Wochenschau (108)

Den Horror vor Augen

Warnung: In diesem Beitrag geht es um den Tod von Menschen.

Man sieht etwas vom Himmel fallen. Auf einem Foto. Es sieht aus wie ein Mensch – und tatsächlich: Es ist ein Mensch. Bei dem verzweifelten Versuch, das eigene Leben zu retten, stürzt die Person in den sicheren Tod. Während wir das sehen, wissen wir, dass diese Person jetzt nicht mehr existiert. Wir betrachten nachträglich die letzten Sekunden ihres Lebens.

Das Foto trägt den Titel „The Falling Man“, es ist ein weltbekanntes Bild des Fotografen Richard Drew und zeigt einen Mann, der sich nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 in New York aus einem Fenster des World Trade Centers stürzt. Sein letzter Ausweg aus den Flammen.

„Einen gerade eintretenden Tod festhalten und für alle Zeit bewahren – das können nur Kameras. Und Bilder aus dem Feld, die den Augenblick des Todes (oder den Moment unmittelbar davor) zeigen, gehören zu den berühmtesten und besonders häufig reproduzierten Kriegsfotos“, schreibt Susan Sontag 2003 in ihrem Buch „Das Leiden anderer betrachten“.

Afghanen in kaum vorstellbarer Verzweiflung

Fast 20 Jahre nach 9/11 tauchten in der Twitter-Timeline Videos auf, die an diesen freien Fall erinnern; Bilder aus einem Land, dessen Schicksal vielleicht an diesem Tag besiegelt wurde. Auch diesmal sieht man etwas vom Himmel fallen. Es sieht nicht aus wie Menschen, es sind nur Punkte auf den Bildern – aber: Es sind wieder Menschen. Bei dem Versuch, ihr Leben zu retten, stürzen Personen, die wir in diesem Video sehen, in den sicheren Tod. Es sind Afghanen, die sich in kaum vorstellbarer Verzweiflung an ein Flugzeug geklammert hatten und hinabfielen, als es über Kabul an Höhe gewann.

Einer davon ist ein 17-jähriger Junge, den das „Vice“-Magazin Reza nennt, um seine Identität zu schützen. Er war mit seinem Bruder aufgebrochen, ohne seiner Familie Bescheid zu geben; sie identifizierte später, was von seinem Körper noch übrig war. Ein anderer Junge, der bei der Flucht vor der Taliban vom Himmel fiel, ist der 19-Jährige Fußballer Zaki Anwari.

Menschen versuchen, noch an Bord zu kommen. Screenshot: twitter.com/natalieamiri

Zu den Videos und Fotos dieser Jungen kurz vor ihrem Tod sehen wir online weitere Bilder, die einem das Blut gefrieren lassen: hunderte Menschen, die über das Rollfeld des Kabuler Flughafens rennen; Menschen, die eine Treppe hinauf drängen und versuchen, ein Flugzeug zu besteigen, einige hängen außen an einer Passagierbrücke, andere verstecken sich vor dem Start in Turbinen oder flüchten auf das Dach eines Flugzeugs. Später wird man lesen, dass eines dieser Flugzeuge während des Flugs die Fahrwerke nicht einfahren konnte. Es war blockiert von menschlichen Überresten.

Unanständige Gaffer der Gewalt?

Diese Bilder waren mit Sicherheit ein Faktor für den Aufschrei, der durch die westliche Gesellschaft ging, aber mit der notwendigen Sichtbarkeit dieses Horrors stellte sich gleichzeitig die Frage, welche Grenze bei ihrer Verbreitung überschritten wird – oder aber: werden muss.

Können diese Bilder in ihrer Grausamkeit eine empathische Funktion erfüllen? Gibt es so etwas wie einen ethischen Voyeurismus? Dieses Wort, Voyeurismus, in diesem Kontext zu benutzen, ist bemerkenswert. Es rückt das Betrachten des Leids anderer in die Nähe einer Triebbefriedigung und macht aus dem Gezeigten etwas Unanständiges, das man anstandshalber nicht anschauen sollte. Es offenbart unsere Angst, ein unanständiger Gaffer der Gewalt zu sein. Doch wäre es nicht viel unanständiger, die Augen zu verschließen vor dem Horror, den der Westen mit verursacht hat?

