Doku-Reihe „Unterwegs im Westen“

Der WDR und die „jüdischen Wurzeln“

Rachel Patt in der WDR-Doku-Reihe „Unterwegs im Westen“
„Wie jüdisch ist Deutschland?“: Rachel Patt recherchiert in der WDR-Doku-Reihe „Unterwegs im Westen“ Screenshot: ARD-Mediathek

Die Idee klingt nicht unbedingt schlecht: Die junge Reporterin Rachel Patt will in der WDR-Doku-Reihe „Unterwegs im Westen“ laut Beschreibung des Senders herausfinden, „wie viel jüdische Identität“ Deutschland habe, wie „jüdische Menschen hier repräsentiert werden“ und „wie sichtbar jüdisch sein“ ist.

Zu diesem Zweck geht sie von sich selbst aus: Sie hat nach eigenen Angaben einen jüdischen Großvater, den sie aber nie kennengelernt hat. So besucht sie zu Beginn den jüdischen Teil ihrer Familie in Amsterdam. Zu sehen ist eine gemeinsame Schabbatfeier am Freitagabend.

Dabei erfährt man aber für einen deutschen Kontext erstaunlich wenig über die Beziehung der Reporterin zu dem, was sie selbst immer wieder „jüdische Wurzeln“ nennt: Wieso kannte sie ihren Großvater nicht? Wie hat er – sofern er alt genug war – die Shoah überlebt? Wann hat ihre Großmutter ihn kennengelernt? Wieso gingen die „jüdischen Wurzeln“ der Familie unter – und was hat das alles mit Deutschland und der deutschen Geschichte zu tun?

Die Reporterin gibt gleich zu Beginn an, das Thema Judentum in Deutschland „mal nicht mit Samthandschuhen“ anpacken zu wollen. Womit sie suggeriert, dass dies ansonsten geschehe. Doch statt harten Fakten oder tiefschürfender Recherche gibt es zunächst nur ein bisschen Oberflächen-Folklore mit Kerzen anzünden und Challah (ein traditionelles Schabbat-Hefezopfgebäck) brechen.

Flapsig statt interessiert

Was Patt mit „nicht mit Samthandschuhen“ offenbar meint, ist leider zu oft nur eine Flapsigkeit im Ton. Bereits während des Schabbat-Essens übersetzt die deutsche Synchronstimme einen ihrer Verwandten mit den Worten „aber wir gehen nicht immer zur Messe in die Synagoge“. Nun ist die Heilige Messe der Gottesdienst der katholischen Kirche (abgeleitet von der Schlussformel der lateinischen Liturgie „Ite, missa est!“). Jüdinnen und Juden feiern aber keine „Messen“, empfinden diese begriffliche Christianisierung zumeist als übergriffig.

Auf Nachfrage von Übermedien versteht der WDR das Problem gar nicht, sondern gibt an, es handle „sich um die wörtliche Übersetzung eines O-Tons des niederländischen Verwandten der Autorin“. Doch was sagt dieser im O-Ton? „We don’t always go to Shul”, wobei das jiddische Shul als Synonym für Synagoge (mit demselben Wortstamm wie Schule) diese historisch eben auch als Lernort kennzeichnet. Keine „Messe“ nirgends, aber im katholischen Köln am Rhein hält man offenbar jeden Gottesdienst für eine solche und alles andere für Karneval.

Nachtrag/Korrektur, 16:40 Uhr. Laut WDR hat der Verwandte wörtlich gesagt: „We don’t always go to the Shul, to the synagogue, to the Messe”. In der nachvertonten Version mit Übersetzung ist das nicht klar zu hören. Der WDR meint, die Formulierung zeige, „dass die jüdische Familie der Autorin, die nicht streng religiös lebt, selbst nicht immer ganz firm mit den entsprechenden Begrifflichkeiten ist.”

Möglich ist das. Möglich ist allerdings auch, dass der holländisch sprechende Verwandte das entsprechende deutsche Wort suchte, damit seine deutsche Besucherin versteht, was er meint. In jedem Fall wäre es nötig gewesen, die Begriffsverwirrung im Film zu thematisieren, um nicht das deutsche Publikum einfach in dem Glauben zu lassen, Juden feierten „Messen“.

