Privilegierte Journalisten

Das peinliche Genre der Nichtwähler-Beschimpfung

Bild: Tim Reckmann CC-BY-NC

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Wochen vor Bundestagswahlen geht in den Redaktionen meistens das Gerenne los. Die Frage: Wie schaffe ich es, mit einem Thema zur Wahl besonders hervorzustechen? Weil sich nicht jede und jeder mit einer neuen Idee zu helfen weiß, zaubert der eine oder die andere einen alten Hut hervor. Zum Beispiel: einem Kommentar über „DEN Nichtwähler“, Zauberformel M&M: männlich, Merkel-Hasser. Denn: Nichtwähler gehen immer – wirklich.

Also, kurze Hintergrundrecherche: Was gibt es zu Nichtwähler:innen schon für Kommentare – und welche Argumente werden da von meinen Kolleg:innen präsentiert?

Zum Beispiel das: „Nichtwähler sind die Wegelagerer einer Demokratie“, stand da im „Tagesspiegel“. Und dass sie „demokratisch verantwortungslos“ handeln, sich zurücklehnen würden, bis ihnen die Parteien die Politik mundgerecht serviert würden. Okay, Christoph Seils, der das schrieb, hat offensichtlich eine klare Meinung zum Nichtwähler. Also weiter suchen.

„Der Nichtwähler sollte am Sonntag tapfer sein und wählen gehen, auch weil er als Nichtwähler gescheitert ist“, schrieb Gabor Steingart, damals noch „Handelsblatt“-Chefredakteur, im Ton eines Oberstudienrats. Und Philipp Kienzl fragte bei „Zett“: „Weißt du eigentlich, wie privilegiert du bist?“. Als Arbeiterkind, das im Journalismus gelandet ist, wäre ich geneigt, ihn zurückzufragen: Weißt du eigentlich, wie privilegiert du bist, Philipp?

Die Kommentarschreiber haben eines gemeinsam: Obwohl es gute Untersuchungen und Daten zum Phänotypus des Nichtwählers gibt, streifen sie die populärsten Gründe, weshalb Menschen nicht wählen, nur am Rande. Nichtwähler:innen werden von ihnen meistens schlicht als gescheiterte Weltverbesserer dargestellt. Dabei gibt es ja Gründe, wieso sie so handeln.

„Der typische Nichtwähler“ komme aus einem „sozial schwachen Milieu“, resümiert die Bertelsmann-Stiftung 2015 ihre Auswertung einer ARD-Wahlumfrage. Obwohl die Formulierung „sozial schwach“ mindestens unglücklich ist, liegt diese Analyse zur Bundestagswahl 2013 viel dichter an der Wahrheit als die teils ausschweifenden Kommentare von Christoph, Gabor und Philipp. Die Wahlbeteiligung in „sozial privilegierten Schichten“ war demnach damals um bis zu 40 Prozent höher als in prekären Milieus.

Bei einer Umfrage der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr 2013 gaben 34 Prozent der Nichtwähler:innen an, der Grund ihrer Abstinenz sei, dass „die Politiker kein Ohr mehr für die Sorgen der kleinen Leute haben“. Laut einer Studie von Kantar Public im Auftrag des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung ordnen sich nämlich 45 Prozent der Nichtwähler:innen der „Unter- und unteren Mittelschicht“ zu. Wobei die Dunkelziffer höher liegen dürfte: Jeder dritte von Armut bedrohte Mensch fühlt sich der Mittelschicht zugehörig, dabei ist er in Wahrheit arm.

It’s the Klasse, stupid

Geht es um Nichtwähler:innen und die Gründe, weshalb sie nicht wählen, geht es also oftmals um Klasse, liebe Kolleg:innen. Und wenn ihr es geschafft habt, den Impuls zu unterdrücken, diesen Text beim Wort „Klasse“ wegzuklicken, dann Glückwunsch, weiter geht’s.

Die „Zeit“ spricht über eine „Geografie des Nichtwählens“: Anhand des Stadtteils, in dem Wähler:innen wohnen, könne man voraussagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit jemand wählen geht – oder es lässt. Jeder dritte Nichtwähler gehört zum sozialen Milieu des Prekariats. Doch auch einem großer Teil der übrigen geht es finanziell nicht rosig.