„Wer sich ständig davon überraschen lässt, dass es Verderbtheit gibt, wer immer wieder mit erstaunter Enttäuschung (oder gar Unglauben) reagiert, wenn ihm vor Augen geführt wird, welche Grausamkeiten Menschen einander antun können, der ist moralisch oder psychologisch nicht erwachsen geworden“, schreibt Susan Sontag. Und sie erklärt weiter:

„Es gibt inzwischen einen umfangreichen Bestand an Bildern, die es schwieriger machen, in dieser ethischen Mangellage zu verharren. Lassen wir uns also von den grausigen Bildern heimsuchen. Auch wenn sie nur Markierungen sind und den größeren Teil der Realität, auf die sich beziehen, gar nicht erfassen können, kommt ihnen eine wichtige Funktion zu. Die Bilder sagen: Menschen sind imstande, dies hier anderen anzutun − vielleicht sogar freiwillig, begeistert, selbstgerecht. Vergesst das nicht.“

Gleichzeitig gilt der Schaulustige dennoch tatsächlich als gaffend, wenn er sich eben nicht als Betrachter abwendet, aus Respekt oder Schrecken. Es besteht die berechtigte Sorge, dass das schockierte Stieren das Leid trivialisiert. Das Nicht-Hinsehen wird damit zur Verurteilung des Gezeigten.

„Am meistfotografierten und -gefilmten Tag der Weltgeschichte“, schreibt der amerikanische Journalist Tom Junod über den 11. September 2001, „waren die Bilder von Menschen, die springen, die einzigen Bilder, die im Konsens tabuisiert wurden – die einzigen Bilder, von denen die Amerikaner stolz waren, ihre Augen abzuwenden.“

Dennoch, dieses Abwenden ist auch eine Form emotionalen Selbstschutzes, der durch die Fotos und Videos nicht intakt zu bleiben vermag. Dieses elementare Gefühl von moralischer Verletzung, das ausgelöst wird – Fassungslosigkeit, Beklemmung, Traurigkeit, Bitterkeit –, ist auch ein Ausdruck von Naivität in der Beziehung zwischen Bild und Betrachter. Und die Enttäuschung offenbarte in der ihr vorausgehenden Annahme, dass alles eigentlich viel besser laufen müsste, vielleicht auch eine versteckte Hybris. Ertappt bei diesem unbewussten Überlegenheitsgefühl des Westens, setzten die Bilder folglich noch ein weiteres Gefühl frei: Scham.

Die Verletzlichkeit des Körpers

In „The Cruel Radiance: Photography and Political“ argumentiert die Kulturtheoretikerin Susie Linfield ähnlich, wenn sie feststellt, dass der Ruf danach, solche Bilder nicht zu zeigen, weil sie ausbeuterisch seien, auch die unbewusste Sehnsucht nach dem Recht auf Unwissenheit und emotionale Unberührtheit offenbaren.

Die Angst, den oder die Fotografierten für die eigenen emotionalen Zwecke zu missbrauchen, die Anteilnahme zu instrumentalisieren, kann allerdings auch genau andersherum gedacht werden, wenn man mit Emmanuel Levinas Theorien zur Ethik argumentiert. Er schrieb:

„Die Unendlich­keit, die aus dem Antlitz des Anderen zu mir spricht, lähmt meine Macht nicht trotz, son­dern infolge der Schutzlosigkeit des Antlitzes.“

Levinas betrachtet das Gesicht als einen Ort, der unsere Ethik am meisten berührt: durch seine Nacktheit, Vergänglichkeit, Sterblichkeit entwaffnet es uns. Wenn ich in ein Gesicht schaue und eine gemeinsame Verletzlichkeit anerkenne, nimmt mich das Antlitz in die Pflicht, zu handeln.

Bei den Falling Men of Afghanistan sehen wir nicht ihre Gesichter, und wären sie erkennbar gewesen, wären sie aus Pietät und aufgrund der Persönlichkeitsrechte im besten Fall unkenntlich gemacht worden. Dennoch kann man sich nicht gegen die krasse Erkenntnis wehren, dass gerade ein atmender Mensch von einem modernen Fortbewegungsmittel fällt, mit allen damit verbundenen Folgen. Was Levinas beschreibt, wird hier nicht durch ein zerbrechliches Gesicht erzeugt, sondern durch einen zerbrechlichen Körper.

