Die Top-Youtube-Videos des Jahres

Es gibt keinen Grund, sich das nicht anzuschauen

Ich habe mich gefragt, was wohl die meistgeklickten Youtube-Videos des Jahres 2021 [in den USA*] gewesen sind und war wenig überrascht, dass ich von keinem der drei Youtuber jemals etwas gehört hatte.

Doch ich schäme mich dafür nicht, denn ich komme aus dem Land, das Precht und Sloterdijk und Joko und Klaas als relevante Denker inszeniert, einem Land, in dem die Menschen abends den Oberlehrerkrimi „Tatort“ in Kneipen anschauen, einem Land, dessen Öffentlichkeit sich ereifert, wenn ein Youtuber grundlegende politische Kritik äußert, die dann schön weggequatscht wird, weil das eigentliche Thema natürlich ist: ob der das dürfe. Wie der sich ausdrücke. Und wie der die Haare habe.

Platz 2

In einem solchen Land hat der Star-Youtuber „Dream“ nicht einmal einen eigenen Eintrag auf Wikipedia.de. Sucht man ihn, lernt man: „Dream war eine US-amerikanische Girlgroup, die 1998 nach einem Casting in Los Angeles/Kalifornien gegründet wurde.“ Man kann sich aber auch noch zu D:Ream hinklicken: „D:Ream ist eine britische Pop-Rock-/Synthiepop-Band.“

Den Youtuber Dream wird es wenig stören, dass er im deutschen Hinterwald ignoriert wird, er hat (laut englischer Wikipedia) insgesamt knapp 40 Millionen Follower, seine Videos wurden bislang rund drei Milliarden mal angesehen.

Auf einer Anfang Dezember veröffentlichten Liste der Top-Youtube-Videos 2021 liegt Dream auf Platz 2, momentan hat sein Hit „Minecraft Speedrunner VS 5 Hunters“ gut 60 Millionen Views – und wem man jetzt erklären muss, was Minecraft ist, dem sei geraten, auf die Lektüre des Textes vielleicht doch eher zu verzichten.

Dream hat es hier in einer Spezialdisziplin zu großer Meisterschaft gebracht: Minecraft als Speedrun. Er hat das gemütliche Welten-Aufbauspiel also zu einer hektischen 3D-Jagd umfunktioniert, in einem ähnlichen Spirit, mit dem Skateboarder oder Parcoursläufer sich die urbane Lebenswelt angeeignet und sie dabei umgedeutet haben.

Um die Jagd noch zu würzen, lässt Dream sich im Game von einer Handvoll Kumpels jagen, die ihn killen wollen, ehe er das Endmonster besiegen kann. Die Aufbereitung ist dabei so schlicht wie genial: Man sieht Dreams Spielperspektive, wie er auf der Flucht ist, buddelt, Sachen baut, sich hochlevelt, kämpft, wieder wegrennt. Auf der Tonspur hört man dabei permanent seine Verfolger, die ihn suchen, sich anfeuern, warnen, die ihm sein sicheres Ende prophezeien – ehe Dream dann doch wieder von der Schippe springt.

Allein sein Entkommen in Minute 7:25 ist jetzt schon legendär und wird in den Kommentaren intensiv durchdiskutiert. Das Video ist wie ein klassischer Actionfilm, nur ohne Verschnaufpause. Man kann es dabei mit Dream halten und sich an seinen Skills und überraschenden Moves erfreuen. Man kann aber auch mit den nerdigen Kumpels sympathisieren, die da hinterherhecheln, so wie es jedem von uns wohl ergehen würde. Wer ist gut, wer der Böse? Für wen bin ich? Über solcherlei altbackene Erzählmuster grindet Dream hinweg – wie man vielleicht unter Skateboardfahrern sagt1)Oder aber ich habe mir das jetzt ausgedacht, um trotz uralter Sackhaftigkeit etwas cooler zu wirken..

Platz 3

Direkt hinter Dreams Video in der Rangliste finden wir auf Platz 3 den Krimi unter den Youtube-Videos: Mark Rober (über 20 Millionen Abonnenten) schafft es, in weniger als einer halben Stunde einen echten Kriminalfall aufzuklären, dabei lustig und gescheit rüberzukommen, MacGyvers Basteleien locker in die Tasche zu stecken – und voll der knuffige Schwiegersohntyp zu sein, ohne dass es einem tierisch auf den Senkel geht!

Mark ist dabei nicht nur irgend so ein zufälliger Hansel mit PC, er war tatsächlich früher bei der NASA und hat mit am Curiosity-Rover gebastelt. Heute bastelt er Glitterbomben: Das sind Pakete, die beim Öffnen Glitter und Pups-Spray ausstoßen und mit einer On-Board-Kamera die verdutzten Empfänger filmen. Was natürlich nur deswegen gut ist, weil er diese Bomben an böse Menschen verschickt. In seinem Top-Hit 2021 zielt er auf gewissenlose Scammer (und wenn Sie Leser nicht wissen, was ein Scammer ist, können Sie jetzt ruhig ein paar Christbaumkugeln entstauben gehen).

Diese von Rober aufgedeckten Scammer sitzen in Indien, ihre Opfer sind bevorzugt alte, alleinstehende Menschen. Wie Mark und sein Team es anstellen, die Scammer auszutricksen und ihre Gehilfen in den USA ausfindig zu machen und hochzunehmen, das ist allemal unterhaltsam und macht möglicherweise auch ein bisschen klüger. Klare Watch-Empfehlung!

