Wochenschau (126)

Olaf Scholz und der Reist-er-nicht-reist-er-doch-Journalismus

Screenshot [M]: Bahn.de

Auch wenn unter Bundeskanzler Olaf Scholz bisher noch nicht viele Dinge in Gang gebracht worden sind, verdanken wir ihm immerhin die Entstehung einer neuen hybriden Gattung politischer Berichterstattung, entstanden aus der Mischung aus Reisejournalismus und Kriegsberichterstattung: der Reisekriegsjournalismus.

Und nicht nur das: Scholz schaffte durch das zähe Hinauszögern seiner symbolisch wichtigen Reise in die Ukraine eine neue Herausforderung für den Journalismus, die kreativ und kritisch gelöst werden musste: Wie über Wochen hinweg über etwas berichten, das wichtig genug ist, als dass es nicht unabgebildet bleiben könnte, aber nicht konkret genug, als dass es etwas zu berichten gäbe? Und vor allem: Wie monatelang vom Ausbleiben einer Handlung erzählen?

Das führte zu der ungewollt komischen Situations-Chronik, dass ausgerechnet das Nicht-Reisen eines Politikers zur intensivsten Reisereportage des Jahres geführt hat und das Boulevardgenre „Wie reisen eigentlich Prominente?“ revitalisiert hat.

Es fing damit an, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im April in die Ukraine reisen wollte, dort aber nicht erwünscht war. Eine Medienöffentlichkeit schaute nun sehr aufmerksam darauf, wie der Kanzler reagieren wird: Reist er kompensatorisch, also zur Rettung des politischen Verhältnisses, selbst hin? Oder reist er erst recht nicht hin, da das diplomatische Protokoll so sehr verletzt wurde, dass ein Besuch einem Indenrückenfallen des Bundespräsidenten gleich käme?

Der Bundeskanzler nannte das Verhalten der Ukraine „irritierend“ und entschied sich fürs Nichtreisen. Aber wir erfuhren: Es werde regelmäßig telefoniert.

Im Mai reiste Friedrich Merz nach Kiew, Außenministerin Annalena Baerbock nach Kiew und Scholz innerhalb von 71 Stunden Senegal, Niger und Südafrika ab, und wir erfuhren: „Scholz will nicht nur für Fototermin nach Kiew“; für ein „kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin“ sei er nicht zu haben.

Anfang Juni wurde kommuniziert, dass Scholz eine Reise plane, und Mitte Juni, dass Scholz nun fahren werde. Es soll aber wohl nur „ein kurzes Rein-Raus“ werden, denn „mehr als acht Stunden wird der Kanzler mit seiner sehr schmalen Delegation wohl nicht im Raum Kiew verbringen“. Die Reise werde er gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem italienischen Regierungschef Mario Draghi antreten.

Jetzt fragten sich natürlich publizistische Organe: Was wird unser politisch Reisender denn so im Gepäck haben? Mitnehmen sollte er so „einiges, um den Eindruck von Symbolpolitik zu widerlegen“, dabei haben wird er auch „eine gute Botschaft“ und „Hoffnung“, ich glaube, am meisten freut sich Selenskyj allerdings über Waffen.

Bei dieser langwierigen Beäugung der möglichen Vielleicht-auch-nicht-aber-hoffentlich-doch-Politikerreise ins Kriegsgebiet aus symbolischen Gründen lernten wir aber auch etwas sehr Grundsätzliches über die Natur von Nachrichtenvermittlung, die man oftmals in „Achtung, veränderte Wirklichkeit“ und „Alles gut, unveränderte Wirklichkeit“ einteilen kann. In dem Handbuch „Inszenierungsgesellschaft“ erklären Knut Hickethier und Joan Kristin Bleicher in ihrem Aufsatz über die Natur der Informationen insbesondere in Fernsehnachrichten:

„Die [Nachrichten-]Sparten bilden eine Art unsichtbares Raster, das mit immer neuen Meldungen oder Aktualisierung alter Meldungen gefüllt wird. Diese Meldungen bedienen sich immer wieder stereotyper Erzählmuster wie Ankunft und Abfahrt, die Politikerreise, Konfrontation und Versöhnung, Störung und Beseitigung der Störung, Hilfsmaßnahmen in Notstandsgebieten der Welt. Alle diese Erzählmuster lassen sich letztlich nach dem Schema ‚Bestätigung des status quo‘ und ‚Irritation des Status Quo‘ sortieren, alle Meldungen signalisieren den Zuschauern entweder ‚Gefährdung‘ oder ‚Sicherheit‘ der jeweiligen eigenen Situation.“

Beim Reisekriegsjournalismus rund um Scholz berichtete man, um berichten zu können, dass sich bisher noch nichts geändert hat, aber ändern sollte oder bald ändern könnte – es erinnerte an die Berichterstattung rund um die Papstwahlen.

Eine Inszenierung mit Wert

Ein zweiter Knoten, den es bei jedem Versuch einer Berichterstattung zu entwirren gilt: Wie sehr darf sich eine Kriegs- und Krisenberichterstattung zur verlängerten Politiker-PR machen lassen, wenn sie über Politker-Handlungen berichtet, die rein symbolisch sind, deren Symbolkraft aber wichtig ist? Die Politikerreise als Performance ist natürlich eine Inszenierung, aber gerade diese Inszenierung hat solch einen Wert, dass das Ausbleiben eben dieser Geste, das Nichtstattfinden der Reise, politisch und diplomatisch Bände spricht, weshalb in diesem besonderen Fall so aufgeregt auf das Reisen und Nicht-Reisen geblickt werden muss.

