der „Black Lives Matter“-Bewegung verwendet, um auf polizeiliche Übergriffe aufmerksam zu machen. Der BET-Dokumentarfilm „Stay Woke“, der über die Bewegung berichtete, wurde im Mai 2016 ausgestrahlt.

Es war, ähnlich wie in der Nachbesprechung des Songs von Leadbelly, in dem er über die zu unrecht verurteilten, Schwarzen Teenager sang, ein Aufforderung und Warnung, wachsam und achtsam zu sein, wenn Menschen und Institutionen symbolische und reale Gewalt gegen Schwarze Menschen ausüben. „Stay woke“, regelmäßig auch als Hashtag trendend, bedeutet: sich gegenseitig zu schützen und Ungerechtigkeiten zu dokumentieren, aber auch ein Bewusstsein für genau diese zu entwickeln. Mit dem Wokesein geht also auch eine genaues Beobachten von Menschenfeindlichkeiten einher, etwa, indem Polizeigewalt gefilmt wird oder Grenzüberschreitungen von rassistischen Menschen auf Social Media geteilt und angeprangert werden.

Euphemismus-Tretmühle

Gemeinhin wurde „woke“ somit zum Ausdruck eines sozialen Bewusstseins, das Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten erkennt bzw. erkannt hat und sich nun dazu verhält bzw. sich nicht nicht mehr dazu verhalten kann. Dementsprechend wurde es im Zusammenhang mit Aktivismus und Gerechtigkeitsbestrebungen angewandt, mit der Idee, Minderheiten und Marginalisierte schützen zu wollen und wachsam für soziale Entwertungen zu sein.

Nun erfuhr der Begriff des Woken eine Bedeutungsverschiebung, herbeigeführt von den kritisierten Diskursteilnehmern, mit dem Ziel, die darin enthalte Mahnung zu entkräften und die Woken als hypersensibel oder opportunistisch zu desavouieren.

Diese Verschiebung fing mit Ridikülisierung und spöttischer Nutzung des Wortes „woke“ an, bis es als gesellschaftspolitischer Kampfbegriff missbraucht werden konnte, wie etwa auch „political correctness“ oder „canceln“. Durch eine inflationäre oder metaironische Nutzung verlor „woke“ seine ursprünglich Bedeutung. Es entstand eine „Euphemismus-Tretmühle“. Dieser Begriff (engl. euphemism treadmill) des Linguisten Steven Pinker beschreibt die Bedeutungsentwicklung eines Ausdrucks, welcher als Euphemismus für einen negativen Begriff eingesetzt wird.

Beispielsweise galt das Wort „Asylant“ in den Sechzigerjahren als wertfreie Bezeichnung für eine asylsuchende Person, bis es durch Assoziation mit negativen Konnotationen und Politisierung eine Bedeutungsverschiebung ins bewusst Abwertende bekam und durch „Asylbewerber“ ersetzt wurde. Eine ähnliche Entwicklung machte das Wort „Flüchtling“ durch, welches deshalb nun häufiger durch „Geflüchtete“ oder „Flüchtende“ ersetzt wird.

Allerdings wird der Versuch, mit Hilfe eines neuen Ausdrucks, der vielleicht korrekter oder präziser ist, etwas zu bezeichnen, das sich an sich nicht geändert hat, als Euphemisierung oder Sprachmanipulation wahrgenommen, was zu einer Ironisierung und/oder Abwertung des neues Begriffs führt. Weshalb ein neuer Begriff gesucht wird, der nicht stigmatisiert und so weiter – deswegen das Bild der Tretmühle. Der Linguist Anatol Stefanowitsch erklärt allerdings, dass es keine sprachwissenschaftlichen Belege gebe für Pinkers Hypothese.

Laut „The Guardian“ wird der Begriff „woke“ beispielsweise 2018 pejorativ von rechten Influencern wie Laurence Fox und Toby Young genutzt, um jene anzugreifen, die den Begriff affirmativ nutzen.

