Der Autor
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Er hat unter anderem für „Süddeutsche Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ und den „Spiegel“ über Medien berichtet.
Jetzt wird die Sache persönlich: Die Klitschkos brauchen Waffen, um in den Krieg gegen Russland ziehen zu können. Zum Glück kennen sie jemanden, der ihnen dabei helfen kann.
Neulich wurde Paul Ronzheimer gefragt, wie die Menschen „in der Ukraine, in Kiew, Butscha“, die deutschen Diskussionen über den Krieg wahrnehmen: „Interessieren sie sich dafür, was so im Großraum Deutschland, Europa getwittert, geschrieben, gesagt wird?“
Ronzheimer, stellvertretender „Bild“-Chefredakteur und seit Monaten als Reporter in der Ukraine, antwortete: „Das, was in Deutschland gesagt wird, spielt eine ganz große Rolle, vor allem für die politische Elite im Land. Ich sehe ja fast jeden Tag irgendwie Vitali und spreche mit ihm auch über die Situation.“ Erst dann fiel ihm ein, dass Vitali Klitschko, der frühere Boxweltmeister und heutige Bürgermeister von Kiew, vielleicht nicht der allertypischste Mensch in der Ukraine ist, weil er „auch eine besondere Bindung an Deutschland“ hat. Und erst dann fiel ihm ein, was „nette, liebe, einfache Menschen“ irgendwo auf dem Dorf in der Ukraine über Deutschland sagen.
Später fragte ihn Micky Beisenherz, in dessen Podcast „Apokalypse und Filterkaffee“ dieses Gespräch stattfand, wie groß die Gefahr und das Gefühl der Bedrohung in Kiew ist. Ronzheimer antwortete: „Auch da habe ich in den Gesichtern der Klitschkos und auch der anderen gesehen, wieviel Sorge und Panik man hatte in den ersten Tagen.“
Er erzählte, wie sich das Gesicht von Wladimir Klitschko „versteinert hat“, als er das Grauen in Butscha sah, und er berichtete von dem verstörenden Glücksmoment, als Vitali Klitschko in einem zerbombten Flughafen in der Nähe ein kleines Flugzeug wiederentdeckte, mit dem er früher immer Fallschirm gesprungen war.
Manchmal scheint es, als wäre Paul Ronzheimer mehr Klitschko-Korrespondent als Ukraine-Reporter. Was in diesem Land passiert, sieht er zu allererst durch ihre Augen, liest es aus ihren Gesichtern, berichtet es über ihre Reaktionen.
Es wäre falsch, Ronzheimers Arbeit als Reporter in der Ukraine auf seine außerordentliche Nähe zu den beiden Boxbrüdern zu reduzieren. Aber ohne diese Nähe ist seine Arbeit auch schwer vorstellbar.
Paul Ronzheimer polarisiert. Das tat er immer schon, aber anfangs polarisierte und provozierte er in einer Weise, die ganz zum Markenkern der „Bild“-Zeitung passte. Unvergessen sein Auftritt, als er als Teil der Kampagne seiner Zeitung gegen die „Pleite-Griechen“ auf dem Omonia-Platz in Athen den Menschen „die Drachmen zurückgibt“.
Komplizierter und ambivalenter wurde es in seinem Verhältnis zum inzwischen geschassten Chefredakteur Julian Reichelt. Er stand ihm näher als alle anderen in der Redaktion, war aber offenbar auch der einzige, der ihm regelmäßig Contra geben konnte. In Erinnerung bleibt sein tränenerstickter öffentlicher Abschied von seinem Freund und Chef.
Danke, Julian Reichelt. pic.twitter.com/K2xa3c8RQY
— Filipp Piatov (@fpiatov) October 18, 2021
Inzwischen wird Ronzheimer von vielen als der Gute Mann von „Bild“ wahrgenommen. 2019 fragte er, der selbst schwul ist, in Teheran den iranischen Außenminister, warum Homosexuelle dort wegen ihrer Sexualität hingerichtet werden. Er wird für seine Reportagen aus Kriegs- und Krisenregionen, vor allem jetzt der Ukraine, auch von Leuten gefeiert, die das Blatt sonst kritisch sehen. Er macht oft verdienstvolle Arbeit in einem Medium, das regelmäßig verantwortungslos agiert.
