Journalismus und Inklusion

Baut die Barrieren ab!

Als im Sommer 2021 das Hochwasser kam, blieb vielen Menschen nur Twitter: Unter dem Hashtag #Flutwelle tauschten sie sich aus. Es war ihre einzige Möglichkeit, sich über die Notsituation zu informieren. Denn in diesen Tagen und Nächten fehlten, gerade im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, Angebote für Menschen mit Sinnesbehinderungen oder jene, die auf Einfache oder Leichte Sprache angewiesen sind. Blinde, Gehörlose und Menschen mit Lernschwierigkeiten, so der Eindruck, hatten Pech gehabt.

Dabei hatten die vergangenen anderthalb Jahre Corona-Pandemie schon deutlich gemacht, wie elementar es ist, essentielle Informationen barrierefrei für alle zugänglich zu machen. Zwei Katastrophen: die eine anhaltend, die andere akut. Und beide Male zeigte sich, dass in Medienhäusern Routinen und Guidelines für eine inklusive Berichterstattung fehlen – damit auch Menschen mit Behinderung alle Nachrichten bekommen, die sie brauchen.

Mann mit Headset sitzt vor Bildschrimen
Barrierefreiheit live: Untertitel-Redaktion der ARD Screenshot: ARD

Es ist Zeit, dass deutsche Medien ihr alltägliches Programm und auch ihre Notfall-Kommunikation neu denken. Wie barrierefreie Berichterstattung gelingen kann, steht hier:

1. Nehmt behinderte Menschen als Zielgruppe ernst

Allein das Angebot von Redaktionen zeigt, wie relevant ihnen jene erscheinen, die auf barrierefreie Informationen angewiesen sind: Blinde, Gehörlose und Menschen mit Lernschwierigkeiten. Kurz: nicht sehr relevant.

Zudem ist laut Bundesfachstelle Barrierefreiheit die Perspektive auf die potentielle Zielgruppe grundsätzlich zu eng gefasst: „Die größte Lücke ist das Verständnis, dass viel mehr Menschen auf Barrierefreiheit angewiesen sind als man denkt“, sagt Simone Miesner, stellvertretende Leiterin der Bundesfachstelle Barrierefreiheit. Schließlich seien barrierefreie Berichte nicht nur für behinderte Menschen wichtig: Ältere Menschen, die nicht mehr gut hören und sehen, freuen sich ebenfalls über Untertitel und Audiodeskription.

„Von keinem einzigen Anbieter gibt es tagesaktuelle, überregionale Nachrichten in Leichter oder Einfacher Sprache“, sagt Anne Leichtfuß, die als Journalistin in Leichter und Einfacher Sprache schreibt und übersetzt. Medienhäuser nähmen Menschen mit Lernschwierigkeiten gar nicht erst als Zielgruppe wahr: Die Barriere sei nicht so offensichtlich wie eine Treppenstufe vor einem Geschäft für Rollstuhlfahrer*innen, eine starke Lobby fehle.

Obendrein seien sie in der Regel keine zahlkräftige Kundschaft: „Es nicht attraktiv, explizit für sie ein Angebot zu entwickeln, mit dem ich als Medienunternehmen Geld verdienen möchte“, erklärt Leichtfuß.

2. Diskutiert nicht nur, sondern fangt an

Der barrierefreie Zugang zu Informationen darf sich nicht auf vereinzelte „Sonderprojekte“ beschränken, er ist als Menschenrecht sowohl in der UN-Behindertenrechtskonvention als auch in EU-Richtlinien (hier und hier) bereits vorgeschrieben. Also: Fangt einfach an! Und um neue Formen der Berichterstattung für redaktionsweite Alltagskonzepte zu testen, bieten sich einzelne Ereignisse an – aktuell etwa das Wahljahr.

Rund um diesen Anlass hat sich bereits das Angebot in Einfacher und Leichter Sprache verbessert. Der SWR berichtete schon zur Landtagswahl im Frühjahr 2021 standardmäßig auch in Leichter Sprache. Beim Deutschlandfunk gibt es unter „Nachrichtenleicht“ zusätzlich zum längst fest installierten Wochenrückblick nun tägliche Infos zur Wahl.

Auf zdf.de finden sich barrierefreie Hintergrundinformationen rund um die Wahl. Und die Deutsche Presse-Agentur (dpa), die im August 2020 mit „Easy News“ eine eigene Sparte startete, liefert nun zur Bundestagswahl mit einem „Spezial“-Angebot Nachrichten zum Großereignis in Einfacher Sprache.

