Es ist Krieg – und das Handy läuft mit. Ein Schwarzer Mann stirbt durch die Hände eines US-Polizisten – eine Bodycam zeichnet es auf. Selbst Terroranschläge werden live ins Netz gestreamt, wie etwa der rechtsterroristische Anschlag auf zwei Moscheen in Christchurch.
Bilder und Videos landen heute in ungewohntem Tempo in den Händen von Journalist*innen und auf den Social-Media-Kanälen von Qualitätsmedien. Das ist ein Problem: Vorwürfe über die Inszenierung von Gewalt für bessere Klicks und die Sorge der Abstumpfung des Publikums werden lauter.
Wie Medien mit den ethischen Herausforderungen umgehen sollten, erklärt Oliver Zöllner vom Institut für Digitale Ethik an der Hochschule der Medien (HDM).
In den letzten Wochen hat die Darstellung von Gewalt in den Medien durch den Ukraine-Krieg stark zugenommen – auch auf Social Media. Aber: Gehören die Aufnahmen verstümmelter Toter neben Urlaubsfotos von Freunden und Katzenvideos?
Darauf gibt es unterschiedliche Perspektiven: Einer kriegsführenden Partei helfen solche Aufnahmen, ihre Version des Krieges zu untermauern – als Propaganda oder Solidaritätsaufruf. Teile ich solche Inhalte als Privatperson, mache ich mich indirekt zum Komplizen. Die Darstellung schlimmer Gewalttaten kann außerdem emotionale Reaktionen gegen die Verantwortlichen auslösen.
Welche Verantwortung sehen Sie bei Redaktionen und Journalist*innen?
Zur Person
Prof. Dr. Oliver Zöllner ist Mitgründer und Leiter des Instituts für Digitale Ethik an der Hochschule der Medien in Stuttgart. Seine Forschungsgebiete umfassen Digitale Ethik, Empirische Medienforschung, Soziologie der Medienkommunikation und Public Diplomacy.
Journalismus hat eine dokumentarische Pflicht und eine Sorgfaltspflicht. Hier stellt sich die Frage: Was ist zumutbar? Selbst renommierte Medien haben zuletzt sehr, sehr harte Aufnahmen abgebildet: Die „New York Times“ zeigte etwa Anfang März das Foto einer getöteten ukrainischen Familie auf der Titelseite. Dieses Bild benutze ich in Vorlesungen als Grenzfall, um zu erörtern: Inwieweit ist das die Aufgabe des Journalismus – oder geht es einen Schritt zu weit?
Eine Sorge ist, dass das Publikum durch häufige Gewaltdarstellung abstumpft.
Es war nie so einfach, gewalthaltige Bilder zu verbreiten wie im digitalen Zeitalter. Die „Tagesschau“ verpixelt etwa die Aufnahmen von Toten. Ich finde das angemessen. Auch so erhalten Zuschauer einen Eindruck von der Realität des Krieges. Aber muss ich tatsächlich das Blut, die zerschossenen Körper im Detail zeigen? Darauf gibt es eine rechtliche Antwort: Auch Tote haben eine Würde und Persönlichkeitsrechte. Es gilt, als Journalist die Würde von Opfern zu wahren. Deswegen ist es richtig, die Toten zu verpixeln – auch um keine Traumatisierung der Betrachtenden hervorzurufen. Redaktionen müssen zusätzlich an den Kinder- und Jugendschutz denken.
Es geht also darum, auf welche Art Qualitätsmedien Gewalt darstellen. Gerade auf Social Media ist das strittig. Ein Beispiel aus der jüngsten Zeit: In einem Post der „Tagesschau“ zeigt ein Bodycam-Video Aufnahmen des Schwarzen Patrick Lyoya kurz vor dessen Tod durch einen weißen US-Polizisten. Das Video spielt durch die Autoplay-Funktion auf Instagram automatisch ab, scrollt man durch den Feed. Vorab fehlt im Video eine Triggerwarnung. So präsentiert sich dem Publikum Gewalt, ob dieses sie sehen will oder nicht.
Die Plattformen lassen sich nur schwer regulieren oder zähmen. Social Media zielt auf möglichst viele Likes, Shares und Kommentare ab. Das tut dem seriösen Journalismus nicht gut. Es ist auf Social Media schwierig, als Nachrichtenportal angemessen aufzutreten. Für seriöse Medien bedeutet das dann eben, bestimmte Dinge nicht oder zumindest weniger drastisch zu zeigen, als es Privatleute oder Boulevardmedien tun.
Unter welchen Umständen macht es Sinn, sehr grafische Gewalt in den Nachrichten doch zu zeigen?
