Kolumne „Bahnhofskiosk“
In loser Folge gehen unsere Autor*innen zum Bahnhofskiosk, entdecken dort Zeitschriften und schreiben hier (wieder) darüber.
Den „Stern“ gibt es übrigens immer noch. Mich hat das genau so überrascht wie Sie.
Der „Stern“, gehörte er nicht in jede halbwegs aufgeklärte Wohnstube damals, in den Siebzigern und frühen Achtzigern, ehe er sich mit den Hitler-Tagebüchern zum Obst machte? Der „Stern“ war für mich das Fenster zur Welt, einer Welt, von der ich noch nicht ahnte, dass sie von Journalisten konstruiert wird: Oktoberfestattentat, RAF, Startbahn West, Waldsterben, Hunger in Afrika – mit Bildern, die sich tief ins Unterbewusstsein einbrannten.
In loser Folge gehen unsere Autor*innen zum Bahnhofskiosk, entdecken dort Zeitschriften und schreiben hier (wieder) darüber.
Der „Stern“ kam aus Hamburg, er war bunt, aufgeschlossen, informativ und sexy, er war das Zentralorgan der sozialliberalen Siebzigerjahre, damals, als Sozialdemokraten noch ein bisschen sozialdemokratisch waren, und Liberalismus noch von Lobbyismus zu unterscheiden ging.
Kürzlich besuchte ich ein paar Medienjournalisten in ihrem Büro, die Rede kam auf den „Stern“, und vor meinem inneren Auge zogen unklare Bilder von Arztpraxis-Wartezimmern vorbei und Editorialschreibern, die recht bedeutungsschwanger den Betrachter betrachten, vom Schulterzucken beim Durchblättern der Zeitschrift. Der letzte journalistische Coup, der mir vage erinnerlich geblieben ist, bestand aus einem angetrunkenen Politikmännlein, das die Brüste einer „Stern“-Autorin kommentiert hatte, ansonsten war da nichts Relevantes, nicht mal für die Empöriker-Gemeinde auf Twitter.
Wie ich so in Gedanken war, stellte einer der Medienjournalisten die Frage: „Für wen schreiben die eigentlich? Bei allen anderen, bei ‚Focus‘ und ‚Spiegel‘ und so, kann ich mir zumindest irgendwie vorstellen, wen die im Sinn haben. Beim ‚Stern‘ verstehe ich es nicht.“
Das klang nach einer reizvollen Aufgabenstellung, ich schrieb einer der letzten überlebenden Kontaktpersonen, die ich beim „Stern“-Verlag Gruner+Jahr noch kenne, und bat sie, mir ein paar „Sterne“ zuzuschicken. Wie um den eigenen Schwundstufenzustand zu dokumentieren, war sogar eine echte Schwundstufen-Titelstory dabei.
Vor 50 Jahren erschütterte ein „Stern“-Cover die Republik – oder zumindest die seinerzeitige Empörikergemeinde. Eine Vielzahl von Frauen bekannte, nur teilweise geschwindelt: „Wir haben abgetrieben!“ 2021 hat es gerade noch für drei Gesichter gereicht, und welches Bekenntnis schmettern uns deren Besitzer entgegen? Richtig: „Ich bin nicht geimpft.“
Das stimmt mich prächtig ein, den „Stern“, kurz bevor er hinterm Horizont versinkt, noch einmal zu inspizieren.
Bringen wir also zunächst den Müll raus, um das Verbliebene genauer anschauen zu können: Die Aufschlagseiten sind eher nicht mit Story-Titeln bevölkert, sondern mit guten Ratschlägen von unternehmerischer Seite. Man möge sich dieses oder jenes Auto kaufen, möge jenes Duschgel verwenden, möge diesen TV-Sender anschalten (der ökonomisch seit kurzem mit dem „Stern“ zusammengehört), möge, denn auch das gibt es noch, mit Persil waschen („Für eine saubere Welt“), und wenn das alles auserzählt ist, kommt durchaus manch üppige Eigenanzeige, oder die Mitte des Heftes stellt eine eigene Broschüre dar, die uns zum Teppichkauf anhalten will.