Er ist, jedenfalls in der „Bild“-Welt, ein Star; aktuell vermutlich der prominenteste „Bild“-Redakteur. Er ist auch in anderen Medien präsent, aber vor allem natürlich in „Bild“ und hier nicht zuletzt im eigenen Fernsehsender, in dem kaum eine Stunde vergeht, in der er nicht live aus Kiew dazugeschaltet wird.
In Friedenszeiten stand er hier ausdauernd im Studio und las, wenn er sich nicht für den Kanzlerkandidaten Olaf Scholz im „Verhör“ Häuptlingskopfschmuck aufsetzte, live von seinem Smartphone vor, was ihm irgendwelche Informanten aus eigentlich vertraulichen Sitzungen vor allem der Union durchstachen. (Das ist nur sehr bedingt seriöser Journalismus, hatte aber zweifellos erhebliche publizistische und politische Wirkung und sorgte für entsprechende Aufmerksamkeit.)
Auch aus der Ukraine liefert er regelmäßig Exklusivmeldungen – gerade in der vergangenen Woche erst die, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den deutschen Präsidenten Frank-Walter Steinmeier nicht in Kiew treffen wollte. („Bild“ machte daraus: „Selenskyj erteilt Steinmeier Ukraine-Verbot!“) Für seine Zeitung ist Ronzheimer in jeder Hinsicht ein Schatz: Er generiert zuverlässig Aufmerksamkeit, und häufiger sogar in einer Weise, die man den üblichen Kritikern triumphierend vorhalten kann.
On set with the great @ronzheimer to tonight for @OutFrontCNN pic.twitter.com/6MInIdpndp
— Frederik Pleitgen (@fpleitgenCNN) April 4, 2022
Ronzheimer hat es geschafft, dass man ihn nicht ignorieren kann. Kollegen wie der CNN-Reporter Frederik Pleitgen schwärmen für ihn; manche fordern einen Journalistenpreis für ihn. Anderen fällt es erkennbar schwer, den „Bild“-Mann zu loben, im Netz ist er immer wieder Zielscheibe wütender Beschimpfungen, so dass selbst „Monitor“-Chef Georg Restle, kein natürlicher Verbündeter des „Bild“-Mannes, die „Hasstiraden“ anprangerte.
Man muss kein Freund von @ronzheimer sein, um die Häme, die ihn hier seit Wochen begleitet, völlig unangemessen zu finden. Sachliche Kritik ist immer ok; aber was hier regelmäßig an Hasstiraden stattfindet, ist schlicht unterirdisch.
— Georg Restle (@georgrestle) April 19, 2022
Hat er die Lobpreisungen verdient, die wütende Ablehnung? Wird er, weil von „Bild“ ist, übertrieben gefeiert oder unverdient ignoriert?
Es ist kompliziert.
„Bild“ hat eine Dokumentation veröffentlicht, mit vielen Ausschnitten aus der Berichterstattung Ronzheimers der ersten Wochen im Ukraine-Krieg. Sie heißt: „Kriegstagebuch: Paul Ronzheimer in der Hölle von Kiew“ und ist sehr, sehr merkwürdig, was am wenigsten an Ronzheimer liegt.
„Bild“ hat sich entscheiden, fast alle Bilder in dem Film nachträglich zu verfremden: Die Farben wurden entsättigt, Linien wie bei einem schlechten Fernsehbild darüber gelegt. Das ist eine merkwürdige Entscheidung, weil sie die Aufnahmen nicht nur schlechter macht, sondern auch noch künstlicher: Sollen sie durch die mangelnde Qualität noch kriegshafter aussehen? Ein zusätzlichen Anschein von Authentizität zu faken bei Bildern, die eine Realität dokumentieren sollen – darauf muss man erst einmal kommen. Auch die Stimme von Ronzheimer wird dauernd verfremdet: Wann immer er nicht im Bild zu sehen ist, sorgt die Dokumentation dafür, dass er klingt, als würde er über eine besonders schlechte Leitung oder Telefonverbindung sprechen, selbst wenn das gar nicht der Fall ist.
