Podcast-Kritik (82)

Auf der Couch von Bettina Böttinger gelingen erstaunlich echte Gespräche mit queeren Menschen

Podcastkritik "Wohnung 17" - lächelnder Hörer

Es ist Pride-Month. Aber nicht nur deshalb widmet sich diese Podcastkritik mit „Böttinger Wohnung 17“ einem LGBTQ-Podcast. Sondern weil dieser sehr gut ist. Bettina Böttinger, WDR-Urgestein und Moderatorin des „Kölner Treffs“, lädt Gesprächspartner:innen ein – und zwar in ebenjene, ihre, „Wohnung 17“ in der Kölner Südstadt. Dort bellt Dackel Fienchen, es klappert das Geschirr, die Gastgeberin geht mittendrin mal zum Kühlschrank, holt einen Riesling und Gläser, findet aber den Korkenzieher nicht. Wie bei einem ganz normalen Plausch geht es familiär und nahbar zu. Schön, dass der WDR sich darauf eingelassen hat, anstatt auf perfekte Studio-Soundqualität zu bestehen.

„Ich bin selbst queer und kämpfe für die gesellschaftliche Akzeptanz verschiedener Lebensformen“, wird Bettina Böttinger in der Pressemitteilung zum Podcast zitiert. Gut, dass genau dieses Thema im Mittelpunkt steht. Die Gespräche handeln darüber hinaus aber auch von Identität, vom Finden des eigenen Ich, vom Widerstand gegen Konventionen und Normen. Böttinger selbst hatte 1974 ihr Outing:

„Das war eine große Verunsicherung, weil ich natürlich auch zu der Zeit wusste, das ist nicht das, was normal genannt wird. Da hab ich auch gedacht: Bist du krank? Hast du ne Meise oder was ist denn jetzt?“

Gesellschaftliche Vielfalt liegt Böttinger am Herzen, und das merkt man. „Unser Kampf muss immer sein, sichtbar zu sein“, sagt sie.

Nicht nur die üblichen Verdächtigen

In jeder Episode ist ein Mensch aus der LGBTQ-Szene zu Gast. Das ist eigentlich auch schon das ganze Konzept. Eingeladen sind die prominenten üblichen Verdächtigen, etwa Hella von Sinnen, Conchita Wurst, Maren Kroymann, Michael Michalsky, Riccardo Simonetti, aber etwa auch Verlegerin Manuela Kay, Tänzerin Sophie Yukiko Hasters oder Aktivist Gianni Jovanovic.

Auch Virologe Hendrik Streeck, der zwar als Virologe in der Corona-Pandemie bekannt wurde, eigentlich aber vor allem in der HIV-Forschung beheimatet ist, war vor einem Jahr zu Gast. „Ich wollte nicht schwul sein“, sagt Streeck, berichtet von einem „heftigen“ Coming-Out, infolgedessen sich seine Freunde abgewandt hätten und erinnert sich an Selbstmordgedanken. Heute ist er mit einem Mann verheiratet und sagt:

„Mein Weg war schon, dass ich für mich irgendwann gesagt habe: Ich habe vielleicht so das eine Manko, dass ich schwul bin. Aber ich werde überall, was ich mache, werde ich der Beste sein. Oder versuchen, der Beste zu sein, damit man mir nichts anhaben kann.“

Später im Gespräch zieht Bettina Böttinger Parallelen: die Shitstorms während der Corona-Pandemie habe Streeck vielleicht nur deswegen recht gut ertragen und weggesteckt, weil er bereits als junger Mensch Erfahrungen mit derartigen Angriffen hatte. Sie sucht mit ihrem Gast zusammen nach Weichenstellungen, nach Momenten, die das eigene Leben formten, den eigenen Charakter stärkten.

Am besten ist „Wohnung 17“, wenn ein Gespräch entsteht und kein Interview, wenn also beide Fragen stellen. Wie in der ersten Folge mit Tahnee, die ehrlich neugierig ist und von Böttinger wissen will, wie das denn war, in den 70er-Jahren lesbisch zu sein.

Genau diese Gespräche, in denen es um Früher und Jetzt geht, sind besonders interessant. Schauspielerin Cristina do Rego (bekannt vor allem aus „Pastewka“ als Nichte Kim) erzählt etwa: „Die einzige lesbische Frau, die ich kannte, war Hella von Sinnen.“ Es habe keine anderen Rollenvorbilder für sie als lesbische Frau gegeben.

Was wiederum eine Stärke des Podcasts ists: Hier gibt es Rollenvorbilder für alle, die nicht hetero sind. Da ist Tessa Ganserer, für die Grünen im Bundestag und als trans* Person ständig Anfeindungen ausgesetzt. Da ist aber auch Bruce Darnell, der bei uns durch „Germany’s Next Topmodel“ bekannt wurde und sich durch die Episode kauderwelscht. Darnell sagt Dinge wie „Ich habe bis heute nicht meine official Outcoming gehabt, weil ich brauch‘ das nicht“, erzählt dann aber von der Zeit, als er beim Militär war, als er Gewalt erfahren hat, von Rassisten bedroht wurde.