Und bei noch einem Sonderthema gibt es Vorbilder: etwa der NDR-Podcast „Coronavirus Update“. Nach anfänglichen Protesten hörbehinderter Menschen steht jede Folge auch als Skript zur Verfügung. Von derlei Textversionen profitieren übrigens auch Medienhäuser und Sender: Die Podcast-Inhalte sind auf einmal zitierbar und für Suchmaschinen sichtbar. Das neue dpa-Audio Hub macht es vor und bietet auch eine automatische Transkription an. Derzeit stehen diese Versionen jedoch nur Journalist*innen zur Verfügung. Es böte sich geradezu an, dass die dpa-Kundschaft die Texte zusammen mit den Audio-Inhalten veröffentlichen kann.

3. Macht Barrierefreiheit zur Routine

Mal als Sonderausgabe, mal wöchentlich: Alles Schritte in die richtige Richtung. Aber redaktionelle Routinen für barrierefreie Inhalte fehlen in der alltäglichen Berichterstattung.

Er selbst könne nur wenige Medien nutzen, erklärt Wille Felix Zante, Pressereferent des Deutschen Gehörlosen-Bundes. Er plädiert für Verbesserungen im Nachrichtenprogramm während der Prime Time: „Es muss Standard sein, dass Gebärdensprachdolmetscher*innen neben den Redenden stehen und dann direkt mit aufgezeichnet werden.“

Gebärdendolmetscherin übersetzt die ZDF-Sendung "Maybrit Illner"
ZDF-Sendung „Maybrit Illner“ mit Gebärdendolmetscherin Screenshot: ZDF

Selbst wenn Dolmetscher*innen schon vor Ort präsent sind – wie etwa bei den Pandemie-Pressekonferenzen des RKI –, werden sie oft nicht mitgefilmt. „Das ist eine redaktionelle Entscheidung“, ist laut Zante eine Standardantwort von TV-Sendern. „Es heißt dann: Die Leitung der Rundfunkanstalten wolle und dürfe sich da nicht einmischen.“ Bislang ist Gebärdensprache meist nur bei Spezialsendern wie Phoenix oder im Internet zu sehen. Das ZDF bietet laut eigenen Angaben nur acht Prozent des Programms live in Gebärdensprache an.

Nicht zu vergessen dabei: Transkripte wie auch Untertitel sind nur eingeschränkt barrierefrei. Sie helfen ausschließlich spätertaubten oder schwerhörigen Menschen. Für die meisten Gehörlosen gilt: Ihre Muttersprache ist die Deutsche Gebärdensprache. Ihre Struktur und Grammatik unterscheiden sich wesentlich von Schriftsprache; sie zu verstehen ist obendrein an die Erfahrung gekoppelt, sie gesprochen zu erleben. Text gleicht daher für gehörlose Menschen eher einer Fremdsprache.

Für blinde Menschen bieten viele öffentlich-rechtliche Sender Hörfassungen an, für Live-Übertragungen gibt es Audiodeskriptionen, die jedoch nur digital empfangbar ist. Aber noch lange sind diese Angebote nicht flächendeckend. So beziffert die ARD etwa die Quote für 2019 auf 53 Prozent ihres Abendprogramms. Weitere journalistische Online-Angebote können Blinde und Sehbehinderte mit dem sogenannten Screen-Reader abrufen, einer Software, die Texte vorliest (was daher fürs Gendern zu beachten ist, steht hier).

Für Katastrophen und Notfallsituationen müssten sich darüber hinaus weitere Standards etablieren, so die stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands Christiane Möller. Sie fordert Redaktionen auf, das Zwei-Sinne-Prinzip zu nutzen: für hörbehinderte Menschen Untertitel, für sehbehinderte Informationen als gesprochener Text. „Häufig werden solche Warnungen auf dem Bildschirm eingeblendet, während etwas anderes gesendet wird“, so Möller. Sie schlägt daher Sendern vor, das Programm zusätzlich zu unterbrechen und die aktuelle Notfall-Information vorzulesen.

Grundsätzlich kann es sich für Redaktionen auch lohnen, mit einem schon bestehenden barrierefreien Service zu kooperieren. Leichte-Sprache-Expertin Anne Leichtfuß empfiehlt etwa Apps, die viele Menschen im Alltag sowieso nutzen. Wie etwa die Nachrichten-App „Capito“ für Leichte und Einfache Sprache, die nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr 8,5 Millionen Menschen erreichte.

Capito hat im deutschsprachigen Raum 20 Standorte, hierzlande sind es acht. Unter anderem die Österreichische Presseagentur wie auch der ORF arbeiten damit, um so Inhalte in Leichter und Einfacher Sprache anzubieten. Derzeit verhandle man mit mehreren deutschen Medienhäusern. Eine solche App wäre auch eine Lösung für Notfall-Situationen: Sie böte Redaktionen die Möglichkeit, Live-Ticker in Einfacher und Leichter Sprache auf ihren Seiten zu verbreiten.