Gern werden auch längere Lifestylestrecken geboten, die ein werbefreundliches Umfeld ergeben sollen: Dieses Treiben erreicht seinen Höhepunkt, wenn über Seiten und Aberseiten alle möglichen Kreuzfahrtschiffe auf ihre Nachhaltigkeit (!) hin bewertet werden. Seitenweise werden welche mit 5 von 5 Sternen aufgelistet, danach dann kommen die nicht ganz so perfekten: nur 4 von 5 Sternen. Na, dann mal los, liebe „Stern“-Leser, tut tuuuut!
Das sind die Schieflagen, in denen sich Magazinjournalismus schon immer befindet, und heutzutage, da Print stirbt, sicher mehr noch denn je. Die Frage ist ja: Was macht die Redaktion aus den Seiten, die ihr für ernsthafte Redaktionsarbeit übrig bleiben?
Was Humor angeht: Der war früher eine Bank, von der Eingangs-Fotostory mit Politikerfotos bis zur Tetsche-Seite am Ende. Heute gibt es keinen vergleichbaren Einstieg mehr, und die Trümmer der Humorseite dümpeln ganz hinten im Heft. Landschulz-Cartoon. Gsella-Gedicht. Und dann die Reste dessen, was die Branche zwischendurch mal als „Bürgerjournalismus“ erfunden hat: Die Leute dürfen hier offensichtlich Witze einschicken, oder Ideen für Witze, oder Dinge, die formal für Witze gehalten werden könnten. Wenn die Seite mit denen immer noch nicht befüllt ist, bläst man halt einen missglückten Kalauer auf, um die Ecke voll zu kriegen: „1% aller Zitrusfrüchte sprechen Mandarin“. Fertig. (Ich weiß, wenn man es aufschreibt, ist es auch schon wieder lustig.)
Ähnlich vernachlässigt erscheinen die Pflichtübungen im Kulturteil: Asterix wird im Wochenrhythmus verklappt, Gelenkschmerzsalbenwerbung halbseitig darunter, und schon bei der zweiten Folge kapiert man nicht mehr, worum es geht: Ist das jetzt ein Auszug aus dem neuen Asterix-Heft? Ist das eine andere Geschichte? Soll das lustig sein? Warum nur drei Panels pro Folge? Asterix funktioniert doch ganz anders!
Nebenan auf der Bestsellerseite ist alles wie früher: David Hasselhoff, Abba und Chris de Burgh in den Top Ten – ähm, welchen Tonträger habe ich mir eigentlich vorzustellen, wenn da „Album“ drüber steht? Und werden die Kurztexte in den Charts mittlerweile schon automatisch erstellt?
Bei Iron Maiden, einer seit Dekaden berühmten Metal-Band, wird umständlichstmöglich noch mal der Name erklärt. Sven Regeners neues Buch taugt gerade noch als Aufhänger, um Sven Regeners Brille zu kommentieren. Es ist der Redaktion wohl gleich, was die Praktikanten da wieder für Zeugs reinschubsen, und das ist schade, denn sowas wird gern gelesen und könnte eine Zierde sein für ein Blatt. Nur dass sich dort, ohne Namensnennung, natürlich niemand so recht produzieren kann.
Soweit die Pflicht. Was macht der „Stern“ mit den verbleibenden Seiten, jenen, auf denen das gestalterische Auge der Blattmacher ruht? Nun, um ehrlich zu sein, liebe kritische Medienjournalisten, die ihr in allem Gedruckten eine klare Kante und eine politische Zuordnung braucht: Ich habe mich oft gut unterhalten – und auch ein bisschen informiert gefühlt.
Manchmal hat die Aufmachung mich durch ein eher dröges Thema getragen, etwa als es um Nahrungs-Zusatzstoffe ging. Die Recherche bestand zentral wohl aus einem Besuch im vielleicht nicht ganz so spektakulären Hamburger Zusatzstoffmuseum – das Thema wird dann von einem mutigen Buntfotografen richtig peppig in Szene gesetzt. Muss man erst mal so machen.
Im selben Heft findet sich eine mehrseitige Strecke über die Beziehung zwischen den USA und Afghanistan seit 1981: sieben Präsidenten, sieben Nachrichtenbilder, sieben Zitate. Dazu jeweils ein kurzer Text. Natürlich kratzt das nur an der Oberfläche und reproduziert die Geschichte, wie sie eben von Medien geschrieben wird, aber trotzdem: So kann Magazinjournalismus aussehen, schlicht, aber nicht doof.