Natürlich fehlen auch dramatische Musikbetten nicht; auch in ihren täglichen Fernsehsendungen unterlegt „Bild“ sicherheitshalber die Aufnahmen aus dem Krieg oft mit Sound, als würde sich der Schrecken sonst nicht angemessen vermitteln. Das „Kriegstagebuch“ beginnt entsprechend wie ein geiles, aufregendes Actionvideo.
Aber die Beiträge Ronzheimers selbst sind über weite Strecken solides, unspektakuläres Reporterhandwerk. Er ist immer wieder, auch von uns, dafür kritisiert worden, wie sehr er sich selbst in den Mittelpunkt seiner Reportagen aus Kriegs- und Krisengebieten stellt; als wären die Kämpfe vor allem eine attraktive, aufregende Bühne für seine Auftritte. Das ist inzwischen etwas weniger geworden; er nimmt die Zuschauer an die Hand. „Ich nehm euch nochmal mit“, sagt er, wenn er aus der U-Bahn auf den Maidan hinausgeht.
Gleichzeitig macht dieser Film aber auch deutlich, wie begrenzt Ronzheimers Perspektive auf das Geschehen ist. Das „Kriegstagebuch“ seines „Welt“-Kollegen Steffen Schwarzkopf spielt an mehr Schauplätzen, erzählt vielfältigere Geschichten und enthält mehr Selbstreflexion.
Es kommen aber weniger Boxweltmeister vor.
Der „Bild“-Film reichert Ronzheimers eigenes Material mit vielen Aufnahmen aus anderen Regionen an. Ronzheimer ist in dieser Zeit fast ausschließlich in Kiew unterwegs – und auch hier immer wieder bei den Klitschkos, mit den Klitschkos, im Schlepptau der Klitschkos.
Er sitzt mit Vitali Klitschko zusammen und lässt sich von ihm erzählen, wie dessen Kinder ihm eine SMS schicken: „Papa, pass auf dich auf“. Das ergreift Ronzheimer so, dass er mit den Tränen kämpft, während er es wiederholt.
Er sagt über die Brüder: „Die beiden sind kämpferisch, die beiden sind natürlich gewillt, hier zu bleiben, natürlich alles zu tun, um Kiew zu verteidigen. Und sie sind wirklich immer zusammen, das ist schon rührend zu sehen, die beiden großen Brüder, einst zusammen immer im Boxring und jetzt zusammen hier im Krieg in Kiew.“ Er filmt Vitali Klitschko, wie er vor einem Laster mit der Aufschrift „Iron Kyiv“ steht und fragt ihn: „Du wurdest als Boxer Doktor Eisenfaust genannt. Aus Doktor Eisenfaust wird jetzt der Bürgermeister einer eisernen Stadt?“
Die Klitschkos nehmen Ronzheimer mit zur Szene eines Bombenanschlags in Kiew. „Wir werden niemals Sklaven, lieber sterben, als Sklaven zu sein“, sagt Vitali Klitschko zu Ronzheimer am Rande des gewaltigen Kraters. Ohne die Klitschkos darf der „Bild“-Mann danach hier nicht weiter filmen, es ergibt sich die bemerkenswerte Szene: „Wir werden jetzt hier rausgeschickt“, sagt er, „wir sind hier eigentlich nur reingekommen, weil wir mit Vitali und Wladimir Klitschko unterwegs waren, ihr seht, die Journalisten müssen eigentlich dahinten stehen.“ Einem nicht sichtbaren Ordnungshüter ruft er im Weggehen zur Erklärung zu: „We are with the Klitschkos.“
Fragt man Ronzheimer, ob diese große Nähe eine Eigenart des Boulevardjournalismus ist oder eine Folge der besonderen Umstände, aus einem Krieg zu berichten, antwortet er: „Personalisierung gehört ganz entschieden zum Boulevardjournalismus dazu. Vitali und Wladimir Klitschko sind weltberühmt und stehen symbolisch für den Widerstand der Ukraine gegen Russland.“