4. Packt Barrierefreiheit auf den Lehrplan

Christiane Möller vom Deutschen Blinden- und Gehörlosenbund schlägt vor, das Bewusstsein für barrierefreie Inhalte schon in der journalistischen Ausbildung zu schärfen: Kommen die so Geschulten in den Redaktionen an, „wird es auch Verbesserungen geben“, sagt sie.

Was für den Nachwuchs gilt, bietet sich auch für den Rest der Redaktionen an, sei es in Form von Weiterbildungen oder Zusammenarbeit mit jenen, die die barrierefreien Angebote tatsächlich brauchen.

5. Fragt die, die sich auskennen

Der beste Einstieg ins Thema: Jene fragen, die sich auskennen. Etwa das Team von „Leidmedien“, das sich mit Tipps und Workshops explizit an Journalist*innen wendet, oder Verbände behinderter Menschen, dazu Journalist*innen und Inklusionsaktivist*innen mit Behinderung. Weitere Kontakte vermittelt auch die Bundesfachstelle Barrierefreiheit.

Ein solcher Dialog könnte auch Missverständnisse beseitigen. Vorurteile seien das größte Hindernis, um Leichte und Einfache Sprache in Medienhäusern zu verankern, so Leichtfuß. Aktuelle Berichterstattung mit einem entsprechenden Liveticker zu begleiten, sei zu zeitaufwendig, höre sie oft. Dabei sei das in der Praxis gar kein Problem: „In der Regel sind Eilmeldungen und Katastrophen-Ticker kurz.“ Und jene, die die Beiträge überprüften und übersetzten, seien nicht zuletzt wegen der Pandemie-Erfahrung gewohnt, mehrmals täglich per Videoschalte auf die Nachrichtenlage zu reagieren.

Dass Anregungen aus der Community etwas anstoßen können, zeigt sich etwa auch bei Radio Wuppertal: Weil während der Flutkatastrophe immer mehr Menschen nach barrierefreier Notfallberichterstattung fragten, entwickelt die Redaktion – die für ihre Arbeit während der Hochwassertage mit dem Deutschen Radiopreis 2021 ausgezeichnet wurde – nun ein eigenes Konzept.

Das Modell beim Deutschlandfunk: Man lasse die Online-Inhalte prüfen – von einer speziell geschulten Nutzerin, die auf Screenreader angewiesen ist.

6. Überdenkt Euren eigenen Standpunkt

Zielgruppe ernst nehmen, Routinen überdenken, sich weiterbilden, neue Angebote schaffen: Damit all das auf einmal problemlos möglich ist, reicht mitunter ein kleiner aber entscheidender Aspekt – persönliche Kontakte. Der Bayerischen Rundfunk macht’s vor. Seit 2019 lernen alle Volontär*innen die Deutsche Gebärdensprache. Der Impuls ging vom Nachwuchs selbst aus. Die gehörlose Iris Meinhardt war Teil des Jahrgangs – und ihre Kolleg*innen beschlossen daraufhin, sich fortzubilden. Der Sender gibt derweil als Ziel aus, man wolle Vorreiter für Barrierefreiheit sein. Dass man’s kann, zeigt das fast 50 Jahre alte TV-Format „Sehen statt Hören“ – es ist komplett in Gebärdensprache, flankiert von Untertiteln.

Aber natürlich darf es nicht nur bei einer Journalist*in mit Behinderung in einer Redaktion bleiben. Damit das gelingt, braucht es barrierefreie Arbeitsbedingungen, dazu die Bereitschaft, die Erfahrung dieser Kolleg*innen in die journalistische Praxis einzubinden – und eigene Vorurteile zu reflektieren.

Der Ansatz des BR trägt auch über den Sender hinaus längst sichtbare Früchte: Iris Meinhardt übersetzte samt Team für WDR Cosmo Corona-Inhalte in Gebärdensprache. Und ihr Funk-Kanal klingt wie ein Versprechen, dass sich etwas ändert: „Hand drauf“.

2 Kommentare

  1. Ich hatte auch hier mal nach Transkripten der Podcasts gefragt. Wäre ja auch eine Maßnahme zum Abbau von Barrieren. Wobei das zugegebenermaßen nicht meine Intention war; ich kann auf der Arbeit schlicht besser Geschreibsel konsumieren. Mir würde das automatisch per STT generiert völlig reichen. Einfach bei der Aufzeichnung mitlaufen lassen und mit dem Audio zurechtschneiden. Bessere Schlagwortierbarkeit und Google-Relevanz gratis inkludiert.

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