Der Autor
Jürn Kruse ist Redaktionsleiter von Übermedien. Er hat in Leipzig Journalistik studiert, wurde an der Axel-Springer-Akademie ausgebildet und war acht Jahre Redakteur bei der „taz“.
Vor knapp zwei Monaten hat der „New Yorker“ zugeben müssen, dass an einem Artikel über das Menschenverleih-Geschäft in Japan etwas Grundlegendes nicht stimmte. Das US-Magazin war wohl auf einen Lügner hereingefallen. Dennoch strahlte der Hörfunksender RBB noch im Januar zweimal ein Feature aus, das sich mit demselben Thema befasst und in Teilen auf die Aussagen desselben Mannes beruft.
Der Japaner Yuichi Ishii hat 2009 die Agentur Family Romance gegründet. Sie vermittelt Schauspieler, die dann Verwandte, Partner oder Freunde von zahlenden Klienten spielen.
Ishii behauptet, dass er seit Jahren von einer alleinerziehenden Mutter als falscher Vater für ihre Tochter gebucht würde. Mit dieser Erzählung geht er in vielen Medien hausieren. Doch das soll nach Recherchen des „New Yorker“ schlicht nicht wahr sein. Ishii sei mit der Mutter jenes Kindes verheiratet.
Mitte Dezember stellte der „New Yorker“ ein langes Statement vor seinen Text: Was man unter anderem über Ishii und dessen Frau herausgefunden habe, widerspreche fundamentalen Teilen ihrer Geschichten und „untergrabe die Glaubwürdigkeit dessen, was sie uns erzählt haben.“ Die „Washington Post“ berichtete über die Korrektur, anschließend viele weitere US-Medien – und in Deutschland Übermedien und Deutschlandfunk Kultur.
Dennoch lief am Mittwoch, den 20. Januar, und am folgenden Samstag beim Radiosender RBB Kultur ein Hörfunk-Feature „Fake Family – Menschenverleih in Japan“ , das sich auch auf Yuichi Ishii stützt. Das Stück war von WDR und Deutschlandfunk Kultur produziert und bereits im Dezember 2019 veröffentlicht worden.
Warum wurde es trotz der Hinweise auf die zweifelhafte Glaubwürdigkeit Ishiis noch zwei Mal im RBB-Hörfunk wiederholt? „Am Wahrheitsgehalt des Features ändert sich nichts in der Weise, dass wir es vom Sender hätten nehmen müssen“, sagt Jens Jarisch, Redaktionsleiter Doku & Drama bei RBB Kultur. Der Autor habe Zweifel an der Geschichte eingeräumt, aber betont, dass es die Agentur Family Romance tatsächlich gebe.
Das ist nur gar nicht die Frage. Bei der Warnung des „New Yorker“ ging es nicht um die Agentur, es ging um Ishiis Geschichte von sich und dem Mädchen.
Jarisch erschienen die Zweifel an Ishii und dessen Geschichte „nicht schwerwiegend genug“, um das Feature aus dem Programm zu nehmen. „Wenn ich etwas aus dem Programm nehme, dann schade ich dem Autor“, sagt er. Das wollte er nicht. „Dass diese Geschichte nicht stimmt, wissen wir ja auch nur durch Hörensagen vom ‚New Yorker‘.“ Wir wüssten es alle nicht genau, ob die Geschichte von Ishii und dem Mädchen wahr sei – oder nicht. „Zur Zeit habe ich keinen Beleg, dass da irgendwas an dem Feature nicht stimmt. Im Zweifel für den Angeklagten“, sagt Jarisch. Also für den Autor.
Jürn Kruse ist Redaktionsleiter von Übermedien. Er hat in Leipzig Journalistik studiert, wurde an der Axel-Springer-Akademie ausgebildet und war acht Jahre Redakteur bei der „taz“.
Das erste Aber: Auch wenn die Infos, dass Ishiis Geschichte nicht stimmte, nur auf Recherchen des „New Yorker“ beruhten, so kann man doch davon ausgehen, dass das Magazin nicht leichtfertig seinem Text eine solche Warnung voranstellt. Zumal einem Text, für den die Autorin Elif Batuman 2018 einen der renommiertesten Magazin-Preise gewonnen hatte – und der Ausgangspunkt für viele weitere Geschichten über Ishii, Family Romance und ganz allgemein das Menschenverleih-Geschäft in Japan war.
