Bilder des Krieges

Warum wir zeigen sollten, was wir nicht sehen wollen

Warnhinweis: Sensibler Inhalt. In diesem Artikel befindet sich ein Foto, auf dem tote Menschen zu erkennen sind.


Manche Bilder vergisst man nicht: Wer am 11. September 2001 Menschen aus den brennenden Twin Towers des New Yorker World Trade Centers hat springen sehen, wird sich für immer daran erinnern. Oder das Foto des zweijährigen Alan Kurdi, der 2015 tot am Strand in der Nähe des türkischen Urlaubsortes Bodrum lag – es wurde zur Ikone einer unmenschlichen europäischen Flüchtlingspolitik. Auch dieses Bild bleibt im Gedächtnis.

Und jetzt wieder eines: Die „New York Times“ zeigte am Montag nahezu auf der ganzen Breite ihrer Titelseite (und natürlich im Netz) ein Foto, das eine tote Familie zeigt, die auf der Flucht im ukrainischen Irpin Opfer eines russischen Artillerieangriffs wurde. (Warnung: Nach dem Klick sind unmittelbar tote Menschen zu sehen.) Aufgenommen hat das Foto die Pulitzer-Preisträgerin Lynsey Addario.

Das Besondere ist nicht nur das Foto selbst, sondern auch, dass Addario und ihr Team offensichtlich um ein Haar selbst Opfer des Angriffs geworden wären – und diesen Moment filmten. Das Video, das den Augenblick festhält, in dem Zivilisten ermordet werden, verbreitete sich in digitalen Medien bereits vor dem Foto der Opfer. Im Video sieht man Addario mit Fotokamera in der Situation, in der sie wenig später das Bild der toten Familie macht.

Titelseite der „New York Times“ vom 7.3.2022 Ausriss: NYT

Das dokumentiert nicht nur den gewaltsamen Tod von Zivilisten im Krieg, sondern auch ein Kriegsverbrechen, bei dem unabhängige Reporter:innen als Zeugen anwesend waren. Das unterscheidet die Dokumentation von Propaganda: Denn Addario kann berichten, dass es ausschließlich russische Truppen gewesen sein können, die die Schüsse abgaben. Es ist die Art von Kriegsberichterstattung, von der die meisten an ihr beteiligten Journalist:innen hoffen, dass sie dazu beiträgt, Kriege schneller zu beenden.

Eines der bekanntesten Beispiel hierfür ist das Bild von Phan Thi Kim Phuc, dem sogenannten „Napalm Girl“ aus Vietnam von 1972, das ebenfalls als Titelbild der „New York Times“ erschien und mit dem Pulitzer-Preis und als „World Press Photo of the Year“ ausgezeichnet wurde. Es trug mit dazu bei, dass damals der amerikanischen Öffentlichkeit der Vietnam-Krieg, und insbesondere der Einsatz von Napalm, nicht mehr länger zu vermitteln war.

„Zeugnis eines Kriegsverbrechens“

Dennoch gibt es in Deutschland immer wieder heftige Diskussionen darüber, ob man solche Bilder zeigen sollte. Im „heute Journal“ (ZDF) wurde Addario gefragt, ob sie überlegt habe, die Szene zu fotografieren – und sogar, ob sie diese überhaupt hätte fotografieren „dürfen“.

Eine merkwürdige Frage. Was sollte eine Kriegsreporterin sonst machen? Solche Szenen festzuhalten, vor allem wenn es sich dabei um mutmaßliche Kriegsverbrechen an Zivilisten handelt, ist ja der Grund, weshalb Addario überhaupt vor Ort war. Nichts rechtfertigt mehr ihre Anwesenheit und die Gefahr, der sie sich und ihr Team aussetzt, als genau diese Bilder.

Dementsprechend antwortete die Reporterin, dass sie natürlich – zumal als Mutter – betroffen sei. „Ich dachte aber auch, dass dieses Foto das Zeugnis eines Kriegsverbrechens ist, und dass ich dieses Foto machen soll. Diese Menschen, unschuldige Zivilisten, wurden angegriffen.“

Für die „New York Times“ war es klar, das zeitgeschichtliche Dokument zu zeigen – und nicht zu verfremden, also etwa die Gesichter der Opfer zu verpixeln. Auch hier wurde in der Redaktion intensiv diskutiert, wie man es zeigt, aber das Gefühl sei einhellig gewesen, sagt Meaghan Looram, Fotoredakteurin der „New York Times“: „Das war ein Foto, das die Welt sehen musste, um zu verstehen, was in der Ukraine passiert.“ Auf Social Media fügte die Zeitung Warnhinweise ein, auf ihrer Website nicht.

In Deutschland, vor allem in deutschen Medien, werden oft andere ethische Maßstäbe angelegt, die sich von denen angloamerikanischer Gesellschaften unterscheiden. Deshalb beschäftigt sich in Deutschland auch immer wieder der Presserat mit derartigen Fällen.