Platz 1

Die Nummer 1 des Jahres 2021 ist ein Mann (Ja, wieder keine Frau!), der als MrBeast laut Wikipedia bislang 13 Milliarden Views gesammelt hat. Jeder Mensch auf der Welt, der irgendwo draufklicken kann, hat im Schnitt also schon zwei seiner Videos gesehen. Sein Werk vom 27. März 2021 steht aktuell bei etwa 155 Millionen Zugriffen. Darin hat er ebenfalls klassische Filmthemen auf appetitliche zwölf Minuten gebracht: Tod, Männerfreundschaft, durchgeschwitzte T-Shirts. MrBeast, im richtigen Leben Jimmy Donaldson, lässt sich von seinen Freunden – begraben. Lebendig, für 50 Stunden.

Er steigt in einen Sarg, der Sarg ist tief unten in einer Grube, seine Kumpels werfen Sand drauf, ein Bagger kommt. Dann ist von Jimmy erst mal nichts mehr zu sehen. Wie gut, dass er ein Walkie-Talkie dabei hat, der Sarg belüftet und beleuchtet ist und mit einigen Kameras bestückt. Handlung? Natürlich keine, oder eben doch Versatzstücke aus dem guten alten Coming of Age: Wacker wird vor sich hin geblödelt, selbst dem Begrabenen versuchen seine Freunde noch Streiche zu spielen, derweil er allen Menschen da draußen seine Harndrangprobleme erläutert.

50 Stunden im Sarg auf zwölf Minuten kondensiert, es gibt keinen Grund, sich das nicht anzuschauen, es ist nicht viel sinnloser als acht Stunden im Bullshitjob zu schuften. Gegen Ende gibt es sogar Krach und Bumm, ganz wie im Hollywoodfilm.

MrBeast hatte da den Abräumer des Jahres geliefert – bis vor Kurzem. Da überholte er sich selbst. MrBeast hat nämlich mit Hunderten Freiwilligen „Squid Game“ nachspielen lassen (und wenn Sie jetzt nicht wissen, was Squid Game ist… ach).

Die Klickzahlen explodierten auf eben dieselbe Weise, in der es ARD-Quoten nie tun. Derzeit liegen sie bei 187 Millionen. Die Ansage in Richtung der alten Medien ist deutlich: Wer braucht schon aufwändig produzierte Serien, wenn sie sich von einem spätpubertären Frechdachs nachbauen lassen? Youtuber kills the Farbfernseh-Star.

* von uns nachträglich ergänzt

Fußnoten

Fußnoten
1 Oder aber ich habe mir das jetzt ausgedacht, um trotz uralter Sackhaftigkeit etwas cooler zu wirken.

9 Kommentare

  1. #2 Ich auch und manchmal ganz froh darüber.

    Ich mag YT, aber eher wegen der Musicvideos oder des IT Kram.

  2. Als vor etwa 15 Jahren die ersten Stimmen zurecht kritisch anmerkten, dass man die Einschaltquoten, den heiligen Gral der Deutschen Fernsehpartizipation, durch 2000 irgendwo bei deutschen Durchschnittsfamilien real herumstehende Geräte misst und das Ergebnis auf die fernsehende Gesamtbevölkerung extrapoliert, wurde von allen Seiten abgewiegelt – selbst von der blechenden Werbeindustrie. Dass sich Bunte und Co mit Freianweisungen und Gratisexemplaren ihre reale Auflage aufbauschen oder die BILD mit der Behauptung, jede Ihrer Zeitungen werde im Schnitt von 4,3 Personen gelesen, ihre Bedeutung hochlügten, nahm man auch hin. Im Nachhinein kann man drüber lachen denn im Digitalen Zeitalter is alles messbar. Ja, aber in den Zahlen der oben genannten Shows sind ein guter Teil Bots enthalten. Und der intransparente Google Algorithmus pusht natürlich den dementsprechenden größten Scheißhaufen nach vorn, damit noch mehr Fliegen draufsummen. Klar, Google ist hier Contentverwalter und Werbeausspieler in Personalunion und hat auch ein Interesse daran, das zu bleiben. Klassische Strukturen wie TV Content Provider und Werbeagenturen gilt es, aus dieser Perspektive betrachtet, mit einem disruptive Geschäftsmodell zu zerstören. Wir sollten zumindest hinterfragen, ob diese Art von uns zur Verfügung gestellter “Daten” und deren Zustandekommen nicht vielleicht eher ein Zerrbild der Realität darstellen und nicht dieselbige abbildet.

  3. Lieber Klaus Ungerer, ich mag, was und wie Sie schreiben. Ich hab sogar Bücher von Ihnen, große normale und kleine gelbe. Die YouTube-Videos kucke ich mir gerne an, das interessiert mich. Aber bitte kanzeln Sie Ihre Leser nicht ab wegen Dingen, die sie nicht kennen (in diesem Text gleich zweimal). Erklären Sie’s doch einfach. Guten Rutsch!

  4. leckomio.

    ich habe gerade meinen siebenjährigen(!) sohn gefragt, ob er Dream kennen würde. klar. wußte, wie der geschrieben wird und was für videos er macht.

    ich bin sooooo alt… :-(

  5. oh man…jetzt hat er mir sogar erklärt, wie Dream vom turm entkommt.

    ich hasse minecraft. wurde beim bauen von kies verschüttet. unangenehmer tod. nie wieder!

  6. Dream ist ein Cheater und daher ein sehr schlechtes Vorbild für Kinder. Wen’s interessiert, Karl Jobst und DarkViperAU hatten gute Zusammenfassungen zum Thema. Gerade ihn jetzt wieder zu pushen, weil er erfolgreich ist, ist nichts weiter als Gewinnmaximierung.

  7. Lieber Leser Stefan Lind,

    es war doch der letzte Text des Jahres, zwischen allen Jahren! Da will man eigentlich gar nix mehr schreiben, sondern nur Schoki und schlafen. Ich musste also argumentativ etwas abkürzen…

    Herzlich,

    kung

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