Dementsprechend lange hatte die Redaktion der Story hinterherrecherchiert. Schon im Mai 2019 war bekannt geworden, dass der „New Yorker“ der eigenen Geschichte über Ishii und Family Romance noch einmal auf den Grund gehen würde. Damals hatten laut „Wall Street Journal“ japanische Medien Zweifel an der Glaubwürdigkeit Ishiis aufgeworfen und das japanische Fernsehen bereits seine Zuschauer*innen um Entschuldigung gebeten – für falsche Darstellungen in einer Doku über Ishii und Family Romance.
Der „New Yorker“ war also nicht allein. Er war nur der prominenteste Fall. Den Preis hat das Magazin mittlerweile zurückgegeben.
Das zweite Aber: Müsste im Zweifel nicht im Sinne der Zuhörer*innen entschieden werden – und nicht im Sinne des Autors? Also bei einem begründeten Zweifel an der Glaubwürdigkeit eines Hauptprotagonisten das ganze Feature erstmal aus dem Programm genommen werden, um zu klären, was wahr ist und was nicht?
Jarisch sagt, dass es in dem Feature um viel mehr gehe: „um Schein und Sein“ in der japanischen Gesellschaft. „Das Feature ist als Gesamtwerk zu sehen. Es endet ja auch mit einer Weiterführung der Idee vom Familienverleih.“ Es gehe weit über die Geschichte von Ishii und dem Mädchen hinaus, die nur einen kleinen Teil ausgemacht habe. „Ich sehe es als tragbar an, das zu senden – auch verbunden mit dem Risiko, dass da jemand womöglich nicht die Wahrheit sagt.“
Dass das 54 Minuten lange Feature über die Geschichte von Ishii hinausgeht, ist unbestritten. Allerdings zieht sich die Story von Michiko, dem gemobbten zehnjährigen Mädchen, und ihrem Fake-Vater durch das gesamte Stück. Es ist nicht eine Episode am Anfang oder am Ende. Es ist die Geschichte, die ein ganzes Business illustriert.
In dem Radiofeature spricht eine Erzählerin immer wieder Dialoge zwischen Ishii und Michiko nach.
„Michiko ist glücklich. Endlich hat sie einen Vater. Wenn auch auf beschränkte Zeit. Weiterhin lässt nichts sie ahnen, was wirklich los ist. Dass er, der Vater, nur sein Geld verdient, und Komödie spielt. Das Mobbing in der Schule soll aufhören. Das war ursprünglich sein Auftrag. Längst hat Michiko Gefühle für ihren Vater entwickelt und freut sich, ihn so regelmäßig zu sehen. ‚Geh nicht wieder‘, fleht sie ihn an, den Tränen nahe. Das berührt ihn. Und doch, manchmal kommt es ihm vor, weiß er mit all diesen Rollen selber nicht mehr, wer er eigentlich ist, was er fühlt, wer es fühlt. Schnell schiebt er die Gedanken zur Seite. Er muss los. Der nächste Kunde wartet bereits.“
An einer anderen Stelle geht es um Michikos Mutter, die sich die vielen Gespräche mit Ishii wohl zu sehr zu Herzen genommen habe.