Es ist eine doppelte Personalisierung, die da stattfindet: über ihn, den Reporter, und über die Klitschkos. Es gehe dabei darum, sagte Ronzheimer in einer Diskussion mit dem Branchendienst „Medieninsider“, „Dinge zu emotionalisieren oder Dinge auf den Punkt zu bringen“. Nähe zu wichtigen handelnden Personen aufzubauen, gehöre zu seiner Methode, fügte er hinzu: Eine Verbindung habe er auch zum früheren Präsidenten Petro Poroschenko gehabt, auch jetzt zu Präsident Selenskyj, „das war immer meine Art als Reporter zu arbeiten, das hat nichts mit Fantum oder was auch immer zu tun, sondern allein damit, dass ich es als meine Aufgabe ansehe, eben möglichst nah dran zu sein.“
Diese Nähe wird als Qualitätsmerkmal inszeniert. Mindestens so wichtig wie das, was Selenskyj sagt, ist, dass er es dem „Bild“-Reporter sagt. Ronzheimer weist nach einem Besuch im Osten der Ukraine, wenn er davon erzählt, immer wieder darauf hin. Der „Bild“-Reporter ist Teil der Geschichte, die der „Bild“-Reporter erzählt.
Später in Kiew kommt es dann zu einer außerordentlichen Pressekonferenz, bei der sich Selenskyj zu ihm herunterbeugt und persönlich die Hand gibt – ein Fotodokument, für das ihn sicher viele Journalisten auf der Welt beneiden.
Wer würde nicht diesem gerade als Heldenfigur gefeierten (und nicht zuletzt von „Bild“ als Heldenfigur inszenierten) Staatsmann so nah kommen wollen. Später bekommt Ronzheimer noch ein exklusives Gespräch, bei dem beide geradezu intim nebeneinander auf einem Teppich auf Stufen im Präsidentengebäude sitzen. „Jetzt ist er [Wolodymyr Selenskyj] bei Paul Ronzheimer“, formuliert „Bild“-Live-Moderator Kai Wiese, noch atemloser als sonst.
Und in einem weiteren „Welt-exklusiven Interview“, diesmal auf richtigen Stühlen, das „Bild“ und andere Springer-Medien verwerten, fragt Ronzheimer den Präsidenten nach Butscha: „Did you cry when you saw these pictures?“ (Selenskyjis Antwort: „I don’t cry anymore“.) Und: „What does it make to you, this war?“, sprachlich heikel, aber was macht das schon.
Die Verbindung von Paul Ronzheimer zu Vitali Klitschko scheint aus den vielen, die der „Bild“-Reporter zu den Mächtigen der Welt aufbaut, noch einmal herauszuragen. Der Kontakt besteht seit 2013, damals begleitete Ronzheimer den Politiker gewordenen Boxer während der Maidan-Proteste. Klickt man sich durch die Berichterstattung von damals, ist es geradezu aberwitzig, in welchem Maß „Bild“ den Konflikt als Klitschko–Drama erzählte.
Danach gab es kuschelige Bilder von den beiden, bei Charity-Events, in Bad Gastein, fast immer kumpelig Arm in Arm.
Mal nicht am Maidan getroffen, sondern in #BadGastein! @Klitschko pic.twitter.com/dyi427FauW
— Paul Ronzheimer (@ronzheimer) July 27, 2021
Der Gedanke mit dem Fantum, auch wenn Ronzheimer dem widerspricht, ist nicht abwegig, wenn man sieht und liest, wie Ronzheimer die beiden Boxer in Szene setzt.
Und wie er sich selbst in Szene setzt – oder in Szene gesetzt wird. Die Klitschkos sind außerordentlich präsent im Blatt, und wenn die Klitschkos zu sehen sind, ist es in der Regel auch Ronzheimer.