Gerade in der Inszeniertheit, in der Symbolik liegt insbesondere hier eine politische Wahrhaftigkeit. Zeige mir, wie du wahrgenommen werden möchtest, und ich sage dir, wie du regierst. Machtansprüche gehen immer auch einher mit der Verwaltung und Gestaltung des eigenen Images.

Einer, der das gut verstanden hat: Friedrich Merz. Gegen seine Fotoinszenierung ging vielleicht auch die Spitze von Scholz, dem Symbolpolitikhasser, als er sagte, er wolle eben nicht als rein symbolische Geste nach Kiew, nur um ein paar Fotos zu machen. Genau weil Scholz noch nicht da war und Merz eben schon, hat ein Foto von Merz in Kiew eine enorme Aussagekraft. Deshalb ist es nicht unerheblich, auch dieses Bild abzubilden, obwohl oder gerade weil es auch Selbstinszenierung ist.

Man kann Friedrich nicht ohne „ich“ buchstabieren

Bei seinem Besuch in Irpin lichtete der Fotograf Niels Starnick den CDU-Chef vor den Trümmern des Krieges ab.

Der Ausschnitt setzte Merz ins Zentrum, in dynamischer Pose blickte er professionell betroffen in die Kamera. Eine subtile Tiefenunschärfe und die Vignette, also das Abdunkeln der Ränder des Bildes, verstärkten den Eindruck eines ästhetisierten Entsetzens und damit den Effekt, hier einer bewussten Politikerinszenierung beizuwohnen.

Das stilistisch und handwerklich gelungene Porträt – Starnick hat eine wiedererkennbare fotografische Handschrift – ist in seiner vermittelten Botschaft nicht unbedingt ein politisch gelungenes, denn es scheint, als nutze Merz hier die Zerstörung als Kulisse, den Schock als Bühne zur Image-Pflege. Der Besuch, das vermittelt zumindest das Bild, wird so in jedem Sinne des Wortes ein Egotrip, der deutlich macht, dass man Friedrich nicht ohne „ich“ buchstabieren kann. Und so wird hier ein innenpolitisch motivierter Betriebsausflug sichtbar, der auch zur Funktion hat, Oppositionspolitik zu betreiben.

Die Hebelkraft von Symbolpolitik

Meine Kritik gilt da nicht ausschließlich Merz. Aus Sicht eines CDU-Chefs war es das Intelligenteste, was er tun konnte, um mit der Kraft der Bilder seine öffentliche Position zu stärken. Zwar hat er keine Möglichkeiten oder Mandate, verbindliche Zusagen für irgendetwas machen zu können, es handelt sich um einen Besuch um des Besuch willens, das weiß auch die ukrainische Regierung. Aber mit den Bildern, die gemeinsam geschaffen wurden, können beide den Druck auf Scholz erhöhen.

Auch das zeigt die Hebelkraft einer symbolpolitischen Handlung und dementsprechend die Berechtigung, diese eingehend zu dokumentieren.

Meine Klage richtet sich dementsprechend auch nicht an die reisekriegsjournalisitisch berichtenden Medienhäuser, die sowohl solche Fotos als auch alle Details rund um Scholz‘ An- und Abwesenheit protokollieren. Meine Kritik gilt einem Kanzler, welcher durch das seltsame Bundespräsidenten-Hierarchie-Protokoll eine Handlungslücke offengelassen hatte, die nun von politischen Akteuren beherzt mit Posen in Funktionskleidung gestopft und von Medienmenschen mit Chronistenpflicht eifrig nachgespachtelt wurde.

Selbstinszenierungen in Katastrophen- und Konfliktsituationen sollten Medienschaffende selbstredend immer mit großem Argwohn und gesunder Genervtheit betrachten. Aber noch argwöhnischer und vielleicht noch genervter sollte man über den Umstand sein, dass Scholz durch sein Nicht-Handeln und die Quatsch-Behauptung „Es ist auch für das deutsche Volk ein Problem, dass der Bundespräsident in der Ukraine ausgeladen worden ist“ nicht nur Merz gewissermaßen die Kamera in die Hand gedrückt hat, sondern das erstaunliche Genre des Reisekriegsjournalismus miterschaffen hat.

1 Kommentare

  1. Ich kann das Verständnis für die Inszenierung von Politik nicht nachvollziehen. Es mag in den Medien so üblich sein, auch wegen Aufmerksamkeitsökonomie begründet, aber ich halte das für falsch. Mich macht diese Inszenierungsberichterstattung müde. Es liegt an den Medien, die Inszenierung von Politikern zu durchschauen und sie inhaltlich auf ihre Positionen und Entscheidungen festzulegen. Oder es zu lassen, was eine bewusste Entscheidung ist. Wenn Politik nur Schein ist, dann braucht sie auch niemanden zu interessieren. Politberichterstattung aus aneinandergereihten O-Tönen und Instagrambildern ist nichts weiter als Boulevard, und um ehrlich zu sein kann ich mich wesentlich besser unterhalten lassen als von Merz und co.

Einen Kommentar schreiben

Mit dem Absenden stimmen Sie zu, dass Ihre Angaben gemäß unseren Datenschutzhinweisen gespeichert werden. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.