„Sie weiß nicht, dass er in seiner Laufbahn als Mietehemann oder Vater bereits an die 200 Heiratsanträge erhalten und alle abgelehnt hat.“
Sie wolle wohl das falsche Vater-Mutter-Kind-Spiel in eine dauerhafte Beziehung umwandeln. Doch:
„Herrn Ishii wird das zu viel. ‚Sie haben sich in ein Bestellformular verliebt‘, entgegnet er scharf. Und dann: ‚Am besten Sie buchen mich das nächste Mal als Leiche. Schön aufgebahrt in der Leichenhalle, damit alle sehen, dass ich – der Vater – tot bin. Dann wird das alles hier ein glückliches Ende nehmen.’“
Doch wenn man – wie übrigens der „New Yorker“ selbst auch – zu dem Schluss kommt, dass die Geschichte trotz der inkriminierten Passagen einen solchen Wert hat, dass es dennoch gelesen oder gehört werden sollte, müsste man dann nicht im Sinne der Zuhörer*innen deutlicher auf die problematischen Stellen in dem Feature hinweisen? Am Mittwoch war überhaupt kein Hinweis gesendet worden. Am Samstag wurden vom Moderator zwei Sätze vorgelesen – nach dem fast einstündigen Feature. Es waren dieselben Sätze, wie sie auch auf der Sendungsseite bei RBB Kultur standen:
„Seit der Recherche zu diesem Feature sind Zweifel an manchen Selbstaussagen des Protagonisten Yuichi Ishii zu seiner Biographie und Arbeit bekannt geworden. Dies hat aus unserer Sicht jedoch keinen Einfluss auf den Wahrheitsgehalt unserer Darstellung der Arbeit von Menschen-Verleih-Agenturen in Japan.“
„Das ist schiefgegangen“, sagt Jarisch: „Besser überhaupt ein Satz als gar kein Satz. Besser nachher als gar nicht. Aber: Vorher und ausführlicher wäre besser gewesen.“ Man hätte es nicht bei diesem kurzen Statement belassen, sondern deutlicher machen sollen, wer welche Zweifel erhoben hat, sagt er. „Und warum es im gesamten Kontext des Features hinnehmbar ist, mit dieser Unsicherheit zu leben.“
Jarisch wäre dafür gewesen, das Feature zu überarbeiten. Aber: Diese Überarbeitung hätte der RBB nicht einfach vornehmen können. „Wir sind nicht die Produzenten, uns sind die Hände gebunden.“
Deutschlandfunk Kultur entschied am Freitag, das Stück komplett zurückzuziehen – und kritisierte gleichzeitig die Aufarbeitung im eigenen Haus: Denn im Programm von Deutschland Kultur wurde nicht nur die persönliche Geschichte von Ishii in Frage gestellt, sondern auch die Existenz der ganzen Agentur. Den entsprechenden Beitrag hat der Sender mittlerweile zu größten Teilen entfernt.
Auf der Seite von Deutschlandfunk Kultur heißt es nun:
„Die Behauptung in der Sendung Kompressor vom 11.1.2021, dass die Agentur des Protagonisten Yuichi Ishii nicht existiert, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht zweifelsfrei belegt werden. Redaktion und Autor prüfen die erhobenen Vorwürfe in alle Richtungen und werden Ergebnisse entsprechend publizieren.“
Auch RBB Kultur veröffentlichte eine längere Anmerkung:
„Fakt oder Fiktion – um diese Frage kreist das Feature ‚Fake Family‘, das von vorgetäuschten Beziehungen in Japan erzählt. Das Feature spielt dabei in künstlerischer Absicht auch in der Form mit Sein und Schein. Da aufgekommene Zweifel an Aussagen eine*s der Protagonist*innen des Features, Yuichi Ishii – sowie die bewusste Unschärfe in der Trennung faktischer und fiktiver Inhalte – irritiert haben, wird das Feature vom Produzenten Deutschlandfunk Kultur derzeit geprüft und überarbeitet. Bis zur Fertigstellung hat Deutschlandfunk Kultur die ursprüngliche Fassung des Features zurückgezogen. Wir werden die überarbeitete Fassung hier veröffentlichen, sobald sie uns vorliegt.“
In dem Feature unterhält sich der Autor mit Yuichi Ishii übrigens an einer Stelle über das Wort „Truth“, das auf dessen T-Shirt steht. Doch der Japaner weiß überhaupt nicht, was Truth bedeutet, er kennt das englische Wort schlicht nicht – und der Erzähler sinniert aus dem Off: „Wahrheit und Lüge, das sind Konzepte, die sich im Arbeitsumfeld von Ishii nach eigenen Gesetzen definieren.“
Das immerhin scheint zweifellos zu stimmen.
Mich erschüttert das alles. Sehr. Und zwar wirklich in den Grundfesten meiner radiojournalistischen Überzeugungen.