Am Dienstag trieb „Bild“ die Doppel-Personalisierung auf die Spitze: Bei einem, natürlich, „exklusiven Interview“ von Ronzheimer mit den beiden Klitschkos auf dem Maidan (im Bild: Paul, Vitali, Wladimir, Maidan) klang es online so, als bräuchten die Klitschkos persönlich die Waffen, um nun auch selbst in den Krieg gegen Russland zu ziehen. (Und als fordere Ronzheimer das auch.)
Dass in der Berichterstattung ein enger Zugang zu dem Bürgermeister der ukrainischen Hauptstadt in vielen Situationen ein Vorteil ist, liegt auf der Hand. Kann Ronzheimer die Forderung nachvollziehen, dass Journalisten mehr Distanz zum Gegenstand ihrer Berichterstatung haben sollen? „Mein Eindruck, wenn andere Medien das kritisieren, ist auch, dass diese einen solchen Zugang gerne selbst hätten“, antwortet Ronzheimer auf unsere Anfrage. „Sie erinnern sich vielleicht an eine ‚Spiegel‘-Hausmitteilung aus 2014, als sich das Blatt damit rühmte, besonders nah dran an den Klitschkos zu sein, aber verschwieg, wer ihnen beim Fototermin geholfen hatte und wer ebenfalls mit am Tisch saß.“
Das ist eine typische Antwort für Ronzheimer und „Bild“. Es mag ja sein, dass hinter mancher Kritik von Kollegen auch Neid oder Heuchelei stecken. Aber der Verweis auf die acht Jahre alte Geschichte, die er dem Nachrichtenmagazin offenbar immer noch nachträgt, beantwortet nicht die Frage, ob eine solche Nähe nicht problematisch ist. In der „Medieninsider“-Diskussion sagte er immerhin, dass er jenseits von Artikeln über Vitali Klitschko oder Interviews mit ihm eventuelle Informationen, die er von ihm über Vorgänge im Krieg bekommen würde, natürlich vor der Veröffentlichung überprüfen würde.
Ronzheimer sagt, er fühle sich in keiner Weise „embedded“: „Anders als in anderen Kriegen wie zum Beispiel in Afghanistan, Irak oder Syrien habe ich das ukrainische Militär bislang nicht über Tage ‚embedded‘ begleitet und auch an keiner ‚Press tour‘ des ukrainischen Innenministeriums teilgenommen.“ (Gut, er braucht das ja auch nicht, weil er, wie in Butscha, bereits vor der offiziellen „Tour“ hinkommt. Etwa mit den Klitschkos.)
Ronzheimer lässt dieser Krieg nicht kalt, das versteckt er nicht. Bei einer Schalte am Vorabend des Krieges versagt ihm kurz die Stimme, als er über die erwartete Invasion spricht. „’tschuldigung, meine Emotionen“, sagt er, „aber das zu erleben nach so vielen Jahren hier als Reporter, überkommt mich doch, weil ich viele Freunde habe in der Ukraine, die Angst um ihr Leben haben.“
Auf unsere Anfrage sagt er: „Ja, ich habe zur Ukraine eine besondere Beziehung. Diese Beziehung ist durch viele berufliche, aber auch private Aufenthalte in den vergangenen acht Jahren entstanden. Was die Berichterstattung für mich besonders macht: Anders als viele andere Kriegsgebiete, aus denen ich berichtet habe, kannte ich gerade Kyiv sehr intensiv aus Friedenszeiten, es war eine pulsierende Stadt. Das macht das Grauen des Krieges und wie sehr ein Krieg ein Land verändert für mich noch einmal ganz anders fassbar.“
„Bild“ ist mit Ronzheimer in Kiew vor Ort. Die ARD war es lange nicht. Das ist nicht ideal, aber besonders schlecht ist es, wenn Georg Restle dann irgendwann zwar vor Ort ist, aber die Arbeit von Leuten wie Ronzheimer irgendwie nicht zur Kenntnis genommen hat. Nachdem das Massaker in Butscha bekannt wurde, behauptete Restle in den „Tagesthemen“, Journalisten hätten den Ort noch nicht in Augenschein nehmen können – was offenkundig falsch war und nicht nur die Anwesenheit von Ronzheimer, sondern auch die von Journalisten anderer internationaler Medien ignorierte. So unverständlich die falsche Behauptung war, so schwer fiel es Restle, sie unumwunden zu korrigieren.