So schnodderig geht es dann leider weiter: Beim Spaziergang über eine Ausgrabungsstätte zur jüdischen Geschichte Kölns textet Patt lapidar: „Nach dem 2. Weltkrieg waren es dann über 80 Prozent Jüdinnen und Juden weniger in Deutschland.“ No shit, Sherlock – und wo sind sie hin?

Ganz ehrlich, so geht es einfach nicht: Natürlich kann und soll man das Thema für ein junges Publikum aufbereiten. Aber gerade angesichts der immer wieder diskutierten eklatanten Wissenslücken zum Thema Shoah bei jungen Menschen kann man nicht einfach 30 Minuten lang darüber reden „wie jüdisch Deutschland ist“, ohne eine explizite Auseinandersetzung damit zu führen, dass die Deutschen zwölf Jahre lang damit beschäftigt waren, ihre jüdischen Nachbarn zu entrechten, auszuplünden, zu vertreiben und zu ermorden – ohne Samthandschuhe.

Wer auch immer aus welchen Gründen auch immer einen Film über „jüdische Identität“ in Deutschland macht, kann sich nicht davor drücken, dafür eine Erzählung zu finden. Dieser Film aber versucht es leider ohne – und Sätze wie der oben zitierte sind das Ergebnis. Die waren halt einfach weg, die 80 Prozent.

Bis wann gab es die UdSSR?

Anschließend wird es nicht besser: Mehr Jüdinnen und Juden, erfahren wir, kamen erst wieder nach Deutschland, „als um die 2000er rum die Sowjetunion zerfallen ist und jüdische Menschen wegen dem Religionsverbot da fliehen mussten. Deutschland hat sich dann gedacht, da nehmen wir ein paar von auf“. An diesen Sätzen, die immerhin durch die redaktionelle Abnahme der größten öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt des Landes gegangen sind, stimmt: einfach nichts.

First things first, löste sich die Sowjetunion nicht „um die 2000er“ auf, sondern am 21. Dezember 1991. Ab 1991 hatten daher Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten die Möglichkeit, als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland einzuwandern. Mit dem kommunistischen Religionsverbot der alten Sowjetunion hatte diese Zuwanderung nichts (mehr) zu tun.

Die ehemals sowjetischen Jüdinnen und Juden wurden als „jüdische Zuwanderer“ bezeichnet, eine Symbolpolitik, die der jüdischen Migration nach Deutschland nach der Shoah einen rechtlichen Rahmen geben sollte. Zumal man in derselben Zeit eine ungleich größere Zahl sogenannter „Spätaussiedler“, also deutschstämmiger Menschen aus der ehemaligen UdSSR, einwandern ließ. Wer über diesen ganzen Zusammenhang etwas wissen will, aber keine Lust auf Geschichtsbücher hat, kann zur Recherche zum Beispiel Wladimir Kaminer lesen.

Die Autorin und die jüdischen Namenslisten

Wenig später kommt es dann zu einer Szene, die auf Twitter für lautstarken Protest verschiedener Journalist:innen und jüdischer Menschen sorgte: Patt verfolgt die fixe Idee, sie könne anhand von Namen oder anderen Merkmalen herausfinden, „wie jüdisch Deutschland ist“, wie viele Menschen in Deutschland „jüdische Wurzeln“ haben.

Dafür ruft Patt „wild aus dem Telefonbuch“ Menschen mit Nachnamen wie Fleischer, Stein oder Lustig an und fragt sie, ob sie Juden seien. Die Namen hat sie auf einer Liste stehen. Im Film wird nicht deutlich, wie Patt zu dieser Liste mit Namen kommt. Auf Nachfrage von Übermedien gibt der WDR an, Patt habe diese Liste anhand eines Wörterbuchs für deutsch-jüdische Nachnamen des Berliner Briefträgers und Hobby-Forschers Lars Menk erstellt.

Der Journalist der „Frankfurter Rundschau“ Hanning Voigts twitterte zu Patts Telefon-Recherche:

Wenn du einen Film über „jüdische Wurzeln“ in Deutschland planst (warum auch immer) und auf die Idee kommst, einfach random Leute mit für dich jüdisch klingenden Namen anzurufen, am besten kurz innehalten und jemand fragen, der dir diesen Wahnwitz dann ausredet.