Wie kann es sein, dass so ein Stück unverändert auf Sendung geht?
Wie kann es sein, dass Redaktionen erst lange darüber diskutieren müssen, ob und wie man mit Zweifeln an so einer Geschichte umzugehen hat?
Für mich ist klar, dass das Publikum sofort und unverzüglich darüber informiert werden muss. Gerne detailgenau wenn nötig. Gerne mit möglichen Unklarheiten, so sie denn noch bestehen.
Ich frage mich auch: (Warum) Entcheidet das jede Redaktion wieder neu? Sollten nicht die produzierenden und redaktionell verantwortlichen Redaktionen alle anderen von sich aus aktiv über Zweifel informieren und Hinweise veranlassen?
Doch. Finde ich. Dringend.
Stattdessen stand das Feature mehrfach an diversen Stellen ohne Hinweis abrufbar. Auch via Audiothek und Podcatcher. Mir macht das ganz fürchterliche Bauchschmerzen. Denn ich bin selber Radiojournalistin.
Ich werbe oft für Radiofeatures, weil ich sie als journalistische Produkte schätze und für unterschätzt halte. Ich habe einst fair radio mitbegründet, eine Initiative, die sich für mehr Glaubwürdigkeit im Radio einsetzt, und mir liegt Transparenz in solchen Dingen am Herzen.
Geradezu schockiert hat mich der erste Hinweis, die Zweifel an dem Protagonisten Ishii, hätten „keinen Einfluss auf den Wahrheitsgehalt unserer Darstellung der Arbeit von Menschen-Verleih-Agenturen in Japan“.
Für mich las sich das wie einst die Rechtfertigung des TV-Fälschers Born, der unter anderem Schauspielkinder rekrutiert hatte, um Kinderarbeit in der Textilindustrie szenisch nachzustellen und diese Szenen als echte Aufnahmen von vor Ort ausgab. Als das aufflog, rechtfertigte er sich damit, dass es doch wirklich Kinderarbeit gebe, da sei es doch ok das zu bebildern.
Aber: Nein. Nein. Nein. Selbst wenn Herr Ishii Dinge gesagt hat, die auch ein Familienagenturbesitzer über eine unzweifelhaft wahre Geschichte gesagt hätte, selbst wenn unzweifelhaft viel philosophisch anregendes in seiner möglicherweise erfundenen Geschichte steckt: So lange nicht klar ist, wie unzweifelhaft sie wirklich ist, muss das auch für das Publikum als nicht unzweifelhaft erkennbar gemacht werden. In Ankündigungstexten, in Anmoderationen, im Audio. Es gibt keine Alternative. Auch nicht für Features. Andernfalls möchte ich sie nicht mehr hören und dafür werben. Ich hoffe, der Fall setzt da etwas in Gang. Dringend.
Touchée.
Gerade im Format „Feature“, wo ja qua Prinzip die Regler für „Blumiges-Ausstaffieren“ gerne mal auf 11 gedreht werden, muss doch mindestens der Unterbau solide recherchiert sein. Tanzen lässt sich nur auf einem stabilen Boden, nicht auf einer Hüpfburg.
(Als Beispiel für ein Feature, in dem trotz Pathos und wundersamen Ereignissen die Unwägbarkeiten des Erzählten deutlich gemacht werden, ohne dem Stück den Zauber zu nehmen, möchte ich die Geschichte von Pippi Langstrumpf und den vergessenen Kindern aus Papua-Neuguinea anbringen: https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-dok5-das-feature/audio-pippi-und-die-vergessenen-kinder-papua-neuguineas-100.html)
Die zögerlich nachlaufenden Einordnungsversuche des RBB können das leider nicht liefern, weshalb ich mir eine konsequentes Entfernen aus den Mediatheken gewünscht hätte, verbunden mit einem zähneknirschenden Hinweis „Da sind wir wohl einer Geschichte hinterhergelaufen, die zu schön war, um wahr zu sein und haben uns verrannt.“
Dem Format „Feature“ läuft meiner Meinung nach ansonsten Gefahr, bei den Zuhörenden als Kuchen aus Fantasie mit Verzierungen aus Realität wahrgenommen zu werden, nicht umgekehrt.
