Es ist eine schöne und sehr romantische Botschaft, die der Schriftsteller und Jurist Ferdinand von Schirach jungen Journalisten auf den Weg gibt: Verschwendet nicht die Zeit am Schreibtisch, sondern geht nach draußen, seid vor Ort, nehmt die Dinge selbst in Augenschein, um „für uns, für Ihre Leser, Zuhörer und Zuschauer“ Tatsachen zu ermitteln. „Achten Sie darauf, dass Ihr Büro leer ist“, überschrieb die „Welt“ den Abdruck der Rede, die von Schirach Anfang des Monats beim Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus gehalten hat.
Tatsächlich bedient von Schirach hier einen in Teilen falschen Mythos.
Der Autor
Olaf Storbeck, 47, ist seit 2017 Frankfurt-Korrespondent der „Financial Times“. Zuvor war er Germany Columnist bei Reuters Breakingviews in London und Redakteur für das „Handelsblatt“ in Düsseldorf und London. Er ist Absolvent der Kölner Journalistenschule und Diplom-Volkswirt.
Erstens gibt es viele Journalisten, die tagein, tagaus am Schreibtisch sitzen und dort immens wichtige Jobs erledigen – all die Kollegen, die in den Newsrooms dieser Welt das Blatt machen, sich um die Themenplanung kümmern, die oft kruden Texte der vermeintlichen Reporter-Edelfedern in halbwegs lesbare Form bringen. Ohne die vielen Kollegen, die nur in der Mittagspause Tageslicht sehen, kommt kein Medium aus. Nur sind die Desk-Redakteure, die den Maschinenraum am Laufen halten, für Leser, Hörer und Zuschauer zumeist unsichtbar. Auch im redaktionsinternen Prestige-Ranking stehen sie gerade bei deutschen Medien ziemlich weit unten. Zu Unrecht.
Zweitens gilt auch für die Autoren: Das Bild des rasenden Reporters, der seinen Job nur dann gut und richtig macht, wenn er mit Stift, Block, Kamera und Diktiergerät stets möglichst nah am echten Geschehen ist, ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Für einen guten Reporter gilt: Wichtige, wenn nicht gar die wichtigste Arbeit findet im Büro statt.
Der unterschätzte Arbeitsschritt
Und damit meine ich nicht das Aufschreiben der draußen gesammelten Recherche-Ergebnisse, das Jonglieren mit Worten, das Veredeln des Endprodukts.
»Und weil Sie, meine verehrten Damen und Herren, da draußen sind und für uns, für Ihre Leser, Zuhörer und Zuschauer, arbeiten, weil Sie Tatsachen ermitteln und uns sagen, ›was ist‹, ist Ihr ideales Büro – leer.«
Ferdinand von Schirach
Der alles entscheidende – und leider von vielen Kollegen unterschätzte – Arbeitsschritt ist: die Analyse. Das Lesen von Material, das Verstehen von Zusammenhängen, das Zusammensetzen von Puzzle-Stückchen, das Erkennen von Mustern, die weitere Suche nach Hintergrundinformationen, um das Recherchierte besser einordnen zu können. Die Gegenrecherche. Das Nachdenken.
Ein plakatives Beispiel dafür ist der Wirecard-Fall, den von Schirarch in seiner Rede selbst zu Recht als Sternstunde des Journalismus erwähnt: „Der Wirecard-Skandal wurde von der Presse aufgedeckt, nicht von den sozialen Medien.“
Tatsächlich war es die jahrelange Arbeit meiner Kollegen Dan McCrum und Paul Murphy in London sowie Stefania Palma in Singapur, sowie die Recherchen von „Süddeutscher Zeitung“, „Wirtschaftswoche“ und anderen, die einen der größten Wirtschaftsbetrugsfälle seit Jahrzehnten ans Licht gebracht haben.
Reisen nach Singapur und auf die Philippinen
Vor-Ort-Recherchen spielten dabei natürlich eine wichtige Rolle: Dan und Stefania haben in Singapur in tagelangen persönlichen Gesprächen das Vertrauen eines Whistleblowers gewonnen, der Gigabytes von Daten übergab. Stefania ist später auf die Philippinen gereist und stellte fest: Die Geschäftsadresse eines Wirecard-Partners war in Wirklichkeit das Privathaus einen pensionierten Fischers, der noch nie etwas von der Firma aus Deutschland gehört hatte. Ein anderer, angeblich wichtiger Wirecard-Partner teilte sich seine Büros mit einem Busunternehmen.