Die jüdische Bloggerin und Kolumnistin Jenny Havemann parodierte die skurrile Szene gleich mit einem eigenen Video, in dem Sie fiktiv „Frau Müller“ anruft, um zu fragen, ob sie eigentlich deutsche Wurzeln habe:

Julia Stallinger, die eine Radiosendung zu jüdischem Leben und Kulturgeschichte moderiert, fasst zusammen:

Sehe gerade eine Doku vom WDR zum Thema „jüdische Wurzeln“ und eine Frau macht eine „Telefonrecherche“ & ruft bei Leuten an, deren Namen sie als jüdisch liest, um sie nach ihren jüdischen Wurzeln zu befragen. Auf der Suche nach jüdischen Stereotypen wäre der bessere Name gewesen.

Der „Wahnwitz“, von dem Voigts spricht, besteht hier auf mehreren Ebenen: Zum einen ist natürlich schon der Ansatz, über Namen Jüdinnen und Juden zu suchen, reichlich abenteuerlich. Wie Patt an sich selbst schildert, steht dieser Genealogie von vornherein im Weg, dass sich Namen mit der Hochzeit ändern. Insbesondere für eine Zugehörigkeit zum Judentum, die im religiösen Judentum von der Mutter weitergegeben wird, eine hohe Hürde für Mischehen, in denen klassischerweise der Name des Mannes angenommen wurde.

Zum anderen aber nahmen viele Jüdinnen und Juden besonders „deutsche“ Namen an, um dem Antisemitismus zu entkommen. Gleichzeitig gab es Nazi-Größen wie Alfred Rosenberg mit vermeintlich „jüdisch“ klingenden Namen. Vor allem aber sollte man sich angesichts der deutschen Geschichte schlicht davor hüten, jüdische Namenslisten zu erstellen.

Warnungen in den Wind geschlagen

Bizarrerweise warnt der Vizepräsident des Zentralrats der Juden, Abraham Lehrer, die Reporterin Patt nur Minuten vor dieser Szene exakt davor: Schon ihn fragt sie nämlich, ob es nicht Verzeichnisse gäbe, wer Jude sei und wer nicht, wer eine jüdische Großmutter habe und wer nicht und so weiter.

Daraufhin antwortet Lehrer:

Ich sage jetzt mal ganz krass: Gott behüte gibt es keine Listen. Stellen Sie sich vor, es gäbe irgendwo in unserer guten Republik Listen, die dazu missbraucht werden könnten, Angriffe gegen jüdische Menschen zu starten.

Patt nickt wissend dazu und sagt immer wieder „ja“. Um dann buchstäblich im nächsten Augenblick des Films eine Liste anzufertigen und abzutelefonieren.

Es ist also keineswegs so, dass sie niemanden gefragt hätte, der es ihr hätte ausreden können, wie Hanning Voigts meint. Nein, sie macht es, obwohl der Vizepräsident des Zentralrats der Juden nolens volens versucht hat, es ihr auszureden. Um es mit einem jiddischen Bonmot zu sagen: Die Chuzpe muss man haben.

Der WDR verkennt das Problem

Was aber sagt der Sender denn nun zu all der Kritik? Auf Anfrage von Übermedien heißt es dazu: „Die verfilmte Recherche will zeigen, in wie weit jüdische Geschichte viel weiter in der deutschen Gesellschaft verankert ist, als dies der Allgemeinheit und den Einzelnen teilweise bewusst ist. Alle Angerufenen wurden vor der Aufzeichnung über den Mitschnitt und über eine mögliche Veröffentlichung informiert.“

Dabei hat die Doku durchaus starke Momente, zum Beispiel eine Straßenszene mit dem jüdischen Berliner Rapper und Antisemitismus-Coach Ben Salomo, bei der Patt bemerkt, dass sie selbst einen Davidstern fälschlicherweise als „Judenstern” bezeichnet – eine Erfindung der Nazis. Auch ihre Besuche eines Antisemitismus-Workshops in einer Schule oder einer Synagoge sind sehenswert und aufklärerisch. Doch die Antwort des WDR auf vielstimmige und vor allem auch jüdische Kritik ist unzureichend.

Immer stärker sind die Sender in den letzten Jahren ausgehend von YouTube-Trends der Idee verfallen, der oder die Reporter:in müsse unbedingt seine oder ihre eigene Geschichte erzählen, müsse permanent vor der Kamera stehen und mehr oder weniger schlaue Gedanken direkt zum Publikum sprechen – die jungen Leute wollen es angeblich so. Das kann funktionieren, weil das Publikum emotional besser folgt, aber Sprechblasen ersetzen eben keine fundierte Recherche.