Ich berufe mich auf die US-amerikanische Autorin Susan Sontag und ihr Buch „Regarding the Pain of Others“, in dem sie im Kontext der Kriegsberichterstattung sinngemäß schreibt: Es gibt Grenzen, nicht alles kann und soll man zeigen, nicht alles ist ertragbar. Sontag fragt aber auch: Haben wir als in Sicherheit lebende Menschen nicht wenigstens die moralische Pflicht, solche Bilder von Gräueltaten auszuhalten, um uns ansatzweise in die Situation von Menschen zu versetzen, die um ihr Überleben kämpfen? Das lässt uns gerade nicht abstumpfen. Vielleicht ist das Bewusstsein um die Folgen von Gewalt in bestimmter Dosierung sogar Teil unserer menschlichen Solidarität. Im Gegensatz zu dem, was die Menschen in Mariupol, im Jemen oder in Syrien gerade aushalten, ist es nicht zu viel verlangt, ein kurzes Bild auszuhalten.
Durch Bodycams, Drohnenshots und die Omnipräsenz von Handykameras, gibt es so viel Bildmaterial wie nie. Muss all das gezeigt werden, nur weil es vorhanden ist?
Nein. Im Fall von Lyoya hat das Video einen forensischen Wert für die spätere Rechtsprechung. Diese ist Aufgabe des Gerichts, nicht des Journalismus. Letzterer sollte sich für Social Media fragen: Welche Aufklärung bietet das Video dort? Reicht vielleicht schon ein Standbild? Muss man es in voller Länge zeigen? Da entsteht der leise Verdacht: Ist die mediale Darstellung von Gewalt besonders attraktiv?
Olivia Samnick arbeitet als freie Journalistin und Filmemacherin. Zuvor studierte sie Journalistik, Medien- und Kommunikationswissenschaften. Derzeit schreibt sie als EJO-Stipendiatin über Trends und Entwicklungen im europäischen Journalismus und spricht zur Zukunft des Journalismus im Bonjourno-Podcast.
Gewalthaltige Bilder waren und sind ein Eyecatcher – nicht erst, seit es Social Media gibt. Bob Dylan sang bereits: „They’re selling postcards of the hanging“. Und tatsächlich gab es schon vor der Digitalisierung gedruckte Postkarten mit Bildern von Gehängten und von Hinrichtungen. Und davor gab es Kupferstiche dieser Art zu kaufen, sozusagen als prädigitales Instagram.
In Deutschland bietet der Pressekodex eine Richtlinie für die Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid. Darin steht etwa: „Unangemessen sensationell ist eine Darstellung, wenn in der Berichterstattung der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, herabgewürdigt wird. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn über einen sterbenden oder körperlich oder seelisch leidenden Menschen in einer über das öffentliche Interesse und das Informationsinteresse der Leser hinausgehenden Art und Weise berichtet wird.“ Greift der Pressekodex im digitalen Raum noch?
Ja. Eine solche Norm kann aber nur greifen, wenn die Journalisten sie ernst nehmen und mit Leben füllen. Beim Pressekodex liegt die Eigenverantwortung bei den Medien. Das ist eine tägliche Herausforderung.
Was macht es heute so schwer für Journalist*innen, ethische Entscheidungen bei der Darstellung von Gewalt zu treffen?
Alles ist viel schneller geworden. Medienschaffende müssen in wenigen Minuten eine Entscheidung treffen, ob sie ein Bild verwenden oder nicht. Wohingegen ein Bildredakteur bei einer Zeitung früher noch eine Stunde oder mehr Zeit hatte. Diese Entscheidungszeit fehlt zunehmend, gerade auf Social Media. Dennoch gilt auch hier: Die herabwürdigende Darstellung von Menschen, von Toten, ist nicht zulässig.
Bislang legen Redaktionen oder einzelne Journalist*innen ethische Richtwerte meist für sich individuell aus. Bräuchte es fixe Regeln, gerade wenn es einer schnellen Entscheidung bedarf?
Zum Journalismus gehört es dazu, ethische Standards kennenzulernen und anzuwenden – in der Ausbildung und darüber hinaus. Das muss in der Redaktionskultur, in der Hauskultur, gelebt werden. Das sieht im Einzelnen sehr unterschiedlich aus: Bei der „Bild“-Zeitung gibt es eine andere Hauskultur als etwa bei den öffentlich-rechtlichen Medienhäusern. Eine Möglichkeit ist es, die ethischen Standards auch in Redaktionsstatuten oder Arbeitsverträgen hineinzuschreiben.
Wie kann das aussehen?
Schritt-für-Schritt-Anleitungen festgelegen: Wie sichte ich problematisches, gewaltvolles Material? An welche Vorgesetzten kann ich mich wenden? Die BBC hat zum Beispiel seit Jahrzehnten Guidelines zur Berichterstattung über Gewalt, Morde, Terrorismus und andere extreme Sachlagen für BBC-Redakteure. Aber, der erste Schritt ist sich zu fragen: Was wäre, wenn ich selbst auf dem Bild wäre – oder nahestehende Personen? Würde ich das zeigen wollen – ja oder nein? Diese Haltung der Abwägung kann im Alltag als erste Orientierung dienen, unabhängig davon, ob man Journalist ist oder Privatperson.
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