»Wenn der alte Spruch wahr ist, dass die Themen auf der Straße liegen, dann müssen Journalistinnen und Journalisten auch tatsächlich auf die Straße gehen, um die Themen dort zu finden.«
Die Kollegen der „Wirtschaftswoche“ haben in Dubai einen anderen Geschäftspartner besucht und festgestellt, dass sich tagelang kaum jemand in den Büros blicken ließ. Wie sollte unter diesen Umständen die hohen Umsätze zustande kommen, die Wirecard in dieser Region angeblich erzielte?
Aber so wichtig die Vor-Ort-Recherchen auch waren, so viele Zweifel sie an der Fassade von Wirecard auch nährten – der letzte Sargnagel für das Betrugsunternehmen waren sie nicht.
Monate in einer fensterlosen Kammer
Zu Fall gebracht wurde die deutsche Möchtegern-Erfolgsgeschichte in einer fensterlosen Kammer direkt am Südufer der Themse in London: One Southwark Bridge, der damalige Redaktionssitz der „Financial Times“. Drei Monate lang hat sich Dan nach seiner Singapur-Reise dorthin verzogen.
Er hat an einem Laptop gearbeitet, der nicht ans Internet angeschlossen war und jeden Abend in den Tresor der Redaktion gelegt wurde. Er hat die Datenmengen durchgearbeitet, die der Whistelblower übergeben hatte und die dieser selbst gar nicht bis ins Detail kannte: interne Emails, Chatprotokolle und Exceltabellen.
Bei der Interpretation der Funde haben mehrere Informanten geholfen. Darauf folgte eine journalistische Fleißaufgabe, die eine Strafarbeit für jeden Praktikanten gewesen wäre: Per Telefon und E-Mail stieg Dan über 30 Unternehmen hinterher, die auf einer Kundenliste standen und die auf dem Papier für Millionen-Umsätze verantwortlich waren. Er stellte fest: Die meisten dieser Unternehmen gab es entweder nicht, oder sie hatten nie etwas von Wirecard gehört.
Es waren diese Rechercheergebnisse, und die parallel dazu online veröffentlichten Original-Dokumente von Wirecard, die den Anfang vom Ende der Betrügerbande einläutete: Der Wirecard-Aufsichtsrat beauftragte wenige Tage nach dem Erscheinen des Textes im Oktober 2019 die Betrugsermittler von KPMG mit einer Sonderprüfung; danach schauten Wirecards Wirtschaftsprüfer von EY genauer hin und stellten fest: 1,9 Milliarden Euro existierten nicht.
Ohne die monatelange Analyse der Whistleblower-Daten und die anschließende journalistische Kärrner-Arbeit würden Wirecard und EY wahrscheinlich bis heute das nicht vorhandene Geld zählen.
Ich selbst bin erst ab Ende 2019, als sich der Fokus des Falles nach und nach von Asien nach Deutschland verlagerte, mit in die investigative Recherche eingestiegen. Richtig los ging es für mich mit der Insolvenz von Wirecard im Juni 2020 – mitten in der Pandemie, zu einer Zeit, in der Reisen und persönliche Treffen mit Informanten nur begrenzt möglich war. Ich musste viel mehr am Schreibtisch sitzen, als mir lieb gewesen wäre – und habe doch in den vergangenen 12 Monaten so viele investigative Artikel geschrieben wie nie zuvor.
Mehr als eine Disziplin im journalistischen Zehnkampf
Es ist verständlich, dass Schriftsteller und Berufsanfänger ein romantisierendes Bild der journalistischen Arbeit haben. Natürlich sind die geheimen Treffen mit Informanten in Hotel-Besprechungsräumen, die unter falschem Namen reserviert wurden und bei denen die Handys im Rucksack auf dem Balkon zwischengelagert werden, viel aufregender.
