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Warum der Fall Wirecard mehr ist als ein „Skandal“

Titelzeilen sollen vereinfachen, auf den Punkt bringen, Interesse auslösen. Sie rahmen den Text und sie rahmen die Gehirne der Leser:innen bevor diese in den Text steigen. (Das Fachwort heißt Priming.) Dabei müssen Überschriften jedoch wahr bleiben. Sie dürfen nicht lügen. Oftmals schießen Titelzeilen und Teaser übers Ziel hinaus. In dem Anspruch, Leser:innen in den Text zu locken, wird die Wahrheit etwas verbogen, werden Akteure vorverurteilt.

Bei der Medienberichterstattung über Wirecard passiert häufig genau das Gegenteil. Die Überschriften, Teaser und Dachzeilen wirken auffällig oft zurückhaltend.

„Wirecard-Skandal: BaFin-Chef Hufeld muss gehen“, titelte beispielsweise die „Tagesschau“ als Deutschlands oberster Bankenaufseher seinen Platz räumte. Auch als die BaFin einige Mitarbeiter wegen Insiderhandels mit der Wirecard-Aktie anzeigte, überschrieb „Der Spiegel“ die Nachricht in der Dachzeile mit: „Wirecard-Skandal“.

„Skandal“ kommt von griechisch „skándalon“ und bezeichnet ein Ärgernis, ein Geschehnis, das Aufsehen erregt. „Skandal“ heißt „Lärm“, „Radau“. Im Verwendungszusammenhang klingt das meist so: „Das ist ja ein aufsehenerregender Skandal“, „das ist ja skandalös“, „ein skandalöses Benehmen“.

Skandale sind eher unterhaltsam als kriminell

Die Wortwahl „Skandal“ fokussiert das Aufsehen-Erregende. Zum Beispiel als damals der Sängerin Janet Jackson auf der Bühne die Brust aus dem Kostüm rutschte („Nipplegate“). Oder der Skandal, als Marcel Reich Ranicki seine Wutrede anlässlich des Fernsehpreises hielt und selbigen ablehnte. Das war wirklich ein unerhörter Radau. Skandale sind eher unterhaltsam als kriminell.

Titelzeilen, die den Fall Wirecard als „Skandal“ rahmen, stimmen die Öffentlichkeit aufs Entertainment ein. Der Skandal kennt den Vorhang, die Bühne, das Lachen, das Weinen. Erst der Betrug kennt Strafe und Wiedergutmachung. Das ist ein Unterschied. Vor allem in einer Gesellschaft, die es gewohnt ist, in den sozialen Medien Überschriften zu teilen.

Ich bin kein Oberlehrer. Natürlich darf der Riesenbetrug von Wirecard ebenso als „Skandal“ bezeichnet werden. Soviel künstlerische Freiheit ist auch im Journalismus erlaubt.

Zum Problem wird es jedoch, wenn es viele immer wieder so machen. „Wirecard-Skandal“ hat sich als medialer Rahmungsbegriff etabliert. Kaum eine Titel- oder Dachzeile zu dem ehemaligen Dax-Konzern kommt ohne das Skandal-Framing aus.

Schlagzeilen zum so genannten Wirecard-Skandal

Es ließe sich einwenden: Medien sollten nicht vorverurteilen, denn ob es sich um Betrug handelt oder nicht, hätten Gerichte zu entscheiden.

Aber: Ist der Banküberfall erst ein Banküberfall, wenn die Polizei die Verbrecher geschnappt und die Gerichte diese verurteilt haben? Das Geld ist weg und es ist nicht von selbst verschwunden. Es wurde gestohlen.

Gerichte werden entscheiden, wer ganz genau für den Betrug zu verurteilen ist. Und es versteht sich von selbst, dass Betrüger erst „Betrüger“ genannt werden, wenn diese als solche verurteilt sind. Das gebieten die Persönlichkeitsrechte.