@Nils:
Was für ein schöner Satz: „Tanzen lässt sich nur auf einem stabilen Boden, nicht auf einer Hüpfburg.“ Danke dafür!
Womit Jarisch zeigt, dass er auch das nicht verstanden hat.
Vor Gericht geht es nur darum, dass der Antragsteller die Legitimität seines Anspruchs zweifelsfrei beweist. Wenn das gelingt, entscheidet das Gericht entsprechend seines Antrags.
Im Strafprozess stellt die Staatsanwaltschaft den Strafantrag. Wird der nicht zweifelsfrei erwiesen, wird der Angeklagte freigesprochen. Das ist schön für den Angeklagten und sieht so aus, als wenn das Gericht für ihn entschieden hätte. Hat es aber nicht, es hat lediglich dem Strafanspruch des Antragstellers (Staatsanwaltschaft) nicht stattgegeben.
Deshalb ergeben sich mit dem Freispruch für den Angeklagten keine (abgesehen von möglichem Schadensersatz wegen U-Haft u.ä.) Ansprüche oder weiterführende Rechte.
Bezogen auf unseren Fall heißt das, es geht nicht darum, die Fälschung nachzuweisen.
Tatsächlich müsste die Richtigkeit der Story bewiesen oder zumindest hinreichend plausibilisiert werden, um damit dem Antrag auf Sendung stattzugeben. Wenn der Protagonist das nicht kann, wäre es noch korrekt wenn der Sender das als Fiction sendet, aber nicht als angebl. Realität.
Gutes Kriterium!
Nur leider, die Haltungsjournalisten kennen genau das nicht. Die produzieren nicht für die Konsumenten, sondern für die Journalistenkonferenz.
@ Jörn (#4)
Und was hat das jetzt alles mit „Haltungsjournalismus“ zu tun?
Dass noch keiner auf „Radiolotius“ gekommen ist … Ich meine, die Pille liegt quasi auf dem Elfmeterpunkt.
@Anderer Max:
[„Dass noch keiner auf „Radiolotius“ gekommen ist … Ich meine, die Pille liegt quasi auf dem Elfmeterpunkt.“]
Nicht wirklich. Oder nur, wenn man etwas schielt. Denn der Unterschied ist – nach derzeitigem Kenntnisstand – ja schon, dass der Feature-Autor nicht mutwillig und in eindeutig inszenierender Absicht, etwas erfunden hätte.
Er ist allem Anschein nach eher auf einen betrügerischen Selbstdarsteller hereingefallen – so wie auch andere KollegInnen.
Das kommt vor. Ob und welches Versagen da beim Autor genau vorliegt, gilt es zu klären.
Derzeit ist für mich vor allem ein Versagen der Redaktionen offen erkennbar: Sie hätten auf Zweifel an dem Stück offen reagieren und das fürs Publikum erkennbar kommunizieren müssen. Eine Ausstrahlung ohne ausführliche weitere Einordnung hätte keinesfalls stattfinden dürfen.
Die Unterschiede zum Fall „Relotius“ scheinen mir deutlich.
Aber klar: Der Fall „Relotius“ hat in der Printwelt eine generelle Diskussion ausgelöst darüber, mit welchen inszenatorisch künstlerischen Formen und Elementen Reportagen arbeiten sollen und dürfen. Und vielleicht macht dieser Fall hier deutlich, dass eine derart grundsätzliche Diskussion auch für Radiofeatures nötig wäre.
Die Reaktion des rbb, wonach die mutmaßlich erfundene Geschichte eines wesentlichen Gesprächspartners „[nichts] am Wahrheitsgehalt des Features ändert .. in der Weise, dass wir es vom Sender hätten nehmen müssen“, legt das jedenfalls nahe.
„Wenn ich etwas aus dem Programm nehme, dann schade ich dem Autor“, sagt er. Das wollte er nicht.
Klingt für mich so, als hätte in diesem speziellen Fall da auch eine persönliche Beziehung eine wichtige Rolle gespielt, wodurch das professionelle Handeln in den Untergrund geriet bzw. die klare Sicht auf die Dinge getrübt. Spekulativ, klingt aber irgendwie an, finde ich.