Mit knapp unter 50 Prozent Wahlbeteiligung liegt die Beteiligung im Milieu der „Hedonisten“, dass die Bertelsmann-Stiftung in der Unter- bis Mittelschicht ansiedelt, noch unter der Beteiligung des prekären Milieus. Eine prekäre finanzielle Situation „verbindet sich mit einer ausgeprägten Konsumneigung, Spaßorientierung und Distanz gegenüber Regeln“. Diese Wähler:innen kann man mit folgendem Satz beschreiben: Ich verdränge meine Existenzängste durch Konsum, lang lebe der Markt! Ist, zugegeben, nicht superschlau, aber wer will es verdenken, bei den Quatrilliarden Werbemitteln, die Großstädter:innen so am Tag in die Ohren und aufs Smartphone flattern.

Je weniger Aufstiegschancen der Einzelne effektiv hat, desto geringer ist die Lust, das Ganze noch durch sein Kreuz zu legitimieren. Während die meisten Wähler:innen wählen, weil sie sich davon eine Veränderung der Politik zu ihren Gunsten erhoffen, erwarten Nichtwähler:innen offenbar keine Veränderung für ihr Leben – und gehen nicht zur Wahl.

Selten war die Einkommensungleichheit hierzulande größer als heute. Alle Einkommensgruppen werden auch beinahe gleichmäßig besteuert; nichts da mit der Idee, dass die Reichen den finanziellen Rückhalt unserer Gesellschaft bilden. Wer mal mit Menschen gesprochen hat, die Hartz IV beziehen und deren Grundsicherung verfassungswidrig um 50 Prozent wegsanktioniert wurde, weiß, dass der deutsche Staat einer ist, der die Armen bestraft.

Diskrepanz zwischen Staat und Bürgern

Vor einigen Wochen klingelte es an meiner Haustür. Nachdem die Polizeibeamten festgestellt hatten, dass sie bei mir nicht richtig waren, wurden sie bei einer Nachbarin fündig. Wegen 150 Euro nicht zurückgezahlter Strafe wollten die Beamten einen Haftbefehl vollstrecken. Ob sich die Nachbarin schlau verhalten hat oder nicht, steht auf einem anderen Blatt – entscheidender ist: Jemand, dem so etwas passiert, der nimmt den Staat als Aggressor wahr, nicht als Unterstützer.

Für Menschen, die in Armut leben, gibt es eine Diskrepanz zwischen dem Staat und seinen Bürger:innen. Die Idee, dass ich Staat und Gesellschaft im positiven verändern kann, ist Menschen vorbehalten, die eine höhere Selbstwirksamkeitserwartung haben, nicht Menschen, die in Armut leben. Also das Wissen und das Selbstvertrauen, etwas bewirken zu können. Und so klischeehaft es klingen mag: Bei der Suche nach Gründen, warum vor allem arme Menschen nicht wählen gehen, hat der Allgemeinplatz „Es ändert sich doch eh nichts“ eine Berechtigung.

Wählen gehen ist eine Sache von Repräsentation. Wessen Interessen vertreten werden, der hat einen Grund, sich an der Gesellschaft zu beteiligen. Welche Partei, außer der Linken, die sich jedenfalls in der Vergangenheit immer quasi-dogmatisch der ewigen Opposition verschrieben hat und deren Einfluss daher recht begrenzt ist, verteidigt im Bundestag die Rechte derer, die sich auf dem absteigenden Ast befinden?

Klar, bei jeder Bundestagswahl, so auch bei dieser, meinen es von SPD über Grüne bis zur CDU alle wieder sauernst mit den Armen, aber die Frage ist: Werden die Nichtwähler:innen von diesen kurzfristig erdachten Botschaften erreicht? Und falls ja, glauben sie den Union, SPD oder den Grünen ihre Bekenntnisse zu mehr sozialer Gerechtigkeit? Es gibt gute Gründe, daran zu zweifeln.

Die Repräsentanz der eigenen Klasse in der Politik ist natürlich nicht der einzige Grund, nicht wählen zu gehen. Ein weiterer ist ein kultureller: Der Abstand zwischen Politiker:innen und der Bevölkerung wächst immer weiter. 2018 lag der Anteil der Deutschen mit Hochschulabschluss bei etwa 22 Prozent. Dagegen haben 82 Prozent der jetzigen Abgeordneten im Bundestag einen akademischen Abschluss. Den insgesamt neun Handwerker:innen, drei Landwirt:innen und dem einen Buchhändler (ein gewisser Martin Schulz von der SPD) stehen sage und schreibe 115 Jurist:innen gegenüber.

Kaum Journalisten aus Arbeiterhaushalten

Weil keine gute Intervention ohne einen Handlungsimpuls auskommt: Liebe Schreibende, seid nicht wie Christoph, Gabor oder Philipp. Hinterfragt bitte eure Mittelschichtssozialisation, denn die ist immer noch der Regelfall in deutschen Redaktionen, und so ist auch der Journalismus Teil des Problems.