Und natürlich ist in Zeiten, in denen viele Redaktionen so weit zusammengespart werden, dass die übrig gebliebenen Kollegen nicht mehr genug Ressourcen für eine halbwegs unfallfreie Tagesproduktion im Newsroom aus haben, der Hinweis auf die Vor-Ort-Recherche wichtig.
Aber die wichtigste Arbeit findet am Ende eben doch am Schreibtisch statt. Das mag in den Ohren junger Journalisten langweilig klingen. Doch wer nur immer nur vor Ort ist, wessen Büro immer leer ist, der arbeitet wie ein Zehnkämpfer, der nur in einer Disziplin glänzt.
Ohne die gesamte Rede von Ferdinand von Schirach zu kennen, stimme ich dem Beitrag nicht in Gänze zu. Es geht um die richtige Balance: Das Netzwerken, die Reportagen, die Eindrücke sind Aspekte, die meiner Meinung nach vor allem in Präsenz passieren sollten. Ein direktes Gespräch bei einem Kaffee ist fruchtbarer als ein Telefonat oder E-Mail-Verkehr. Ein „leeres Büro“ ist genauso fatal, da hier – wie Herr Storbeck korrekt beleuchtet – wichtige Arbeitsschritte passieren. Am Schreibtisch alleine wäre Wirecard aber auch nicht aufgedeckt worden. Und die Arbeit des News-Desks mag unterschätzt sein, dafür muss sie aber auch ernsthaft betrieben werden. Ich sehe hier im Zusammenspiel von „Reporter-Editor“, wie es ja immer gängiger wird, noch enormen Verbesserungsbedarf.
Nun deckt ja nicht jeder Journalist alle paar Tage einen Wirecard-Skandal auf, die allermeisten von uns nicht mal einmal im Berufsleben. Wer jemals die Zeitungsproduktion von innen kennengelernt hat, der weiß, wie viele Rädchen da ineinander greifen. Auch nach über 40 Jahren im Job wundere ich mich immer wieder, dass aus dem tagtäglichen Wirbel jeden Abend eine ordentliche Zeitung herauskommt. Dafür sind natürlich die Kollegen in den Newsrooms, die Blattmacher imd viele andere im sogenannten Maschinenraum ebenso beteiligt wie die Reporter draußen. Und auch die haben nicht ständig die Straße unter den Füßen. Sollten sie aber regelmäßig.
Monate im journalistischen Homeoffice, ohne Treffen mit Menschen, ohne Eindrücke von vor Ort, haben mir mehr als die langjährige Berufspraxis vor Augen geführt, wie wichtig es ist, als Reporterin den Schreibtisch zu verlassen. Wie sollen wir das Leben abbilden, wenn wir das Leben nicht sehen dürfen. Noch jetzt, bei Inzidenzen, die hier zwischen null und 4,5 liegen, höre ich immer wieder, dass irgendwelche Reportage-Besuche wegen der Corona-Gefahr nicht zugelassen werden könnten, selbst dort nicht, wo keine Gefahr besteht, etwa in technischen Einrichtungen mit kaum Menschen. Oft denke ich, da wird mit dem Corona-Argument versucht, Journalisten draußen zu halten.
Zurück an den Schreibtisch: Natürlich brauchen auch wir Reporter den. Selbst ohne Wirecard-Skandal. Auch wir müssen unsere Informationen überprüfen, Recherche leisten, uns auf Reportage-Besuche vorbereiten. Es ist nicht „die wichtigste Arbeit“, die da geleistet wird, sondern eine ebenso wichtige wie die, draußen unterwegs zu sein, Themen zu finden, Eindrücke zu sammeln, mit echten Menschen ins Gespräch zu kommen. Nur so erfahren wie, was sie interessiert und was unsere Themen sein sollten.
So viel aus der Sicht einer kleinen Landreporterin.
Ich bin TV-Reporter und reise viel, wenn ich nicht am Schneidetisch sitze. Ich weiß deshalb, wie wichtig gute Redakteure und Redakteurinnen im „Innendienst“ sind. Ohne gebildete, phantasievolle Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen in der Redaktion kommt keine gute Geschichte zustande. Ich bin sehr auf gute Gespräche mit ihnen angewiesen, damit ich meine Ideen an den/die Mann/ Frau bringen kann, aber auch damit sie mir helfen können, wenn ich mal nicht weiter komme mit einer Geschichte. Nicht habe jedenfalls schon einige Kolleg/innen vor dem Einbruch, vor Fehlern bewahrt!