@Sandra Müller
Das war nur eine ironische Anspielung auf die üm Kommentarspalte, in der eigentlich immer bei Thema „erfundene Geschichten“ der Name „Relotius“ fällt, quasi reflexartig.
Da sich die Dauererwähner des Namens meist für sehr, äääh, redegewandt halten, hatte ich da einen Jimmy Breuer Witz draus gemacht.
Vielen Dank für Ihre detaillierte Erklärung, warum der Vergleich hier nicht wirklich passt. Ich sehe das ähnlich; auch, dass eine grundsätzliche Diskussion hierüber in Sachen Radiofeatures nicht schaden kann.
Tschau mit V!
(Ja, er fehlt mir wirklich …)
Meine Güte, Jarisch. (And OMG, New Yorker!) Das ist doch nun wirklich ein klarer Fall. Ein Beitrag, dessen zentrale Geschichte auf einer Lüge basiert, muss zurückgezogen bzw. nicht mehr gesendet werden, da kann es doch gar keine Diskussionen geben. Der einzige nachvollziehbare Grund, so etwas nicht ganz verschwinden zu lassen, ist die Dokumentation eines journalistischen Fehlers. Das geschieht dann aber an geeigneter Stelle, und das ist ganz gewiss nicht das Radioprogramm.
Jarisch argumentiert: „Das Feature ist als Gesamtwerk zu sehen“. Ja, eben. Wenn ein zentraler Teil davon nicht stimmt, kompromittiert das das Gesamtwerk. In einer Reportage steht ein konkreter und mehr oder weniger ausführlich dargestellter Einzelfall (oder mehrere solcher Fälle) pars pro toto für ein größeres Phänomen. Wenn aber die pars nicht stimmt, kann sie auch nicht für ein totum stehen. Da hilft es auch nicht, wenn das Gesamtphänomen im Großen und Ganzen richtig dargestellt wird, im Gegenteil: Eine unwahre konkrete Geschichte diskreditiert auch die möglicherweise korrekte übrige Darstellung.
Und da hilft auch eine begleitende Einordnung nichts, egal ob vor oder nach der Sendung bzw. dem Text. Das kann (sollte) man machen, wenn sich Details als falsch herausstellen. Aber wenn die zentrale Geschichte nicht stimmt, gibt es für so einen Beitrag nur noch einen gangbaren Weg: ab zum Schrottplatz.
„ein konkreter und mehr oder weniger ausführlich dargestellter Einzelfall (oder mehrere solcher Fälle)“
Da wäre jetzt natürlich meine Frage, wie viele Fälle, die DOCH stimmen, den erfundenen Einzelfall „überstimmen“ könnten.
Aber da dieser Einzelfall anscheinend der einzige Einzelfall ist, ist die Frage erstmal akademisch.
Die Verwahrlosung der Sitten.
Basis des Journalismus sollte doch die Wahrheit sein. Auf diese Basis kann der jeweilige Akteur seine persönliche Duftnote legen oder seine künstlerischen Neigungen ausleben.
Hat doch mal funktioniert. Die SPIEGEL-Dok hat brutal durchgegriffen, die Qualität gesichert. Das strahlt natürlich auch auf die anderen ab, neben der Qualitätszeitung will man ja nicht wie der Volltrottel dastehen. Das war die Zeit, als der Unterschied zwischen seriös und Boulevard nicht gesucht werden musste, er hat sich aufgedrängt, die Buchstabengröße war der kleinste Unterschied.
Vorbei.
Heute kommt zuerst die Haltung, die Wahrheit rangiert unter ferner liefen. Wenn dieser Leuchtturm fehlt, treibt das Schiff irgendwo hin. Und dann kommen absurde Begründen, wie etwa man habe den Nonsens auf Sendung gebracht wegen „Im Zweifel für den Angeklagten“.
Diese „Begründung“ kann man privat nehmen für die Aufrechterhaltung einer Sympathiebeziehung. Im Reportagebereich hat so was nichts zu suchen.