Aktivismus und Aktionismus werden mit der abwertenden Nutzung des Wortes „woke“ gleichgesetzt. Die Ideen, die damit assoziiert werden, meist linke, progressive Bestrebungen, werden als zu militant, elitistisch, anmaßend, spitzfindig, übersensibel, unangemessen, selbstgerecht oder aber unaufrichtig, performativ und auf die Selbstinszenierung bedacht abgewertet.

Das ging und geht so weit, dass „woke“ inzwischen vor allem als Beleidigung oder mit Abschätzigkeit angewandt wird. Die Begriffe „woke capitalism“ und „woke-washing“ beispielsweise werden benutzt, um Unternehmen zu beschreiben, die halbherzige Unterstützung für progressive Anliegen nur als Feigenblatt für echte Reformen benutzen.

Höhepunkt der Entleerung

Damit sind wir im Jetzt und der seltsamen semantischen Situation, in der ein Watchword aus dem afroamerikanischen Englisch, welches eine sozialpolitisches Bewusstsein umschrieb und verbunden war mit der Erfahrung des Schwarzseins in den USA, in meinungsjournalistischen Takes, bürgerlichen Redaktionsstuben und populistischen Äußerungen Verwendung findet, um ausgerechnet die Bedrohung der Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit und Demokratien im Allgemeinen zu ahnden: „Wokeness“.

Emmanuel Macron und französische Intellektuelle warnten während des französischen Wahlkampfes 2021 beispielsweise vor einer „außer Kontrolle geratenen woken Linken“. Im deutschen Diskurs kritisierte Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht die Wokeness interessanterweise, indem sie diese mit Identitätspolitik gleichsetzte und ökonomische und rassistische Marginalisierung gegeneinander ausspielte. Damit schlug sie in die gewohnte Kerbe des Selbstgefälligkeitsvorwurfes, welche das „woke“-Sein darstellt als reine Performance des Moralischen, als Inszenierung der eigenen Wachsamkeit, ansonsten aber wirkungslose Pose des Unerbittlichen. Der Publizist Ijoma Mangold hält den Woken in seinem moralischen und inklusiven Bestreben gar für den Nachfolger des apolitischen, rein auf Ästhetik und Distinktion fokussierten Hipsters. Beide Bezeichnungen, „woke“ wie „Hipster“, hätten zumindest gemein, dass die meisten, die damit adressiert werden, die Begriffe nie als Selbstbezeichnung nutzen würden.

Publizistisch vernahmen wir die Verwendung des Wortes „woke“ kürzlich beispielsweise von der ehemaligen „Bild“-Journalistin Judith Sevinç Basad, die in ihrer öffentlichen Kündigung Springer-Chef Mathias Döpfner vorwarf, vor den „woken Aktivisten“ eingeknickt zu sein, nachdem sich Döpfner kritisch über einen in der „Welt“ erschienenen und als queerfeindlich kritisierten Gastbeitrag geäußert hatte. Man möchte meinen, dass spätestens dann, wenn der Springer-Konzern als zu „woke“ gelten soll, der Ausdruck an die Grenzen seiner Bedeutsamkeit gelangt ist. Aber der Höhepunkt seiner Nutzung, die komplette Entleerung dieses Begriffs, ist wohl endgültig erreicht, wenn ein angeblicher Charity-Influencer eine „woke Szene“ dafür verantwortlich macht, dass er strafrechtlich wegen Maskenbetrugs verfolgt wird.

Seine Penisfeldexplosionen sind offenbar rückblickend als anti-woke Performance phallischer Freiheit zu begreifen.

12 Kommentare

  1. On point!
    Würde ich gerne jedem in die Hand drücken, der mit diesem Begriff um sich wirft.

  2. Ja, Sprachwandel und so, aber:
    Wenn 1 Person 1 Wort 1 Mal falsch verwendet, ändert das nichts an der Bedeutung des Wortes.

