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Die „Welt“ nimmt sich die Freiheit, liberale Aktivisten mit falschen Behauptungen zu diffamieren
Die Meldung war eigentlich von überschaubarer Komplexität: Acht deutschsprachige Nachrichtenagenturen haben heute bekannt gegeben, dass sie sich gemeinsam nach und nach vom „generischen Maskulinum“ verabschieden wollen, aber vorerst auf den Einsatz von Sonderzeichen wie Stern, Unterstrich oder Doppelpunkt zum Gendern verzichten. Stattdessen sollen „viele andere Möglichkeiten“ genutzt werden, um diskriminierende Sprache zu vermeiden und Diversität sichtbar zu machen.
Bei der „Welt“ fiel die Meldung offenbar in das Ressort der neuen „Chefreporterin Freiheit“, Anna Schneider, die schnell diagnostizierte, dass die Agenturen sich mit diesem Schritt „dem illiberalen Zeitgeist“ beugten, und sich so in Rage schrieb, dass dabei die Fakten unter die Räder kamen. Jetzt weist ein Korrekturhinweis unter dem Artikel darauf hin, dass es „aufgrund eines bedauerlichen Produktionsfehlers“ zunächst falsch geheißen habe, „die Nachrichtenagenturen planten zu gendern“.
Tatsächlich trug der Artikel zeitweise die Überschrift:
Das Gendergestotter der selbstgerecht-egalitären Blase
Dabei hatten die Agenturen ja gerade dem Einsatz solcher Mittel, die von Kritikern als „Gendergestotter“ geschmäht werden, vorerst eine Absage erteilt.
Inzwischen lautet die Überschrift nur noch:
Weit weg von der Lebensrealität
Doch es ist der Genderstern, der Schneider triggert. Sie behauptet:
Im Journalismus tummeln sich etliche, die der sprachmagischen Vorstellung anhängen, ein Sternchen mitten im Wort sei das ultimative Mittel zur Gleichstellung (ausdrücklich nicht Gleichberechtigung) der Geschlechter.
Das steht auch immer noch da. Nur der folgende Satz hat sich verändert. Ursprünglich lautete er:
Dass nun auch deutsche Nachrichtenagenturen nachziehen, ist ein Tiefpunkt für den deutschen Journalismus.
Natürlich kann Schneider, wenn es drunter nicht mehr geht, den Einzug des Gendersternchens in Nachrichtenagenturtexte als Tiefpunkt für den deutschen Journalismus empfinden. Bloß steht dieser Einzug gar nicht an.
Jetzt lautet der Satz:
Dass nun auch deutschsprachige Nachrichtenagenturen mit Blick auf das generische Maskulinum nachziehen, ist ein Tiefpunkt für den deutschen Journalismus.
Der Anschluss an den Satz davor rumpelt jetzt etwas, aber dafür ist es wenigstens nicht mehr falsch.
Nebenbei hat die „Welt“ an dieser Stelle einen weiteren Fehler korrigiert und aus den „deutschen Nachrichtenagenturen“ „deutschsprachige“ gemacht, was nicht ganz unwesentlich ist, weil etwa die österreichische Agentur APA und die internationale Agentur Reuters mit im Boot sind. Derselbe (inzwischen korrigierte) Fehler wiederholte sich zwei Sätze später in der Formulierung: „So liest man in einer Pressemitteilung der Deutschen Presse-Agentur, acht deutsche Nachrichtenagenturen hätten ein gemeinsames Vorgehen vereinbart, …“ und später noch einmal.
Schneider verweist in ihrem Text auf eine Allensbach-Umfrage, die wieder einmal belegt habe, „dass die überwiegende Zahl der deutschen Bürger nichts vom Gendergestotter hält“, um dann anzufügen:
Dass nun also nach dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch acht deutsche Nachrichtenagenturen die Bevölkerung mit derlei Sprachmagie behelligen, entbehrt jeder Grundlage, sofern sie nicht nur die erreichen wollen, die ohnehin ihre Pronomen in der Biografie angegeben haben.
Die „Welt“ nimmt sich die Freiheit, liberale Aktivisten mit falschen Behauptungen zu diffamieren
Auch dieser Satz musste durch das Einfügen der Wörter „hinsichtlich des generischen Maskulinums“ notdürftig gerettet werden. Das hat den Effekt, dass der Artikel nun anlässlich einer Entscheidung der Nachrichtenagenturen immer wieder etwas sinnlos über Dinge schimpft, die die Nachrichtenagenturen gar nicht beschlossen haben. Andererseits lässt sich so das Erregungspotential angenehm hochhalten.
Und auch wenn der Artikel in seiner ursprünglichen Form inhaltlich falsch war: Wenigstens wurde in ihm nicht gegendert. Will man mehr?
Nachtrag, 22. Juni. Die Korrektur des bedauerlichen Produktionsfehlers kam bedauerlicherweise zu spät für die gedruckte „Welt“:
„Weit weg von der Lebensrealität“ ist natürlich eine witzige Überschrift für einen Artikel, der, naja, Sie können sich denken worauf ich hinauswill.
Ist schon doof, wenn man auf biegen und brechen die erwartete Springer LinienTreue erfüllen muss, aufgrund der Faktenlage das Aufregungspotental wegschmilzt und man das Ganze so retten muss, damit wenigstens ein Rest Clickbaitcharakter für die hochpulsigen Zeitgenossen übrig bleibt. :-)
Hat nicht Schneiders Kollege Boie den schönen Begriff Journalistendarsteller (ungegendert) geprägt? Er hatte zwar Tilo Jung und Rezo gemeint, der Ausdruck passt aber viel besser zur Kleinkunstbühne „Die Welt“.