Dazu passt, was Linfield zur Verteidigung des Zeigens erklärt. Über das 9/11-Foto aus New York schreibt sie:

„Erst als ich Drews Bild sah, begann das wahre Grauen des Ereignisses, das nichts mit brennenden Gebäuden und alles mit brennenden Menschen zu tun hatte, meine Erstarrung und meinen Schock zu durchdringen.“

Diese Bilder von Menschen, die in den Tod stürzen, sind in einem nun von den Taliban kontrollierten Land, dessen Informationspolitik sich radikal verändern wird, die letzten und wichtigsten Beweise für das menschliche Leid am Tag der Eroberung von Kabul. Ohne diese Bilder hätte Ingo Zamperoni CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet auch nicht fragen können:

„Hab ich das richtig verstanden: Da klammern sich verzweifelte Menschen an startende Flugzeuge und Ihre größte Sorge ist, dass sich 2015 hier bei uns nicht wiederholt?“

Die Herausforderung ist, in diesem Fall anerkennen zu müssen, dass die Verbreitung der Bilder gleichzeitig unethisch und ethisch sein kann. Sie ist gleichzeitig notwendig für das Schaffen der öffentlichen Wahrnehmung und beutet trotzdem genau dadurch die Dargestellten aus, indem ihr Tod benutzt wird, um unser Entsetzen zu aktivieren und Protest zu mobilisieren.

Vielleicht ist dies eine Auflösung: Wir hören in jenem Moment auf zu gaffen, in dem wir helfen – aber dazu müssen wird den Unfallort betrachten.

28 Kommentare

  1. Wieder ein guter und vor allem wichtiger Artikel!
    Vor allem wenn man daran denkt, dass die lauteste Reaktion darauf direkt wieder die „jetzt kommen wieder Flüchtlinge, 2015 darf sich nicht wiederholen“ war.

    Es ist tatsächlich unglaublich schwer sich da menschlich richtig (oder zumindest nicht falsch -unmenschlich/zynisch) zu verhalten.
    Ja wir brauchen solche Bilder um zu verdeutlichen welches Unrecht und Leid sich dort abspielt, denn nur Berichte (audio&Text) können das kaum richtig transportieren.
    Aber natürlich muss auch hier Maß gehalten werden. Zuviele solcher Schreckensbilder wirken eher abstumpfend als aufrüttelnd.

    Ich spreche da aus eigener Erfahrung. Habe mich jahrelang im Darknet bewegt da mich die menschlichen Abgründe interessiert haben. Nach unzähligen Artikeln was Menschen alles grausame machen und meinem damals noch naiven Denken „das ist doch nicht möglich das ist fake“ habe ich in diesen Untiefen grausamstes gefunden. Und die anfängliche Bestürzung und Meinung „da muss doch was getan werden“ wichen bald einer Hilflosigkeit und kurze Zeit später Abgestumpftheit.

    Umso besser finde ich auch hier die Aufarbeitung mit den Bildern und dem entsprechenden Kontext.

    Und den letzten Satz ist so gut der muss einfach nochmals wiedergegeben werden:
    „Vielleicht ist dies eine Auflösung: Wir hören in jenem Moment auf zu gaffen, in dem wir helfen – aber dazu müssen wird den Unfallort betrachten.“
    Besser kann man es doch gar nicht sagen und es lässt sich auf jedes schreckliche Ereignis anwenden das Gaffer anzieht. ZB Autounfall, Leute werden geschlagen, etc.

  2. Hatten „wir“ die Diskussion hier nicht schon mal bei dem toten Jungen im Mittelmeer, der da angespült wurde? (ja)
    Meinte Laschet das etwa mit „2015 darf sich nicht wiederholen“? (nein)

    Der große Unterschied: Der Junge 2015 hatte keinen Arbeitsvertrag mit einem deutschen Ministerium, da konnte man als Politiker noch gefahrlos Betroffenheit heucheln.

    Schaut euch mal an, was Marcus Grotian vom Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte dazu zu sagen hat:
    https://www.youtube.com/watch?v=In8ZmBM5_As (Bundespressekonferenz von vorgestern)

    Mir ist ganz real schlecht geworden. Und kann selbst als KDV das Trauma der Soldaten nachfühlen. Seitens der afghanischen Ortskräfte ist ja eh bald keiner mehr am Leben, der noch ein Trauma haben könnte.
    Mir war mein Heimatland schon oft peinlich, aber das hier sprengt meinen Vorstellungsrahmen.