Der Deutschlandfunk berichtet:

„Bei 85 Prozent der Journalisten in deutschen Redaktionen sind die Väter Beamte, Angestellte oder Selbstständige, nur 9 Prozent kommen aus einem Arbeiterhaushalt, ergaben Studien. Und beinahe alle Journalisten orientieren sich bei ihrer Berichterstattung an den Meinungen und Einschätzungen ihrer Kollegen.“

Ziemlich sicher steckt hinter den teilweise hochnäsig geschriebenen Kommentaren der Kollegen also keine mangelnde Intelligenz, viel wahrscheinlicher ist, dass sie ihren eigenen Klassenstandpunkt weitergegeben haben – ob bewusst oder unbewusst.

Die meisten Nichtwähler:innen profitieren nicht im gleichen Maße von unserer Wohlstandsgesellschaft wie Journalisten. Lasst euch das von einem gesagt sein, dessen Eltern ihm früher immer eingebläut haben, im Falle ihres Todes nie das Erbe anzunehmen, es bestehe eh nur aus Schulden.

Nur weil ich mich auf drei negative Beispielkommentare beziehe, war das noch lange nicht alles an unreflektiert vorgebrachten Kommentaren. Fordert bitte auch nicht die Einführung einer Wahlpflicht mit gleichzeitigen Sanktionen gegen Nichtwähler:innen. Das ist nicht viel schlauer als die Forderungen der zitierten Kollegen und führt nur zu einer noch größeren Spaltung – in eine Gruppe, die ohnehin partizipiert, jenen, die bei einer verbindlichen Wahlpflicht eben grummelnd wählen gehen, und denjenigen, auf deren Nacken sich dann eben noch eine weitere Rechnung stapelt.

Am besten ist vielleicht folgender Parameter, bevor ihr, liebe Kolleg:innen, euch mit einem Kommentarvorschlag zu Nichtwählern an eure Chefs wendet: Seid ihr der Meinung, das Medium, für das ihr schreibt, hat sich in der Zeit zwischen den vergangenen zwei Bundestagswahlen ausreichend mit dem Thema Soziale Ungleichheit beschäftigt? (Eine schnöde Meldung über den Armuts- und Reichtumsbericht zählt nicht!)

Falls ja, könnt ihr euch nun, vorsichtig, dem Typus Nichtwähler nähern, viel Spaß! Falls nein: Lasst es lieber und schaut euch erst mal den Armuts- und Reichtumsbericht an.

Viele Grüße

Ein bekennender Wähler

11 Kommentare

  1. Dieser Text ist klasse! Gut argumentiert. Danke.
    Ich bin auch ein „Arbeiterkind“, das es geschafft hat. Und bei solch hochnäsigen Kommentaren denke ich auch oft: Ihr versteht es nicht. Ihr denkt, die „anderen“ haben keine Gründe. Doch, haben sie.

  2. „It’s the Klasse, stupid“. Nee, it’s the Schicht. Klasse ist ein überholter, vorsoziologischer Begriff, den der der Schicht längst ersetzt hat. Der Grund ist sehr simpel: Klasse ist super ungenau. Wir haben Arbeiter, Angestellte, die Aristokraten, den Adel,… Was sagt das schon über den sozioökonomischen Status aus? (Man stelle sich einen Arbeiter mit Lottogewinn oder verarmten Landadel vor).

    Die Schicht bezieht sich auf Ausbildung, Beruf, Einkommen und Vermögen, was die gesellschaftliche Verortung um ein Vielfaches präziser macht.

    Daneben stehen die (in meinen Augen willkürlichen und damit aussagebefreiten) Milieus, die sich auf das Verhalten fokussieren und dabei lustige – und wie gesagt willkürliche – Grüppchen bzw. Kategorien in der folgenden Art bilden: Ein golfspielender Audifahrer mit Pool habe demnach dieses Freizeitverhalten, ein golffahrender Fußballfan mit Eis am Stiel dagegen jenes. Meistens gibt es zufälligerweise vier oder fünf solcher Grüppchen, in die dann alle Befragten einsortiert werden.
    Was Audifahrende Fußballfans oder golfspielende Golffahrer, die alle kein Eis mögen, nach der Arbeit so tun, vermag dieser Ansatz allerdings nicht zu erklären. Ich sag’s nur.