Echte Gespräche

Dieses Changieren zwischen spaßigen und ernsthaften Momenten macht den Podcast aus. Und die Folge mit Bruce Darnell ist meine absolute Lieblingsfolge.

Böttinger ist Vollprofi, eine Moderationsmaschine. Das ist nach all den Jahren beim Fernsehen nicht weiter verwunderlich. Bei „Wohnung 17“ darf sie aber auch anders sein: Persönlicher, lebendiger. In manchen Folgen ist sie mir sogar zu aufgedreht, fällt zu oft ins Wort. Meistens schafft sie es aber, echte Gespräche entstehen zu lassen. Mit Maren Kroymann (deren Outing 1993 große Wellen schlug) plaudert Böttinger erst über Kartoffelchips und Advents-Erinnerungen und fragt dann: „Du in Deinen Mitt-20er-Jahren und die Generation der jungen Frauen heute – was ist der größte Unterschied?“ Kroymann muss nicht lange überlegen:

„Die kriegen ja alles mit, die kriegen die ganzen Pornos auf dem Handy schon mit und ich war wirklich unbeleckt, wenn ich das Wort verwenden darf, also wirklich ahnungslos und nicht aufgeklärt.“

Kroymann macht deutlich, wie sehr sich die Gesellschaft geändert hat, auch wenn sie uns heute immer noch manchmal rückständig erscheint. „Homosexualität war in meiner Kindheit immer nur mit Verbrechen verbunden, es war alles verdruckst, verdorben, verpönt.“

Herber Charme

Es geht in den Gesprächen auf Böttingers Couch natürlich nicht nur um die eigene Sexualität, sondern um viele Aspekte, die einen Menschen prägen. Mit Cristina do Rego plaudert die Gastgeberin 24 Minuten lang über do Regos Aufwachsen in Brasilien, den Umzug nach Deutschland, den Kulturschock. Und irgendwann kommt unvermittelt die Frage: „Wann hast du dich das erste Mal in eine Frau verliebt?“ Do Rego antwortet wie aus der Pistole geschossen „mit 3!“. Beide lachen und man merkt: Viele der Gäste – wenn nicht sogar alle – kennt Böttinger gut bis sehr gut.

Böttinger ist aber nicht der Oprah-Typ, der mütterlich-besorgt Nähe schafft, wirkt manchmal auf mich sogar wie eine strenge Lehrerin. Trotzdem öffnen sich ihr die Gäste – weil sie die Aufrichtigkeit und das ehrliche Interesse hinter den Fragen merken.

Manchmal darf’s auch ein wenig Medienkritik sein. Etwa dann, wenn Hella von Sinnen erzählt, wie sie dem WDR ein neues TV-Format angeboten habe. Die Antwort darauf sei gewesen: „Nein, Frau von Sinnen, Sie sind doch im Internet gut aufgehoben.“ Bettina Böttinger antwortet prompt: „Ja, den Spruch kenne ich.“ Auch von Mobbingerfahrungen beim WDR erzählt sie. Lange sei das allerdings her, heute sei dort alles anders, schiebt sie hinterher. War „Wohnung 17“ ein lange gehegter Sendungstraum, der erst jetzt in der Zeit der Podcasts wahr wurde? Vielleicht.

Am Liebsten würde ich einige Menschen zwingen, diesen Podcast zu hören. Und zwar genau die Menschen, die mit Schwulenhass im Internet unterwegs sind, die händchenhaltende Frauen auf der Straße anpöbeln, die trans* Personen beschimpfen. Die sollten einfach mal hören, welche Wege Böttingers Gäste gegangen sind, welche Hürden sie überwinden mussten, wie schwer es war und immer noch ist, nicht irgendeiner Norm zu entsprechen. Und vor allem: was für tolle, inspirierende und starke Menschen es in der LGBTQ-Community gibt.

Planlose Fragen gibt’s auch

Eine kleine Kritik noch zum Schluss: Was sich im Podcast nicht ganz erschließt ist der Sinn der Schnellfragerunde. Gut, sie ist in vielen Podcasts ein fester Bestandteil und oft lustig anzuhören, aber: muss und will ich wissen, wieviel PS das Auto von Hendrik Streeck hat oder ob er lieber Schnürsenkel oder Klettverschlüsse mag? Eigentlich nicht.

Aber selbst in diesem oft und manchmal ermüdend erprobten Podcast-Element zeigt sich die Stärke von „Wohnung 17“, echte Gespräche schaffen zu können. Als Riccardo Simonetti einen Satz ergänzen soll, dreht er den Spieß um: „Ich will, dass du auch einen Satz vervollständigst. Homosexualität ist für mich…“ und Böttinger antwortet ohne nachzudenken: „eine Befreiung.“


Podcast: „Wohnung 17“

Episodenlänge: wöchentlich, jeweils ca. eine Stunde

Offizieller Claim: „Inwieweit bestimmt unser Geschlecht unsere Identität und unseren Lebensweg?“

Inoffizieller Claim: Wir sind LGBTQ und das ist auch gut so!

Wer diesen Podcast mag, hört auch: „Queerkram“ und „Herzfarben“

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