Denn während der Journalist Tilo Jung in „Jung und Naiv“ vor der Kamera lediglich naiv tut, in Wirklichkeit aber top vorbereitet ist, scheitert hier eine Autorin, die ein durchaus legitimes Anliegen verfolgt, an der mangelnden handwerklichen Betreuung durch ihre Redaktion. Nicht die Ergebnisse von Patts Recherche sind das Problem, sondern dass sie schlicht zu wenig recherchiert hat, dass sie nach Bauchgefühl agiert, statt simpelste Fakten wie die jüdische Einwanderungsgeschichte nach 1991 auf dem Kasten zu haben. Und kein:e Redakteur:in irgendetwas davon merkt.

Im Gegensatz zu einigen auf Twitter bemerken die Youtube-Nutzer:innen die Fehler leider auch nicht. Die Kommentare sind wohlwollend, alle glauben, sie hätten viel gelernt. Und vielleicht ist das sogar so. Aber dem Qualitätsanspruch des Westdeutschen Rundfunks kann dieser Maßstab nicht genügen.

11 Kommentare

  1. Das ist ja grauenvoll, was der WDR hier zum Judentum zusammenphantasiert.
    Ein Hinweis an Autor Reisin: Leider haben die Nazis bei ihrem Völkermord keinen verschont, auch nicht wegen seines Alters. ( „Wie hat er [der Großvater] – sofern er alt genug war – die Shoah überlebt“). Niemand war zu jung (oder zu alt).

    Davon abgesehen ist das auch eine tendenziöse Verkürzung des Judentums, wenn einem bei jedem jüdischen Menschen als allererstes die Frage einfällt: Wie hat die/der denn die Shoah überlebt?

    Glücklicherweise ist Hitler ja trotz des unfassbaren Ausmaßes des Völkermords die „Vernichtung des Judentums“ nicht gelungen, weil z.B. viele außerhalb des Machtbereichs des Deutschen Reichs lebten (auch in der Sowjetunion) oder dorthin fliehen konnten. Manche konnten sich auch verstecken, manche waren durch ihre christlichen Ehepartner geschützt, manche sind durch die Maschen geschlüpft, und manche haben auch die Lager überlebt.

  2. @Jochen: Das ist ein Missverständnis. Es besteht angesichts des Alters der Autorin schlichtweg die Möglichkeit, dass ihr jüdischer Großvater erst nach 1945 geboren wurde, nicht, dass die Nazis irgendwen wegen des Alters verschont hätten.

    Den anderen Schuh der tendenziösen Verkürzung ziehe ich mir als Angehöriger einer deutsch-jüdischen Familie an, allerdings finde ich einfach, wenn ich schon in einem Personality-Format vor der Kamera meine Familie einspanne, um mich zu meinen „jüdischen Wurzeln“ vorzutasten, dann hätte ich wie geschrieben in einem deutschen Kontext einfach gerne eine umfassendere Darstellung dieser Geschichte.

    Das ist ja das Kernthema des Films, warum diese „jüdischen Wurzeln“ hier so unsichtbar sind, und die Erklärung, die der Film zu umschiffen sucht, ist, dass man versucht hat, sie mit Stumpf und Stiel auszurotten, um im Bild zu bleiben. Das ist imo keine „tendenziöse Verkürzung“, sondern der Rosa Elefant im Raum bei dieser Doku.

  3. Gut gedacht ist eben nicht gut gemacht. Das hat ja satirische Züge, das Ganze. Ich hoffe, als deutscher Jude kann man darüber noch lachen. Mir wurde es mulmig bei dem „Ach das nennt man gar nicht Judenstern?“. Alter Falter …
    Man nennt es auch nicht „Reichskristallnacht“, „Sonderbehandlung“ oder „entartete Kunst“. Ja nicht mal „vergasen“, das ist auch was komplett anderes.
    Da kann man aber sehen, wie effektiv die Goebbels-Propaganda vor 80 Jahren tatsächlich war, wenn die Wörter 2022 noch beim WDR geläufig sind und nicht von der Redaktion redigiert werden.
    Gleichzeitig beschweren sich Schüler seit 30 Jahren darüber, „viel zu viel über die Nazizeit“ in der Schule gemacht zu haben, voll langweilig ey, immer das gleiche.
    Anscheinend muss man uns Deutschen die eigene Massenmörder-Vergangenheit wirklich vehement einhämmern, auch wenn wir das nicht hören wollen. Ohne „Schuldkuld“, sondern zur Vorbeugung, sich nie mehr schuldig machen zu müssen. Quasi als Schutz vor uns selbst.