  3. Als jemand der sich keiner Klasse/Schicht zugehörig fühlt bin ich der klassische Wähler/Nichtwähler und gebe daher bei der Bundestagswahl nur eine Stimme ab. Günstigerweise ist der Wahlzettel auch in dieser Form gültig!
    Man sehe: Es gibt für jedes Problem eine Lösung.

  4. @Sid:
    Danke für diesen Ulrich-Beck-Gedächtnis-Kommentar, der in den 90er-Jahren vielleicht aktuell gewesen wäre und heute schlicht Unsinn. Sorry, aber wann haben Sie das letzte Soziologie-Seminar besucht?
    Weder ist der Begriff der Klasse aus der neueren sozialwissenschaftlichen Gesellschaftsanalyse verschwunden (s. Nachtwey, Reckwitz u.a.), noch ist das Milieu ein unsinniger Begriff. Es ist genau im Gegenteil so, dass Milieu ein analytisch komplexerer Begriff als Schicht ist, weil er zumindest neben der ökonomischen Dimension des Einkommens noch eine zweite mit einer kulturellen/Lebensstil-Achse mit einbezieht. Die Schicht dagegen bezieht sich rein auf eine meistens ökonomisch definierte gesellschaftliche Hierarchisierung, die mehr Begriff als Modell ist. Insofern ist Schicht keine wirklich analytische Kategorie, sondern bedarf weiterer Erläuterung.
    Das gleiche gilt für die „Klasse“, sie ist aber im Rahmen dieses Kommentars m.E. sinnvoll, weil sie eine historische Kontinuität sozialer Ungleichheit verdeutlicht.

    Ich fand den Text ganz okay, würde mir aber wünschen, dass er beim nächsten Mal 50 Jahre politikwissenschaftlicher Forschung zur Wahlbeteiligung nicht nur an der Oberfläche streift.

  5. Zusatz eines in der DDR Geborenen: Die Wahl zu haben, nicht zu wählen, ist ein demokratisches Grundrecht, dass nicht unterschätzt werden sollte. Jede/r darf mit der eigenen Stimme nach Belieben verfahren.

  6. Danke für den Text, er war mir ein Impuls darüber nachzudenken, wie ich als Handwerkerkind Akademiker doch als Schnittstellenkompetenz tauge. Oft schüttle ich innerlich meinen Kopf und denke: wenn die von den Reaktionen der anderen wüssten…dann verstünden sie sich nicht. Und es wird schlimmer! Bitte nicht zurück lehnen und Nachdenken, es darf auch geredet und respektiert werden. Merci! Ich hab schon gewählt.

  7. Mein Eindruck ist auch, dass die Presse für einen nicht unerheblichen Teil der Menschen nicht mehr als „Anwalt des*r Bürgers*in“ dient. Wer strukturelle Ungerechtigkeit erfährt und das öffentlich machen möchte, blitzt ab; weil Aufwand für die Redaktion. Auf der anderen Seite weigern sich Sozialverbände, Betroffene auch nur zu fragen und ein Vermittlungsangebot an die Presse zu machen. Damit bleiben ihre „Klient:innen“ für Journalist:innen abgeschirmt und oft nur schwer erreichbar.

  8. „Und wenn ihr es geschafft habt, den Impuls zu unterdrücken, diesen Text beim Wort „Klasse“ wegzuklicken, dann Glückwunsch, weiter geht’s.“

    Ich war davor versucht, beim Wort „privilegiert“ wegzuklicken, weil es zu einer moralinsauren Totschlagsfloskel verkommen ist. Ein Wort, das Argumente ersetzen soll, ohne selbst eines zu sein. Gegen „Klasse“ habe ich nichts einzuwenden: Das ist ein analytischer Begriff, der – zumindest bei den besseren Klassentheoretikern – ganz ohne Moralismus auskommt.

    Die Analyse leuchtet mir ein, es fehlt mir aber ein bisschen die Erkenntnis, dass „Gründe haben“ nicht identisch ist mit „eine rationale Entscheidung treffen“. Denn natürlich würden Hartz-IV-Empfänger Vorteile von einer Regierung haben, die Hartz IV durch ein faireres Sozialsystem ersetzt. Desgleichen Geringverdiener, die auf eine Steuer-Entlastung oder günstigere Mieten hoffen.

    Solche Ansätze sind im Bundestag kaum noch repräsentiert, weil sich die potentiellen Nutznießer frustriert von der Politik verabschiedet haben – ein echtes Dilemma. Dass sie Gründe für diese Abwendung haben, ist sicher richtig – es löst bloß nicht das Problem.