  3. Nach dem 31.08. wird es aus Afghanistan – so fürchte ich – kaummehr bebilderte Berichte geben. Brutalität und willkürliches Morden finden dann hinter den geschlossenen Grenzen des zum Gefängnis gewordenen Afghanistan statt. Die Diplomatie wird, was sich in der Bevölkerung abspielt, schönreden können.

  4. Ich schwanke zwischen Zynismus und Entsetzen, auch ohne mir die Bilder anzusehen.
    Spiegelneuronen haben Vor- und Nachteile. Einerseits erwecken sie Mitleid und Hilfsbereitschaft, andererseits führen sie dazu, dass manche kein Blut oder keinen offenen Bruch sehen „können“, und verhindern geradezu die Hilfsbereitschaft.

  5. Der Text baut einen Widerspruch auf, den er nicht auflöst. Vorhang zu, Fragen offen. Das gefällt mir sehr. Denn der Widerspruch ist in der Wirklichkeit, nicht (nur) in ihrer medialen Reflexion.

    Ich wünschte mir, El Ouassil nebst Kollegenkreis würden diese Dialektik auch bei anderen Themen beherzigen und ihre Analysen nicht so häufig auf moralische Eindeutigkeit bürsten.

  6. Ich glaube, ich bin zu doof für diese regelmäßige „Wochenschau“ von Samira El Ouassil. Irgendwie komme ich damit nicht zurecht. Mich stört dieses ellenlange Zitieren von bekannten Intellektuellen. Dieses Mal sind es Susan Sontag, Tom Junod, Susie Linfield und Emmanuel Levinas. Na gut, bekannt ist mir eigentlich nur Susan Sontag. Ach, Ingo Zamperoni wird auch zitiert. Den kennt fast jeder Deutsche. Was aber hat uns Samira El Ouassil zu sagen?
    Ihr Stil erinnert mich ganz stark an die preisgekrönte und hochgelobte Carolin Emcke. Die zu lesen ist anstrengend. Was mir als Geschwafel erscheint, halten Schlauere für hochgeistig. Ebenso ergeht es mir mit Samira El Ouassil. Die schreibt ja nicht nur hier, sondern auch im „Spiegel“ und wirkt an einem Podcast mit. Bei Anne Will war sie auch schon. Sie muss also systemrelevant sein. Nur ich habe es nicht begriffen.
    Ich bin gerne Abonnent von Übermedien. Aber nicht wegen Samira El Ouassil.

  7. #5: „andererseits führen sie dazu, dass manche kein Blut oder keinen offenen Bruch sehen „können“, und verhindern geradezu die Hilfsbereitschaft.“

    Ich verstehe – denke ich–, was Sie meinen. Allerdings halte ich eine solche Einstellung für eine Ausrede. Ich muss bei einem Unfall mit Schwerverletzten nämlich gar nicht in die erste Reihe stürmen und mit lebensrettenden Maßnahmen loslegen. Ich kann auch den Krankenwagen anrufen und dann dafür sorgen, dass die Helfenden ausreichend Platz um sich herum haben, um den/die Verletzte/n zu versorgen.
    Ich weiß das, weil ich auch kein (fremdes) Blut sehen kann und einen schweren Unfall live miterleben musste. Mein großes Glück war, dass im Auto hinter mir ein Arzt saß und der Frau sofort helfen konnte. Ich habe den Rettungsdienst angerufen und den Arzt so gut unterstützt, wie es eben ging (eine Decke bringen, den Notarzt zum Opfer lotsen, sowas). Mehr konnte niemand von mir verlangen, und mehr war zum Glück auch nicht nötig.
    Wer da nur gafft, kann sich auf rein gar nichts berufen, sondern handelt gegen jeden Anstand.

    Soweit jedenfalls zum Grundsätzlichen. In Bezug auf das afghanischen Volk ist die Sachlage komplizierter. Hier kann jetzt jede/r Einzelne entweder den Flüchtlingen helfen oder eine Organisation unterstützen, die das tut. Wer einen Weg sucht, wird einen finden.

  8. „Ich verstehe – denke ich–, was Sie meinen. Allerdings halte ich eine solche Einstellung für eine Ausrede.“
    Jein. Es ist ja keine Einstellung, die ich einnehme, sondern ein Zwiespalt, in dem ich stecke.