Auch spürt man zuweilen einen Mut zur formalen Freiheit, im angstzerfressenen Gewerbe eher eine Seltenheit. Etwa wird die Geschichte über den Cyberangriff auf den Landkreis Anhalt-Bitterfeld ausschließlich in Zitaten erzählt, als O-Ton-Collage der Beteiligten. Oder ein Legastheniker schreibt über seine Rechtschreibstörung – und sie lassen den Text so stehen, wie er eben geschrieben worden ist: „Nein das ist keine krakheit und nein ich bin auch nicht dum.“
Klaus Ungerer war war Feuilletonist bei der FAZ, Satiriker bei „Spiegel Online“, Textchef beim „Freitag“. Er lebt als Schriftsteller und Publizist in Berlin, im Herbst 2021 gründete er gemeinsam mit dem Autor Andreas Baum die Novellen-Reihe „edition schelf“. Dort erschien auch sein aktuelles Buch, die lyrische Novelle „Das Fehlen“.
Da ist eine gewisse Offenheit spürbar, eine Neugier, die ja die journalistische Grundtugend schlechthin sein sollte und doch so oft untergepflügt wird, weil Medien sich als Teil eines großen Machtspiels begreifen; weil jeder Text vorgeformt wird von fertigen Klischees und politischer Ausrichtung.
Im „Stern“ mag ich sogar die Aussagen der Ungeimpften auf mich wirken lassen, die eben nicht zwingend Vollspinner und Coronaleugner sind, wie all die Sonderlinge, die von TV-Journalistinnen gern auf Demos gesucht und dem ach so gebildeten Publikum zum Fraß vorgeworfen werden: „Zuspitzung“ – also Polarisierung – gilt im Journalismus ja weithin als eine Tugend.
Im „Stern“, wie er sich heute darstellt, geht es zuweilen etwas sanfter zur Sache – „weiblicher“, wie man früher vielleicht gesagt hätte. Da wird dann lieber mal hingeschaut statt draufgehauen, wird eher der große Konsens gesucht statt das eine Heerlager, zu dem man gehören will. Im Editorial kann uns jetzt sogar eine Frau als Chefredakteurin anlächeln, und ihrem Chefredakteurskollegen ist es nicht peinlich, ganz und gar unkantige Dinge zu fordern. Etwa sei es oft besser zu sagen: „Ich habe keine Ahnung.“ Wenn man keine Ahnung habe. Oder: Vermeintliche Eliten sollten sich nicht über die Masse erheben.
Das ist nicht direkt unsympathisch, das ist nicht direkt dumm. Das ist, im stupiden Meinungs-Trommelfeuer des Journalismus, schon wieder Haltung; Mut zur Milde. Ein Grundinteresse an Nachrichten trifft auf Freude an Behaglichkeit. Politikerporträts warten mit Psychologen als Experten auf. Im Braunkohleabbau wird auf den Dialog mit der Wirtschaft gesetzt. Erstwähler werden groß interviewt und spulen blitzsauber alle Rhetorik ab, die man sonst von Politikern zu hören bekommt.
So geht’s zu im „Stern“: Wirtschaftsfreundliches Grundgerüst (muss ja), grüner Lifestyle, ein bisschen Verträumtheit, ein bisschen Eskapismus, aber doch auch das eine oder andere edgy Thema, Reportagen über Trumps Rückkehr, über afghanische Schicksale, über die Krise unserer Schulen. Dann geht es weiter mit Roland Kaiser, mit Frank Elstner, oder warum nicht mal mit Kunst aus dem Kongo, wenn sie tolle Fotos hergibt?
Der „Stern“, das ist die Ampelkoalition der Willigen, zartrot und grün und gelb, seine Zielgruppe sind alle, die manchmal zum Zahnarzt gehen, und er tut weniger weh als die Wurzelbehandlung.
Kindheitserinnerung: Jede Woche für Mama den Stern vom Kiosk holen und als erstes „Tetsche“ und die „Sternchen“-Seite lesen. Das war in den Achtzigern, aber danach war irgendwie Schluss mit dem Produkt.