In Richtlinie 11.1 des Pressekodex steht:

„Unangemessen sensationell ist eine Darstellung, wenn in der Berichterstattung der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, herabgewürdigt wird.“

Zudem müssten „die möglichen Wirkungen auf Kinder und Jugendliche“ beachtet werden. Auch die Identifizierung der Opfer wird kritisch gesehen, im Zweifelsfall sollten sie unkenntlich gemacht werden.

Im aktuellen Fall haben viele deutsche Zeitungen das Foto nicht gedruckt, die „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) etwa. In der SZ, schreibt das Blatt in seiner aktuellen Ausgabe, würden „grundsätzlich keine Bilder von Toten gezeigt“. Und der „Tagesspiegel“ berichtet zwar ausführlich über den medialen Hintergrund von Addarios Geschichte, verpixelt aber die Gesichter der Opfer, die in der „New York Times“ zu sehen waren.

Man kann darin einen besonders respektvollen Umgang mit den Toten sehen. Man kann aber auch finden, dass hier die Schrecken des Krieges verschleiert werden. Ist das journalistisch zu rechtfertigen?

Zynische Frontberichte

Eindeutig verhält es sich dagegen, wenn Kriegstote zu bloßer Staffage werden – auch wenn es sich dabei um Soldaten handelt. So geschieht es nach meiner Auffassung in einem BBC-Bericht von der Front in der Ukraine. (Warnung: Nahaufnahmen von toten Soldaten und Zivilisten.) Der ebenfalls sehr erfahrene Reporter Quentin Sommerville ist bei ukrainischen Einheiten embedded und übernimmt deren zynischen Umgang mit den Toten des Kriegsgegners. Während man die Hand eines Toten im Schnee sieht, textet der Reporter: „Zumindest hier ist der russische Vorstoß eingefroren“.

Auch für einen Aufsager inmitten von Leichen oder das Zeigen von Gesichtern und Ausweispapieren der Toten, um sie als „tschetschenisch“ zu markieren, ist sich Reporter Sommerville nicht zu schade. Doch auch diese Männer haben Mütter, Väter, Verwandte, Partner:innen und Kinder. Es ist ein abstoßendes Beispiel dafür, wie Krieg nicht nur die Konfliktparteien, sondern auch Berichte von Kriegsberichterstattern entmenschlichen kann.

Bemerkenswert ist auch, dass die „Tagesthemen“ (ARD) den Bericht von Sommerville am Freitag übernommen und zum Aufmacher ihrer Sendung gemacht haben – allerdings ohne die problematischen Szenen. Alles, was Soommerville an ukrainischem Leid dokumentiert hat, läuft (zu Recht) in der Sendung. Doch von seinem zynischen Einsatz russischer Leichen für fragwürdige Punchlines erfahren die deutschen Zuschauer:innen leider nichts.

Eine polarisierte Debatte

Der ethisch-moralische Unterschied zwischen dem Bericht von Addario und dem von Sommerville ist offenkundig. Dennoch wird auch über Addarios Bild gestritten. Macht man auf Twitter deutlich, dass man das Zeigen der (unverpixelten) Bilder befürwortet, muss man sich einiges anhören, so zum Beispiel Thomas Walach, Chefredakteur des österreichischen Online-Mediums „Zackzack.at“. Nachdem er auf Twitter dafür plädiert hatte, Medien sollten Kriegsgräuel unverpixelt zeigen, schrieben ihm andere Twitter-Nutzer: „Das ist Boulevard-Journalismus. Haben Sie das notwendig?“ Oder: „Gehts ihnen da gerade um Klicks oder was läuft da grad falsch?!“

Walach entgegnet, das Problem der Toten sei nicht ihre verletzte Würde, weil man ihre Gesichter zeige, sondern dass sie ermordet wurden.

Auch der einzige Überlebende der Familie, der Ehemann und Vater der Kinder, der zum Zeitpunkt ihrer Ermordung bei seiner kranken Mutter in Donezk war, hält es für wichtig, wie er der „New York Times“ sagte, dass der Tod seiner Familie in Fotos und Videos festgehalten worden sei. Im Widerspruch zu der häufigen Forderung, man müsse auch an die Verwandten denken und deshalb mit Bildern vorsichtiger sein, sagt der Mann in Bezug auf die Bilder: „Die ganze Welt sollte wissen, was hier passiert ist.“

Tatsächlich klafft hier aus meiner Sicht insbesondere im deutschsprachigen Raum eine Lücke zwischen der Moral des Publikums (oder eines Großteils) und dem tatsächlichen Empfinden der Angehörigen von Opfern.

Wer wirklich massive Gewalt, Terror oder Krieg erlebt hat, dessen Traumata können durch Bilder allerdings reaktiviert werden. Der Hinweis ist deshalb wichtig, weil in Deutschland viele Menschen leben, die vor Krieg und Verfolgung geflüchtet sind. Syrische Flüchtlinge, die seit 2015 zu uns kommen. Oder Menschen, die vor dem Jugoslawien-Krieg der 1990er Jahre geflüchtet sind. Und natürlich gerade jene Menschen, die sich vor den russischen Kriegen gegen Georgien und Tschetschenien in Sicherheit bringen konnten.