    Es soll eine Erklärung sein, warum ich mich hin-und-hergerissen fühle. Wie gesagt, schon ohne die Bilder, die das nur verstärken würden.
    Die jetzige Katastrophe ist zugleich ein Argument für die, die immer gegen den Einsatz waren, weil er ja nichts gebracht hat, wie für die, die für den Einsatz sind und ihn weiter führen würden.

  9. Dinge, die mit einem gewissen räumlichen Abstand zu dem „Hier“ passieren, werden auch emotional mit einem größeren Abstand aufgenommen. Dinge, die „nur“ medial erfahren werden können, verdienen also, zumal in einer globalisierten Welt, eine sorgsame Verstärkung.
    Sollte man zumindest meinen.
    Das Phänomen „Gaffer“ wiederum beschreibt eine Handlung/Geisteshaltung/Soziopathologie(?), die beobachtbare Schäden verschuldet und irgendwie anerkannt „gruselig“ anmutet.
    Eines der wenigen Medienkultur Seminare, die ich besucht habe, behandelte das Thema „Gewaltdarstellung in den Medien“.
    Wenn man dem Zuschauer Gewalt anschaulich machen will,
    dann heisst das eigentlich, ihn diese erlebbar zu machen.
    Ein Beispiel, wie man das exemplarisch nicht macht, war die US-Trash Serie das „A-Team“. Tonnen an Kriegsgerät, Explosionen und MG-Salven in inflationären Ausmassen, aber keine Effekte. Menschen fliegen getroffen durch die Luft, schütteln sich den Staub ab und weiter gehts.
    Ein klassisches Gegenbeispiel ist Buñuel „der andalusische Hund“.
    Der Regisseur macht die Gewalt so drastisch erlebbar, dass der Film nur diejenigen zur Nachahmung verleiten kann, die einen pathologischen Mangel an Empathiefähigkeit sowieso schon mitbringen.
    Er lässt die „anderen“ verstört und die Gewalt noch mehr ablehnend zurück.
    Ich glaube nicht, dass die Bilder für sich ein Problem darstellen, sondern die Motive, aus denen sie gefertigt und/oder gezeigt werden ( es sind ja häufig smartphone Aufnahmen von Zeugen ).
    Und wieder muss dabei auch das kapitalistische Wertesystem gedacht werden, bei dem Bilder immer auch eine Ware sind.
    Bei der Opfer geschädigt werden, ja Opfer erzeugt werden, um an diese Ware zu kommen.
    Man muss also teilweise auch (notwendige) Bilder unterschlagen, um einen Dammbruch der Schreckensjunkies zu verhindern.
    Danke an Samira El Ouassil.
    Wieder ein Beitrag, der mich zum Nachdenken provoziert hat.
    Anderes als andere hier, weiß ich auch die sorgsame Einordnung des Geschriebenen anhand von klug ausgewählten Zitaten zu schätzen.

  10. „Warnung: In diesem Beitrag geht es um den Tod von Menschen.“

    Dieser Einstieg ist frivole Satire. Angemessen?

    Geht es in Wirklichkeit nicht darum, den Tod von Menschen zu zeigen (oder auch nicht)?

    Die Analogie von den Menschen, die aus dem World Trade Center springen, und die von Flugzeugen in Kabul fallen, liegt nahe. Inhaltlich und ästhetisch. Beide Ereignisse sind ja auch tatsächlich miteinander verbunden.

    Und doch ganz anders.

    In NY hatten die Menschen nur noch die Wahl zwischen verschiedenen Todesarten. Vor die Wahl wurden sie von saudi-arabischen Teroristen gestellt.
    In Kabul ist es eine Massenpanik, die zum Selbstmord führt. 10.000e, die ausharren, werden dagegen ausgeflogen. Was die Panik auslöste, könnte eine lange Analyse vertragen. Den unmittelbaren Tod am Flughafen jedenfalls bringen Tage später vergleichbare Kräfte wie in NY.

    Ich kann in allen drei Fällen nicht unmittelbar helfen. Disqualifiziert mich das, diese Realität auch optisch zur Kenntnis zu nehmen?

  11. #9: Ich habe den Eindruck, Sie schwanken gar nicht, sondern oszillieren. Will sagen, beide Gefühle existieren nebeneinander und mal gewinnt das eine, mal das andere die Oberhand. So geht es sicher vielen derzeit.