Die Nummer mit den Hitlertagebüchern hatte meine Mutter noch ewig irgendwo rumliegen. Wäre heute vermutlich einiges wert.
Ein Blick in die Mediadaten und Zielgruppenverteilung hilft evtl. auch noch bei der Einordnung:
https://www.gujmedia.de/print/portfolio/stern/profil/
Generell rate ich ja immer: Schaut nicht darauf, was ein Unternehmen euch sagt, sondern schaut darauf was es seinen Werbekunden / Aktionären / Gesellschaftern sagt.
Bestes Beispiel aus der Gaming Branche ist die „Whaling“ Keynote von einem „Free to Play“ mobile game Entwickler:
https://www.youtube.com/watch?v=xNjI03CGkb4
Ich finde es gerade nicht wieder, aber der Döpfner hat bei einer Rede vor Aktionären auch mal durchblicken lassen, was er von seinen Konsumenten tatsächlich hält.
Die Maske fällt, wenn man meint, das Zielpublikum hört nicht hin.
(Mir fällt gerade auf, dass das wenig mit dem Thema zu tun hat … sorry)
Regelmäßig habe ich Stern nie gelesen, aber irgendwo habe ich noch das Buch „Geheimnisse des Alltags“, worin die Sternchen-Artikel zusammengefasst wurden.
Meine Lieblingsgeschichte:
Die Kanalbrücke bei Minden über die Weser ist ein Verkehrsbauwerk, aber sie trägt immer praktisch dieselbe Last, egal, wie viel Verkehr (Schiffe) gerade darüberfahren oder nicht.
Cousine von mir hat mir viel später erzählt, dass das statisch gesehen doch nicht so einfach sei, weil das System sich im Leerzustand ändert, da dann die Mittelfundamente nicht mehr belastet würden, wegen Spannbeton oder so, und sich das Dreifeldsystem in ein Einfeldsystem verwandelt.
Um mal einzuordnen, wie ernst man früher als Kind beim Stern genommen wurde.
Ja, es ist tragisch. Und bisweilen richtig peinlich. Aber ich fürchte, die Verantwortlichen merken das nicht mehr. Oder es ist ihnen egal. Vermutlich beides.
Bemerkenswert, dass man eine ellenlange Rezension des stern schreiben und dabei konsequent die Nennung des Namens Nannen vermeiden kann – oder die Namen all jener Chefredakteure (mir fallen lauter Männer ein), die sich an Versuchen abgearbeitet haben, dem Magazin nach den Tagebüchern seine Relevanz und Reputation zurückzugeben. Es gab durchaus Phasen, in denen ich das Heft, dessen Lektüre in den 60ern (Kindheit) und 70ern (Jugend) meine Sozialisation als Printmedien-Rezipient prägte, wieder gerne gelesen habe. Dominik Wichmann zum Beispiel war zwar wohl kein beliebter Chefredakteur, aber in der Zeit hatte ich ein Abo und freute mich, wenn die neue Ausgabe in der Post war – zum Beispiel auf die Kolumne von Meike Winnemuth. Auch heute arbeiten noch ein paar sehr gute Kollegen in der Redaktion, aber deren Geschichten lese ich tatsächlich meistens zufällig – im Wartezimmer. Schade, aber die Titel animieren mich nicht mehr zum Kauf des Hefts. Dieses Abgleiten in die Beliebigkeit, Belanglosigkeit und Austauschbarkeit hat viel damit zu tun, welche Nasen Bertelsmann ab Middelhoffs Ägide in die Chefetage an den Baumwall entsandt hat. Mit der Installation von Bernd Buchholz endete die Ära, in der G+J-Manager noch Verlegerpersönlichkeiten waren, die verstanden, was Journalismus ausmacht. Gelegentlich fanden diese Führungskräfte zwar noch gute Journalisten für die Redaktionsleitungen, aber das war mehr Glück als Verstand.
Insofern stimme ich Klaus Ungerer zu: Der Stern hat keinen Markenkern mehr.
Was den Humor angeht: Wie kann ein Kritiker mehrere Hefte durchgehen, den Humor im Heft thematisieren und über Til Mettes Seite schweigen? Es muss ihn ja nicht jeder so großartig finden wie ich. Aber seine wöchentlichen Statements zu übersehen hat er nicht verdient.