    Anstatt es einfach zu überschreiben:
    Ich habe affektiv von „uns deutschen“ gesprochen. Als ob deutsche Juden nicht deutsch seien / waren. Fuck.

  4. Das scheint mir wieder ein Beitrag zu sein aus der Kategorie „Ohne Niveau an ‚die jungen Leute‘ ranwanzen“.

    Anne Frank hat nicht gereicht, jetzt sind es „die Juden“ in Deutschland. Furchtbar.

  5. #2 Andrej Reisin
    ok, Missverständnis.
    Dann würde ich die Formulierung vorschlagen „…sofern er vor 1945 im Herrschaftsbereich des Deutschen Reichs geboren wurde…“

    Dann kommt aber wieder ein ganz Schlauer wie ich und fragt: Und wie hat die Mutter vom Opa die Shoah überlebt?

    Und klar: Der Boden muss gut bereitet sein und man sich seiner Zuhörer sehr sicher, wenn man zum Thema „Juden in D“ das Thema Shoah ganz ignoriert. Beides ist hier ja ganz offensichtlich nicht Fall. In soweit ziehe ich meine Bemerkung zurück.

  6. Okeee, soviel Merkbefreiung…

    Mich nervt am meisten die Formulierung „wie sichtbar“ Juden seien.
    Weil das nach einer Verschwörung klingt, Juden „unsichtbar“ zu machen.
    Wenn man eine ungefähre Ahnung von der letzten Art der „Sichtbarmachung“ hätte, und warum Juden möglicherweise gar nicht gern sichtbar sein wollen, würde man die Frage niemals so formulieren. Oder ganz weglassen.

    Nebenbei, einfach in der örtlichen Synagoge einen Zettel aufhängen, welche Gemeindemitglieder gerne telefonisch zu ihrem Leben als Juden in Deutschland interviewt werden wollen, ging nicht?

  7. „Nach dem 2. Weltkrieg waren es dann über 80 Prozent Jüdinnen und Juden weniger in Deutschland.“ No shit, Sherlock – und wo sind sie hin?

    Eigentlich würde ich bei dem Satz denken, dass das Wissen um den Holocaust als bekannt vorausgesetzt wird. Oder meinetwegen kritisieren, dass da „2. Weltkrieg“ statt „Holocaust“ gesagt wird.
    Am im Lichte der übrigen Dinge kommen mir selbst da Zweifel.

  8. Zu #7: Ja, und hinzu kommt eben noch, dass „80 Prozent weniger Einwohner“ einfach in diesem Zusammenhang ein krass ungeschickte Formulierung ist (normalerweise würde ich sie als Zynismus deuten, aber in dem Kontext der Doku liegt Gedankenlosigkeit sehr viel näher). Das klingt so, wie wenn man sagt, die Stadt X hat heute Y Prozent weniger Einwohner. Klar, wenn ein paar Weggezogen sind, andere an Altersschwäche oder Krankheit gestorben sind und sich die Geburtenrate gesenkt hat, brauche ich das nicht im Detail aufzuführen, weil es eh klar oder auch ganz egal ist. Sind hingegen alle einem Völkermord zum Opfer gefallen, ist das aber kein irrelevantes Detail, sondern gehört immer dazu, egal ob ich es als bekannt voraussetzen darf oder nicht.

  9. Wenn irgendwo steht, dass eine Stadt nach einem Erdbeben weniger Einwohner hätte, würde man an Leute denken, die dabei gestorben sind oder die Stadt wegen Unbewohnbarkeit verließen, nicht an Geburtenrate. Selbst, wenn man nie zuvor von diesem Erdbeben gehört hätte.

  10. #9 Thomas: Vielen Dank für den Lesetipp! Das ist ein berührender Text. Nazi-Deutschland hat einen Teil von sich selbst zerstört, von dem nicht klar ist, wie er sich kulturell weiterentwickelt hätte. Interessanter Aspekt der Schuld-Diskussion: Selber schuld…

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