  12. @#12 So geht es ganz sicher sehr vielen Menschen aber nicht nur zur Zeit. Bei Berichten von fremden weit entfernten Orten in denen es vielleicht auch noch um Menschen aus einem fremden Kulturkreis geht, kann man ja nur beurteilen was andere (Reporter, Augenzeugen Beteiligte, etc) einem berichten.
    So kann man sich ja auch gar kein eigenes Bild machen sondern ist auf die Bilder (Sichtweisen) anderer angewiesen. Und daher ist die eigene Meinungsbildung natürlich deutlich erschwert. Es fehlen oftmals auch zuviele Kontextfaktoren.
    Dadurch kann es schon, des öfteren, zu einem Meinungswechsel kommen wenn man neue Argumente oder Sichtweisen erhält.

    @11 Ich verstehe leider nicht inwiefern sie das disqualifizieren sollte.
    Wenn man wie in dieser Situation keine Möglichkeit hat zu helfen (Arme Menschen mit hartem Beruf haben zb keine Zeit und kein Geld um zu helfen) ist das ja weder ein Grund sich diese Bilder nicht anzusehen, noch die Debatte darüber zu scheuen.
    Wenn man dann anfängt andere die dort tätig sind oder anders involviert zu belehren was denn falsch läuft, dann fängt man an sich dafür zu disqualifizieren.
    Meiner Meinung nach sind solche Bilder gut dazu geeignet Empathie zu wecken, sodass man vielleicht beim nächsten Gespräch über Asylsuchende ein wenig mehr Verständnis aufbringen oder anderen aufzeigen kann.

  13. @13 &@14
    Hatte den letzten Satz so interpretiert: Nur wer hilft, ist kein Gaffer.

    Da ich in den geschilderten Fällen nicht helfen kann (ist ja alles in der Vergangenheit) und kein Gaffer sein will, bin ich beim Hinschauen disqualifiziert.

  14. @Sid:
    Dann oszilliere ich eben. Aber eben schon ohne Bilder. Der obige Artikel handelt von einem etwas anderem Dilemma als dem, das ich als Zuschauer/Hörer/Leser habe.
    Das Dilemma aus Sicht der Medien ist: „Ist es ethisch, keine Bilder von Menschen zu zeigen, die sterben, weil wir sonst genau mit dem Tod dieser Menschen Klicks und Umsätze generieren, oder ist es ethisch, diese Bilder _doch_ zu zeigen, weil wir so Mitleid und Hilfsbereitschaft für die generieren, die noch leben und so vllt. gerettet werden?“
    Aber ich arbeite halt nicht bei den Medien und habe daher einen anderen Blick auf die Frage.

  15. Absurderweise entsteht durch Abstraktion ein schönes Bild: Wenn etwas „oszilliert“ zwischen Polen oder Extremen erzeugt das ein Spannungsfeld.
    Und vielleicht gilt es das einfach mal auszuhalten.
    Kein Persilschein und kein Tabu.
    Eigentlich wissen wir ja alle, was verkehrt ist und aus welcher Motivation heraus es das ist.

  16. „Wer hinschaut und dann nicht hilft, ist ein Gaffer.“ So würde ich es interpretieren. Und da kann ich nur (gaffend) zustimmen.
    Die Frage ist ja, wie man damit umgeht, wenn jemand einem den Spiegel der Untätigkeit vorhält. Ob man sein eigenes Handeln in Frage stellt oder sich pauschal „disqualifiziert“ fühlt.
    Eins von beidem nimmt einem jedenfalls die Eigenverantwortlichkeit des Handelns ab.

    (Mich erinnert das an die „Fleischkonsum“ vs. „Massentierhaltung“ Debatte. Sich von dem Hinweis auf Tierleid angegriffen zu fühlen, nimmt einem die Verantwortung ab, selbst etwas zu tun, sei es auch nur, das eigene Konsumverhalten zu überdenken.)

    Vielleicht interpretiere ich da auch zu viel rein.

  17. #19
    Anderer Max, heißt das dann aber nicht: Da ich in der Mehrzahl der Fälle nicht helfen oder irgendwie Einfluss nehmen kann, sollte ich das Elend dieser Welt schlicht nicht zur Kenntnis nehmen (denn lt. Samira El Ouassil ist alles andere Voirismus/Gaffertum).

    Und zurück zur eigentlichen Fragestellung – was sollen Medien zeigen dürfen?

    Da eine Zensur nicht stattfindet: Alles (Verletzung von Persönlichkeitsrechten etc. natürlich ausgenommen).