Warnhinweis auf Twitter Screenshot: Twitter

Insofern ist es durchaus sinnvoll, wenn Online-Medien, auch auf Social Media, sogenannte Inhaltswarnungen einsetzen, sodass beispielsweise Bilder von Toten zunächst komplett verpixelt zu sehen sind. Auf Twitter kann jeder Nutzer:in eine solche Inhaltswarnung erzeugen, Facebook und Instagram überlassen es dagegen ihren Algorithmen, was verpixelt wird, oder warten auf Nutzer:innen und Moderator:innen, die Verstöße melden.

Das Abwenden und die Scham

Samira El Ouassil hat das Dilemma solcher Bilder voriges Jahr in ihrer Übermedien-Kolumne beschrieben über die Männer, die in Kabul vom Fahrwerk einer startenden Militärtransport-Maschine in den Tod stürzten. Ist es voyeuristisch, solche Fotos zu verbreiten und zu betrachten?

Nach El Ouassils Auffassung ist es unangebracht, das so zu nennen. Hier von „Voyeurismus“ zu sprechen, rücke „das Betrachten des Leids anderer in die Nähe einer Triebbefriedigung und macht aus dem Gezeigten etwas Unanständiges, das man anstandshalber nicht anschauen sollte“. Dahinter verberge sich aber etwas ganz anderes, nämlich zum einen die „Angst, ein unanständiger Gaffer der Gewalt zu sein“, zum anderen die Scham darüber, dass eigentlich alles ganz anders hätte laufen sollen, dass wir, dass „der Westen“ doch ganz anderes versprochen hatte.

Da die Schuld am aktuellen Leid in der Ukraine mit gutem Recht bei Russland zu suchen ist, mag diese Scham hier geringer ausfallen, dennoch trifft El Ouassils Beobachtung auch jetzt. Weil die Welt nicht so sein sollte, wie sie ist, weil Menschen anderen Menschen nicht antun sollten, was sie ihnen antun, wollen wir uns instinktiv davon abwenden.

Doch genau darum halte ich es auch für falsch: Denn so wird der Überbringer der ungeschminkt schlechten Nachricht zur Projektionsfläche eines angeblichen Voyeurismus und einer moralischen Verletzung, die in Wirklichkeit in der Sache selbst liegt. Genau deshalb aber müssen wir uns auch damit konfrontieren.

Schwangere werden beschossen, Menschen verlieren Gliedmaßen, Kinder sterben, Haustiere werden in Transportboxen zerfetzt. Die Würde dieser Opfer wird nicht wiederhergestellt, wenn wir beschämt ihre Gesichter verpixeln. Wir machen das Geschehene damit nur etwas erträglicher – für uns.

3 Kommentare

  1. Sagen, was ist, kann sich doch um „zeigen, was ist“ nicht herumdrücken?
    Die Amis haben die Deutschen 1945 gezwungen, Bilder aus Bergen-Belsen etc anzuschauen.
    Die Süddeutsche Zeitung ist sich heute zu fein dafür?
    Natürlich verstören diese Bilder.
    Aber genau das sollen sie ja.
    Im übrigen: Dass sich die Berichterstattung in Deutschland oft genug um unsere Bequemlichkeit, unser Empfinden dreht, verstört auch.
    Aus meiner Sicht liegt hier eine der Ursachen des Krieges: Wir wollten uns von Putin nicht stören lassen.

  2. So wichtig und richtig es ist, auf die Retraumatisierungsgefahr für hierher geflüchtete Menschen hinzuweisen, so beklemmend ist es, dass die immer noch vielen lebenden ehemaligen Kriegskinder in der Aufzählung vergessen werden. Das ist denke ich kein Zufall, sondern Beispiel, dass dieses Thema immer noch gerne ausgeblendet und den Rechten überlassen wird. Und das ist keineswegs Whataboutism – fragt Eure Eltern oder Großeltern ruhig mal, wie sie gerade mit den Nachrichten zurecht kommen!

  3. #Jochen
    Dass sich die SZ dafür „zu fein“ sei, finde ich nicht fair.
    Erstens muss jede Redaktion selbst entscheiden und verantworten, wie sie den Pressekodex auslegt.
    Zweitens liegt die gedruckte Zeitung nach wie vor in Hunderttausenden von Exemplaren in Familien auf dem Tisch. Da sehen das Foto unausweichlich auch viele Kinder oder Enkel.
    Deshalb finde ich die oben beschriebene Praxis, in Onlinemedien per Opt-in die Entscheidung den Rezipienten zu überlassen, völlig richtig. In der Print-Ausgabe kann man ja einen Hinweis darauf bringen, dass jemand, der will, sich das das Bild im Netz anschauen kann. Drucken muss man es wirklich nicht, um seiner Chronistenpflicht zu genügen.

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