    Ein identitätspolitischer Kurzschluss ist m.E. die Vorstellung, für eine Repräsentanz der Klasseninteressen müssten immer auch die entsprechenden Leute im Bundestag sitzen. Schon im 19. Jahrhundert waren die Repräsentanten der Arbeiterklasse oft keine Arbeiter. Marx z.B. war Anwaltssohn, Engels Fabrikant und Rosa Luxemburg entstammte einer Händlerfamilie.

  9. Wenn man als Bürger keine Politiker hat, denen man als Wähler von Interesse ist, ist das schon schlimm genug, aber offenbar haben viele auch keine Journalisten.

  10. Ich, als gefühlte Mittelklasse, Mittelschicht und Mittelmilieu, von außen von den einen als Oberschicht, den anderen als Unterklasse zugehöriger Sohn eines selbständigen Handwerkmeisters, Studienabbrecher und mittlerweile gut verdienender IT-Berichsleiter habe vollstes Verständnis, dass manche nicht wählen gehen. Ich halte es aber für fatal, denn so wird sich nichts ändern. Ich glaube nicht, dass alle Mitglieder des Bundestages schlechte Menschen sind und absichtlich, vorsätzlich böse Dinge tun. Sondern dass in ihrer Bubble, mit den für sie leicht zugänglichen Quellen („Bild, BamS und Glotze“), existierenden Parteilinien und Lobbyisten-Beeinflussungen am Ende das rauskommen muss, was rauskommt. Hartz IV, Riester, Rürup, das gute Kindergartengesetz. Bestimmt alles gut gemeint. Oder wenigstens das meiste. Einigermaßen.

    Ich schweife ab.

    Warum gibt es keine Plattform, wie FlightRight für Menschen, die von Hartz IV leben müssen, und denen jeder Pups noch von dem bisschen abgezogen wird? Oder einen Fonds für die Unterstützung von Masseklagen gegen Vermieter, Krankenkassen, Versicherungen überhaupt, wie beim Dieselskandal? Das sind doch solche Massen von „Geschäftsvorfällen“ und riesige Gewinnchancen, dass sich das für die Anbieter auch finanziell lohnen würde.

    Die Journalisten sind da in bester Gesellschaft, mit ihrem mangelnden Engagement für die Abgehängten.

  11. @Viktor: Meine Antwort kommt zwar spät, dennoch will ich das so nicht stehen lassen. Zumal mein letztes Soziologieseminar bei weitem noch nicht so lange her ist, wie Sie denken. Aber dafür lange genug.
    Dass Schicht und Klasse soziologische Begriffe sind, die stets genauer definiert werden müssen, um mit Ihnen wissenschaftlich umgehen zu können, ist ja jetzt nicht DIE Megaerkenntnis, für die Sie sie verkaufen. Und dass sich die Schicht im Wesentlichen auf die wirtschaftlichen Verhältnisse fokussiert, bestreitet ebenfalls niemand. Das hat sie mit der Klasse übrigens gemeinsam. Das ist im Kapitalismus übrigens nicht der schlechteste Ansatz, um Grundlage, persönlichen Erfolg und Perspektiven näherungsweise zu beschreiben.

    Und bei den Milieus sitzen Sie demselben Irrtum auf, wie die Anhänger dieses Ansatzes (und ja, er gewinnt seit der Jahrtausendwende einen Beliebtheitswettbewerb nach dem anderen): Wie ich mit meinen Beispielen im vorherigen Kommentar versucht habe zu zeigen, ist die Einbeziehung des sozialen Verhaltens weit weniger trivial, als die eigenen Vorurteile und Vorstellungen uns das nahelegen. Wenn man sich dann die Einteilungen der Milieus genauer anschaut, erkennt man sehr schnell, wie willkürlich die Einteilung daher vorgenommen wird. Man könnte auch sagen, beim Bemühen um eine größere Detailtiefe erreicht man exakt das Gegenteil: Die Zahlen suggerien Treffsicherheit („golfspielende Audifahrer, die in Villen leben, wählen CDU“), eigentlich hat man aber nur die zweite und dritte Nachkommastelle ausgewürfelt oder Trivialitäten pseudowissenschaftlich belegt.
    Genauso wie es Studien über das Verhalten von Frauen, Ausländern oder Eltern mit ganz tollen Ergebnissen gibt. Der Denkfehler ist hier nur viel offensichtlicher als bei Milieus: Die Einteilung ist willkürlich und die Gruppen sind so hetherogen wie jede andere größere Gruppe von Menschen.

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