„Bild“ wiederum konnte es nicht dabei belassen, Restle zu kritisieren, sondern konstruierte gleich einen dreifachen ARD-„Skandal“: Neben Restles Fehler zählte die Redaktion dazu einen Artikel des „Zündfunks“ des Bayerischen Rundfunks, der es wagte, die „Bild“-Ronzheimer-Doku zu kritisieren. Sie wirke „wie die Inszenierung des Kriegsreporters schlechthin“, schrieb der Redakteur Ferdinand Meyen, „alles ist so zusammengeschnitten, dass ein Bild des Helden im Kugelhagel an der Front entsteht.“ Schon das reichte für „Bild“, um „Skandal!“ zu rufen. Sie entstellten den Meinungsbeitrag zu der Formel: „Der BILD-Reporter in Kiew nutze den Ukraine-Krieg aus, um eine ‚toxische Männlichkeit‘ zu befeuern“ – dabei erhebt der BR-Artikel diesen Vorwurf gar nicht. Er problematisiert nur die alten, „überholten Männlichkeitsbilder“, die gerade entstehen.
Der dritte „Skandal“: Kurt Krömer habe Ronzheimer in seiner RBB-Sendung „beleidigt“. Das stimmt, er hatte ihn einen „adipösen Hamster“ an der Front genannt – eine selbst für eine Kunstfigur wie Krömer unnötig dumme Formulierung, der sein Gast in der Sendung, „Welt“-Redakteur Deniz Yücel, sofort wütend widersprach. Die „Bild“-Autoren setzen in ihrer „Skandal“-Geschichte Krömer mit seinem Darsteller Alexander Bojcan gleich – und instrumentalisierten Ronzheimer gleich in ihrem Dauerkampf gegen ARD und ZDF.
(Dass auch „TV Total“-Moderator Sebastian Pufpaff Ronzheimer als „kleinen dicken Harry Potter“ verunglimpft, scheint kein Skandal zu sein.)
In der Zeit, in der die ARD keine eigenen Leute in Kiew hatte, schaltete sie nicht zu Ronzheimer als Ersatz-Berichterstatter. Wäre das absurd gewesen, angesichts des Kampfes, den „Bild“ gegen die Öffentlich-Rechtlichen führt, auch angesichts der Unseriösität von „Bild“? Oder ist es absurd, nicht auf die Augenzeugenberichte eines Reporters wie Ronzheimer zurückgegriffen zu haben?
Ronzheimer sagt: „Es ist doch einigermaßen bemerkenswert, dass CNN und Fox News mich mehrfach in ihre Sendungen eingeladen haben – anders als öffentlich-rechtliche TV-Sender aus Deutschland. Dass das Interesse international größer ist als national, kann ich mir in Teilen nur damit erklären, dass man – zum Beispiel zu Kriegsbeginn aus Kyiv – keinen ‚Bild‘-Reporter schalten wollte, obwohl ich zusammen mit Steffen Schwarzkopf teilweise der einzige deutsche Journalist hier war.“
Der öffentlich-rechtliche Deutschlandfunk sprach übrigens zweimal mit Ronzheimer, einmal angekündigt mit den Sätzen: „Wir, also: der Deutschlandfunk, wir haben bisland keinen eigenen Korrespondenten in Kiew. Dafür gibt es ganz unterschiedliche Gründe. Solange das so ist, versuchen wir Ihnen hier im Programm Schilderungen von Ukrainerinnen und Ukrainern anzubieten, und auch von Journalistenkolleginnen und -kollegen, die am Ort sind.“
Manche Kritiker machen es sich – und ihm – leicht. Der „Manager Magazin“-Journalist Christoph Rottwilm mokierte sich über ein typisches Video von Ronzheimer und twitterte: „Totenstille, der Kampf war vor zwei Tagen, aber er trägt einen Helm…“ Ronzheimer antwortete nachvollziehbar wütend:
Herr @rottwilm vom @manager_magazin musste auch nicht erleben, wie mehrere Kollegen in den vergangenen Wochen in Kyiv ums Leben gekommen sind, darunter welche, die ich gut kannte. Das ist nur noch widerlich, was sich manche hier leisten. Das kann man auch nicht ignorieren. https://t.co/Tqi36izDXS
— Paul Ronzheimer (@ronzheimer) April 2, 2022
Als Reaktion auf einen Tweet des Grünen-Politikers und Filmproduzenten Peter Heilrath, der schrieb, er „respektiere den Mut Ronzheimers, aber es gibt keinen einzigen substanziellen Beitrag von ihm. Mut ersetzt keine Fachkunde und keine journalistische Arbeit“, beklagte sich Ronzheimer darüber, „Haltungsnoten“ zu bekommen:
Ich kann die Debatten, ob jemand unsere Arbeit gut oder schlecht findet, nicht mehr hören. Keiner MUSS es schauen/lesen oder gar zahlen. Lasst uns doch einfach auch in Woche 7 unsere Arbeit machen, so wie wir es für richtig halten – und hört auf Haltungsnoten zu verteilen. Danke. https://t.co/g8axoZjT6h
— Paul Ronzheimer (@ronzheimer) March 30, 2022
Das wirft die Frage auf, ob Kriegsreporter (anders als ungefähr jeder sonst) nicht kritisiert werden dürfen, oder jedenfalls nicht vom gemütlichen Schreibtisch aus. „Das ist natürlich nicht der Fall“, antwortet er Übermedien, diesen Tweet sehe er „im Nachhinein kritisch“: „Meine emotionale Reaktion hat mit den Beleidigungen zu tun. Aber ich hätte da cooler reagieren können.“
Doch auch später in einem Podcast sagte Ronzheimer, er finde sie „unmöglich“, „diese Debatte um mich“. Und in der „Medieninsider“-Diskussion empörte er sich, er komme „schon kaum noch hinterher, was mir jetzt alles in den letzten Tagen und Wochen vorgeworfen wurde von irgendwelchen Stellen, was ich schon erstaunlich finde“.
Er freue sich „über viel Unterstützung“ für ihn sein Team bei der Arbeit in der Ukraine, antwortet er uns. „Was die Anfeindungen und Beleidigungen angeht: Die stehen in der ganzen Absurdität für sich selbst. Bei manchen Beleidigungen habe ich mich allerdings gefragt, wie groß wohl die Aufregung gewesen wäre, wenn ein ‚Bild‘-Reporter solche Dinge über Kollegen anderer Häuser gesagt hätte. Die Empörungswelle wäre sicher größer gewesen.“
Warum verfolgt er diese Reaktionen auf seine Arbeit so sehr? „Ich versuche da entspannter zu werden, bin es teilweise auch schon und sollte mir weniger Gedanken darüber machen, was andere über mich schreiben.“
Dass er als positive Ausnahmeerscheinung bei „Bild“ gelobt wird, findet er natürlich „Blödsinn“, weil es es bei „Bild“ viele herausragende Reporterinnen und Reporter gebe – und die Redaktion „auch insgesamt eine großartige Arbeit macht“.
Vor ein paar Tagen postete Ronzheimer stolz einen Screenshot, der ihn mit der CNN-Legende Christiane Amanpour zeigt, einem Vorbild, wie er schrieb. Er zitierte deren Credo „Truthful, not neutral“. Und die Frage nach der fehlenden Distanz stellt sich natürlich auch noch auf einer anderen Ebene: Nicht nur, was die Klitschkos angeht, sondern die Ukraine insgesamt. Besteht die Gefahr, sich als Journalist zu sehr auf eine Seite zu schlagen?