    Dass „woke“ trotzdem eine gewisse Bedeutungsverschiebung durchläuft, ist wohl wahr, aber schon deshalb keine Euphemismustretmühle, weil „woke“ selbst weder Euphemismus noch neutral ist, sondern für etwas positives steht, und weil es zweitens nicht mit einem „schöneren“ Ausdruck ersetzt wird.

    Ich könnte mir auch vorstellen, dass Kliemann den Begriff _absichtlich_ falsch verwendet, um mehr Likes zu farmen, aber nunja…

  3. Die rechte Häme gegen den Begriff WOKE ist leider ohne die Steilvorlage gewisser Propagandisten (gern weiß-akademisch) nicht denkbar. Mehr dazu hier: https://www.toledo-programm.de/talks/4092/woke-is-broke. Oder, wer die zeitungskompatible Kurzform mit typisch entstellt-entstellendem Titel mag: https://www.tagesspiegel.de/politik/woke-is-broke-kleines-oder-grosses-b-das-ist-hier-die-frage/28154348.html
    Oder: John McWhorter lesen, das geht inzwischen auch auf Deutsch.

  4. @3: Neue Zielgruppenorientierung ;)
    Irgendwer muss ihm ja Geld geben, damit er nicht arbeiten muss.

  5. Meine Antwort für Herrn Kliemann:

    Dein Gewinnstreben passt einfach nicht zu Deiner Attitude Dude. Und das fällt Dir jetzt auf die Füße.

  6. Ein weißer Typ mit Beanie, Schlabberpulli und Dreitagebart findet, er werde gemobbt, weil er „anders“ (!) sei als die fiese woke, linke Bubble? Das ist an Ironie und / oder Dummheit schwer zu überbieten.

  7. #4:
    Zählen Sie einfach mal durch, wie oft heutzutage das Wort „woke“ als Selbstbeschreibung von Aktivisten-, und wie häufig dagegen als Angriffsvokabel und Diskreditierungsversuch der Gegenseite Verwendung findet, und dann überlegen Sie noch einmal, ob diese selbstreferentiellen Litaneien der ewig gleichen Akteuere hier von irgendwelchem intellektuellen Nährwert sein können. Nichts gegen Herrn McWorther, aber diese Behauptungen drehen sich nun auch wirklich seit Jahr und Tag nur im Kreis ohne dass irgendetwas neues hinzugekommen wäre.

    Derweil sind es zu 90% Rechte, die das Wort „woke“ mittlerweile benutzen, wie schon zuvor „political correct“ oder „gendern“, und das einzig nur deshalb, um Themen platt zu machen, denen sie inhaltlich nicht anders beikommen können.

  8. Schon ohne über den eigentlichen Ursprung des Begriffs im Klaren gewesen zu sein hat sich für mich jeder Gesprächspartner, der “Woke” als akkusativen Begriff einsetzte, bereits selbst disqualifiziert. Dazu reichten mir schon die Beobachtungen der üblichen Framing Mechanismen, mit denen die rechtsgerichtete Empörungsmaschinerie aufmerksamkeitsökonomisch immer wieder punktet – auch Dank nützlicher Idioten, die das, bewusst oder unbewusst, in ihren Sprachschatz aufnehmen und dann bei jeder Gelegenheit rausblöken.

    Danke für den Artikel. Mein Gefühl wurde damit objektiv legitimiert und argumentativ massiv untermauert.

    Bleibt bloß noch festzustellen dass sich der Diskurs der hiesigen Rechten massiv an dem Pool der Mechanismen ihrer US Kameraden bedient. Teilweise wirken deshalb viele ihrer Aktionen auch so holzschnittartig.

  9. Ganz herzlichen Dank für diesen aufklärenden Artikel zum Begriff woke. Der Artikel ist für mich sehr hilfreich und hilft mir beim Einordnen der Gesamtdebatte. Bitte weiter so!

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