Ich vermute mal, die Welt regt sich vor allem deshalb darüber auf, weil sie die meisten Agenturtexte unverändert übernimmt. Und damit in Zukunft weniger generisches Maskulinum auf ihrer Seite hat, wenn sie nicht überall einzeln zurückkorrigiert. Und das sieht dann für ihre Leser so aus, als würden sie sich ebenfalls „beugen“. Also macht sie vorher schon mal ein großes Fass auf, damit sie ihren Lesern hinterher immer mit Verweis auf diesen Artikel sagen kann: wir wollen das nicht, aber wir haben auch nicht die Kapazitäten, die Texte alle zu überarbeiten.
>>> Schneider verweist in ihrem Text auf eine Allensbach-Umfrage, die wieder einmal belegt habe, „dass die überwiegende Zahl der deutschen Bürger nichts vom Gendergestotter hält“ >>>
Nun ja – es fragt sich was die überwiegende Zahl der deutschen Bürgerinnen davon hält und ob deren Meinung nicht die eigentliche Relevanz in dieser Debatte darstellt … :-)
Again … „Made up stuff to be mad about“
Das ist nur Fanservice.
#4 hört sich plausibel an.
Ist gendern jetzt eigentlich elitär oder egalitär? Könnten sich die Gegner da mal einig werden?
@Max
Was ich beängstigend finde. Während woanders im Feuilleton Wohlfühltexte gedruckt werden, kriegt man bei der Welt den Volkszorn serviert. Macht mir ehrlich Angst.
@Earendil: „Elitär“
Ich fände es wichtiger, inklusives und exklusives wir zu differenzieren…
Immer wieder interessant, wie die „Kämpfer*innen für Freiheit“ sich darüber aufregen, wenn andere von ihren Freiheiten Gebrauch machen, wie hier Nachrichtenagenturen von ihre Freiheit, möglichst diskriminierungsfreie Sprache zu verwenden. Sie könnten sich auch einfach über ihre eigene Freiheit freuen, das nicht nachmachen zu müssen.
#4 könnte dicht dran sein an dem eigentlichen Grund für die Aufregung bei der Welt.
Ich freue mich auf nächste Woche, wenn Folge 3 von „Anna Schneider recherchiert schlecht“ hier erscheint. Hat auf jeden Fall Unterhaltungswert.
Besonders gefreut hat mich, dass auch die typische FDP-Angst vor Gleichstellung statt Gleichberechtigung untergebracht wurde – wo kämen wir denn da hin, wenn nicht nur auf dem Papier gleiche Rechte bestünden, sondern die Wahrnehmung dieser Rechte auch noch ermöglicht werden würde!
Ja, da stellt sich auch dem Laien langsam die Frage, worauf exakt Porsche Poschi bei der Rekrutierung neuer Mitarbeiter besonderen Wert legt?
Der angebliche „Journalistendarsteller“ Rezo scheint zumindest die Basics des Berufes besser zu beherrschen, als die „Chefredakteurin Freiheit“.
So sehr ich eure Arbeit schätze, habe ich mich über diesen Artikel leider sehr geärgert.
Zum einen: Die von euch als falsch reklamierte Aussage, dass „die Nachrichtenagenturen planten zu gendern“, ist gar nicht falsch. „Gendern“ heißt nicht zwingend die Verwendung von Sonderzeichen, sondern generell diskrimierungsfreies Sprechen und Schreiben. Wenn ich statt der „Teilnehmer“ von den „Teilnehmenden“ spreche, gendere ich auch. Wenn ich schreibe, dass alle die, die Übermedien lesen, schlauer werden, anstatt zu schreiben, alle Übermedien-Leser würden schlauer, ist auch das gendersensibel. Kurzum, diese Entscheidung der Nachrichtenagenturen ist bedeutend. Ihr schmälert das durch diesen Text extrem. Es geht auch eine wichtige Lektion unter: Auch für die, die das Gender-Sternchen ablehnen, gibt es Möglichkeiten des diskriminierungsfreien Formulierens.
Zum anderen: Was mich an dem Text der „Welt“-Autorin besonders anwidert und was ihr leider gar nicht erwähnt, ist das abschätzige Sprechen von „Gestotter“. Stottern ist eine Behinderung. Dies als pejoratives Attribut für bestimmte Sprechweisen zu verwenden, trifft mich als Betroffenen immer wieder. Es wäre schön, wenn ihr auch solche (höflich formuliert) Stilblüten kritisieren würdet.
@Matthias: Ich glaube, das Wort „Gendern“ ist nicht klar und eindeutig definiert. Einerseits wird es verwendet, um diskriminierungsfreies Schreiben und Sprechen zu bezeichnen, andererseits aber auch häufig benutzt, um gerade die kontroversen Formen mit Sternchen u.a. zu bezeichnen. Die Autorin der „Welt“ machte in ihrem Text in seiner ursprünglichen Form sehr klar, dass sie sich auf solche Formen bezog.
Der Hinweis auf den sehr problematischen Einsatz des Wortes „Stottern“ stimmt natürlich. Wir haben in solchen Artikeln nicht den Anspruch auf Vollständigkeit – ich finde in der Argumentation des Textes noch mehr falsch, als ich hier aufgeschrieben habe. Aber gerade, weil wir selbst das Wort „Gendergestotter“ so prominent in die Überschrift genommen haben, hätten wir darauf eingehen sollen.