„Ich halte diese Frage schon deshalb für absurd“, antwortet Ronzheimer, „da es eben keine klassischen ‚zwei Seiten‘ gibt, sondern Russland, das die Ukraine angegriffen hat und das Land vernichten will. Das ändert aber nichts daran, dass wir auch auf Seiten der Ukraine genau hinschauen und kritisch berichten.“
Würde er im Zweifel auf eine Berichterstattung verzichten, wenn sie der ukrainischen Seite schaden könnte? „Nein, das haben wir ja auch bereits bewiesen, in dem wir zum Beispiel über ukrainische Kriegsverbrechen bei ‚Bild‘ berichtet haben. Oder jüngst exklusiv über die Absage an Steinmeier, die am Ende der Ukraine aus meiner Sicht eher geschadet hat.“
Zunächst und zu allererst hat sie aber natürlich Steinmeier geschadet und lag damit ganz auf der redaktionellen Linie der „Bild“-Zeitung in ihrer massiven Kritik an dem Bundespräsidenten und anderen SPD-Politikern.
Ronzheimers Enthüllungen beschäftigen und beeinflussen die Politik. Das ist nichts Anrüchiges oder Unjournalistisches, sondern einfach die Wirkung von Exklusivmeldungen. Aber er wird so sehr als Sprachrohr der Regierenden in der Ukraine wahrgenommen, dass nicht klar ist, in welchem Maß er und „Bild“ sich selbst als Partei wahrnehmen und wie sich das auf ihre Berichterstattung auswirkt.
Natürlich wäre Äquidistanz in einem Konflikt wie diesem, in dem ein Land ein anderes überfällt und mit Vernichtung droht, eine absurde Position. Der Hang des „Bild“-Boulevards, die Welt in Gut und Böse einzuteilen, trifft hier auf eine Realität, in der Gut und Böse tatsächlich außergewöhnlich eindeutig verteilt zu sein scheinen. Das macht es für einen Nähe-Journalisten wie Ronzheimer besonders verführerisch und wirkungsvoll, ganz auf einer Seite zu stehen und jede journalistische Restdistanz aufzugeben. Unproblematisch ist es deshalb noch nicht.
Es ist, natürlich, auch wieder ein Gespräch mit den Klitschkos vor der Kamera, in dem die Frage nach Ronzheimers journalistischem Selbstverständniss als Kriegsreporter aufkommt. In der „Bild“-Dokumentation sieht man, wie er die beiden fragt: „Ihr bleibt, richtig?“ Vitali Klitschko antwortet: „Wir bleiben. Wir haben keine andere Wahl. Wo sollen wir hin?“ Da schaltet sich Wladimir Klitschko ein: „Wir haben keine Wahl. Paul, du hast aber eine Wahl. Du bist ein Ausländer. Was machst du hier? Es ist gefährlich für dich hier. Aber wir sind dankbar, dass, so wie du, viele Journalisten hier sind.“
Ronzheimer erzählt später in die Kamera von den Menschen, die er in der Ukraine kennen gelernt hat, nicht nur die Klitschkos, und von seinem Reportersein: „Das Gefühl zu haben, dass es wichtig ist, dass Reporter hier sind, in gewisser Weise auch als menschliche Schutzschilde sozusagen, denn mein Gefühl ist, wenn Reporter hier sind, dann ist es vielleicht etwas besser, als es sonst wäre, auch die Art, wie der Krieg geführt wird.“
Später steht er vor einer durch einen Bombenschlag zerstörten Wohngegend in Kiew, und für ein paar Momente geht er selbst sogar aus dem Bild und zeigt die furchtbare Verwüstung und eine zerstörte Schule im Hintergrund: „Wir gehen hier einfach noch ein Stück weiter, weil wir denken, es ist wichtig, dass Deutschland diese Dimension dieses Angriffs sieht. Schaut euch an, was hier passiert ist. Unfassbar.“
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Er hat unter anderem für „Süddeutsche Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ und den „Spiegel“ über Medien berichtet.
Ach, das mit den verfremdeten Bildern habe ich verstanden:
Wenn man normale Filmqualität zeigt, wirkt das „normal“ oder „wie ein Film“ und nicht wie ein Kriegsgebiet.