    Ist das nicht eine ureigene journalistische, redaktionelle Entscheidung: Was will ich zeigen?
    Und ist es nicht genauso die Entscheidung des Medienkonsumenten: Darauf will ich verzichten?

    Was meinen guten Geschmack verletzt, kann ja beim nächsten Konsumenten anders sein.

  18. Naja, ich denke helfen könnte man durchaus auf vielfältige Art und Weise, aber man entscheidet sich da aktiv gegen. (Ich schließe mich da auch ein).
    Das „Zur Kenntnis nehmen“ passiert ja vor dem helfen / nicht helfen.
    Und die Bewertung „Gaffer“ nimmt ja die Autorin vor, ist also auch nur eine Meinung. Das Wort „disqualifizieren“ passt da einfach nicht, finde ich.

    Und ja, die Fragen die Sie stellen, würde auch ich stellen. Aber die Antwort „Alles“ und „Man kann ja weggucken“ würde ich nicht nicht pauschal geben, vor Allem nicht in so Grenzbereichen wie der Zurschaustellung von Tod und Leid.

  19. Interessant finde ich in diesem Zusammenhang, in wie weit das Chaos am Flughafen durch die Taliban bewußt herbeigeführt worden war, wie der Fotojournalist und Pulitzer-Preisträger Massoud Hossaini andeutet. Und in wie weit sich die Informationsstrategie der Taliban durchgesetzt hat. (Hier das Interview:
    https://beta.ardaudiothek.de/episode/mediasres/fotojournalist-massoud-hossaini-die-taliban-haben-mir-alles-genommen/deutschlandfunk/92397160 )

    Das wirft bei mir die Frage auf, in wie weit der Kontext eines Bilds oder Video dazu beitragen kann die Gedanken des Artikel weiter zu ordnen.

  20. Nach etwas mehr Oszillieren – was soll man machen?
    „Wer guckt ohne zu helfen, ist ein Gaffer.“ – „Das Unglück passiert nicht, wenn ich daneben stehe und nichts tute, sondern ist eine Aufzeichnung.“ – „Wer sich das ansieht, und nicht aus der Ferne versucht zu helfen, ist trotzdem ein Gaffer.“ – „Dann gucke ich halt nicht hin.“ – „Wer wegguckt, aber trotzdem nicht hilft, ist nicht besser als ein Gaffer.“ – „Alles klar, bei der Wahl demnächst wähle ich die Partei, die für eine Wiederaufnahme des Einsatzes in Afghanistan ist.“ – „Dann machst Du Dich mitschuldig an zivilen Opfern durch den nächsten Drohnenkrieg.“ – „Dann spende ich an eine zivile Organisation.“ – „Das kommt doch nie an.“ – „Ok, was machst DU denn, um zu helfen?“ – „Ich poste Filmaufnahmen und Fotos, um die Hilfsbereitschaft zu erhöhen.“

  21. „Ich fühle mich angegriffen von der moralischen Beurteilung einer Web-Kolumnistin“ – „Aber das muss du doch gar nicht“ – „Ich will aber, damit ich mir die moralische Unterstellung erst gar nicht anschauen muss, sondern auf der Meta-Beleidigten-Ebene bleiben kann.“ – „Aber das karikiert ja die eigentliche Aussage“ – „Mag sein, aber ich kann mein (Nicht-)Handeln so rechtfertigen, ohne mich schlecht fühlen zu müssen“ – „Das ist ja einfach“ – „Ja, so wie Beten für Flutopfer“ – „Hilft nicht, aber fühlt sich besser?“ – „Exakt!“ – „Ist das nicht sehr unmoralisch?“ – „Sie wollen ja auch nur moralisieren!“

  22. @#27:
    Das hat nichts mit „Fühlen“ zu tun.
    Entweder, das soll eine moralische Unterstellung sein, und dann bin ich mitgemeint, als Person und als Mitglied eines der Staaten, die den Afghanistanabzug zu verantworten haben, oder es soll keine sein, dann _bin_ ich tatsächlich nicht angegriffen, aber das scheinen Sie selbst auch nicht anzunehmen, von daher verstehe ich Ihr Argument nicht.

    Für Flutopfer tue ich mehr als beten. Aber wahrscheinlich mache ich das nur aus Bequemlichkeit, da ich dazu nicht nach Afghanistan muss, und wegen Schuldgefühlen.
    *Schulterzuck*

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