Ohne die gesamte Rede von Ferdinand von Schirach zu kennen, stimme ich dem Beitrag nicht in Gänze zu. Es geht um die richtige Balance: Das Netzwerken, die Reportagen, die Eindrücke sind Aspekte, die meiner Meinung nach vor allem in Präsenz passieren sollten. Ein direktes Gespräch bei einem Kaffee ist fruchtbarer als ein Telefonat oder E-Mail-Verkehr. Ein „leeres Büro“ ist genauso fatal, da hier – wie Herr Storbeck korrekt beleuchtet – wichtige Arbeitsschritte passieren. Am Schreibtisch alleine wäre Wirecard aber auch nicht aufgedeckt worden. Und die Arbeit des News-Desks mag unterschätzt sein, dafür muss sie aber auch ernsthaft betrieben werden. Ich sehe hier im Zusammenspiel von „Reporter-Editor“, wie es ja immer gängiger wird, noch enormen Verbesserungsbedarf.
Nun deckt ja nicht jeder Journalist alle paar Tage einen Wirecard-Skandal auf, die allermeisten von uns nicht mal einmal im Berufsleben. Wer jemals die Zeitungsproduktion von innen kennengelernt hat, der weiß, wie viele Rädchen da ineinander greifen. Auch nach über 40 Jahren im Job wundere ich mich immer wieder, dass aus dem tagtäglichen Wirbel jeden Abend eine ordentliche Zeitung herauskommt. Dafür sind natürlich die Kollegen in den Newsrooms, die Blattmacher imd viele andere im sogenannten Maschinenraum ebenso beteiligt wie die Reporter draußen. Und auch die haben nicht ständig die Straße unter den Füßen. Sollten sie aber regelmäßig.
Monate im journalistischen Homeoffice, ohne Treffen mit Menschen, ohne Eindrücke von vor Ort, haben mir mehr als die langjährige Berufspraxis vor Augen geführt, wie wichtig es ist, als Reporterin den Schreibtisch zu verlassen. Wie sollen wir das Leben abbilden, wenn wir das Leben nicht sehen dürfen. Noch jetzt, bei Inzidenzen, die hier zwischen null und 4,5 liegen, höre ich immer wieder, dass irgendwelche Reportage-Besuche wegen der Corona-Gefahr nicht zugelassen werden könnten, selbst dort nicht, wo keine Gefahr besteht, etwa in technischen Einrichtungen mit kaum Menschen. Oft denke ich, da wird mit dem Corona-Argument versucht, Journalisten draußen zu halten.
Zurück an den Schreibtisch: Natürlich brauchen auch wir Reporter den. Selbst ohne Wirecard-Skandal. Auch wir müssen unsere Informationen überprüfen, Recherche leisten, uns auf Reportage-Besuche vorbereiten. Es ist nicht „die wichtigste Arbeit“, die da geleistet wird, sondern eine ebenso wichtige wie die, draußen unterwegs zu sein, Themen zu finden, Eindrücke zu sammeln, mit echten Menschen ins Gespräch zu kommen. Nur so erfahren wie, was sie interessiert und was unsere Themen sein sollten.
So viel aus der Sicht einer kleinen Landreporterin.
Ich bin TV-Reporter und reise viel, wenn ich nicht am Schneidetisch sitze. Ich weiß deshalb, wie wichtig gute Redakteure und Redakteurinnen im „Innendienst“ sind. Ohne gebildete, phantasievolle Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen in der Redaktion kommt keine gute Geschichte zustande. Ich bin sehr auf gute Gespräche mit ihnen angewiesen, damit ich meine Ideen an den/die Mann/ Frau bringen kann, aber auch damit sie mir helfen können, wenn ich mal nicht weiter komme mit einer Geschichte. Nicht habe jedenfalls schon einige Kolleg/innen vor dem Einbruch, vor Fehlern bewahrt!