Selbst die Polizei titelt „Betrug“

Aber dass es sich bei Wirecard um einen Betrug handelte, das gehört bereits seit einem halben Jahr zur Wahrheit. Nichts anderes haben die Medien selbst – allen voran der Journalist Dan McCrum und die „Financial Times“ – ja aufgedeckt.

Fahndungsplakat von Jan Marsalek
Plakat: Bundeskriminalamt

Das scheint auch die Polizei nicht anders zu sehen, denn sie betitelt die Fahndungsplakate nach Jan Marsalek mit drastischeren – und den wohl richtigen – Worten: „Betrug in Milliardenhöhe“. Alles andere kommt später im Text.

Nun ist die Frage, warum wird diese Wahrheit in den Medien abgeschwächt? Hat ein Journalist mit „Skandal“ begonnen und nun schreiben es alle anderen ab? Oder ist es die Angst, jemanden oder etwas vorzuverurteilen und dann verklagt zu werden?

Warum fällt es vielen Medien gerade in diesem Fall so schwer auf den Punkt zu formulieren? Dieser Betrug ist doch so groß, hier dürften die Dach- und Titelzeilen einmal in aller Deutlichkeit sagen, was ist – ohne künstlich zu übertreiben. Aber nur wenige Überschriften beleuchten die unerhörte und damit berichtenswerte Größe des Betrugs mit Begriffen wie „Riesenbetrug“ oder „Milliardenbetrug“.

Vielmehr klingen diese Wörter wie sensationsheischende Übertreibungen. Warum eigentlich? Kommen sie doch alle der Wahrheit näher als das Wort „Skandal“. Ein Betrug ist bereits ein Skandal. Ein Skandal jedoch noch lange kein Betrug.

Wirecard als Krimi

Reicht das Wort „Betrug“ nicht mehr aus, um Anstoß zu erwecken? Haben wir uns an den Betrug so sehr gewöhnt, dass er gar kein Skandal mehr ist? Ich vermute, hier wirkt das gleiche Muster, das es vielen Medien, Aufseher:innen und Anleger:innen schon zuvor unmöglich machte, den Betrug zu sehen, selbst als über diesen (dank Dan McCrum) bereits berichtet wurde: Vielleicht war Wirecard – mit seinen Maßanzüge und Dienstreisen, als Dax-Konzern mit besten Verbindungen in die Politik, mit all seinem Reichtum – einfach nicht schmutzig genug. Vielleicht passt es einfach nicht in unser Stereotyp von Betrug.

Den Milliardenbetrug noch mehr in die Welt des Entertainments verdängt noch eine weitere Titelzeilen-Metapher, die den Fall Wirecard als „Krimi“ rahmt.

Der Skandal ist besser zu ertragen als der Betrug. Und noch besser ist der Krimi zu ertragen. Da greifen wir lustvoll in die Chipstüte.

Der Skandal ist einfacher wegzustecken

Das soll kein Plädoyer gegen lebendige Titelzeilen und Teaser sein. Aber es geht um die Verantwortung, Texte mit der Wahrheit zu überschreiben. Auch wenn sie lange nicht gesehen wurde oder unseren Vorstellungen widerspricht.

Aber genau das macht den Unterschied zwischen einer informierten und einer unterhaltenen Gesellschaft. Die Informierten haben das Gefühl, etwas ändern zu müssen, wenn es schief läuft. Sie sehen (irgendwann) klarer, dass gewerbsmäßiger Bandenbetrug auch in Designeranzügen geschieht.

Wenn das schneller realisiert wird, dauert es womöglich auch nicht sechs Monate, bis der Chef der zuständigen Finanzaufsicht dazu bewegt werden kann, die ihm übertragene Verantwortung zu übernehmen und seinen Sessel zu räumen. Denn auch die politisch Handelnden stecken einen Skandal besser weg als einen Betrug, der sich unter ihrer Aufsicht abgespielt hat.

6 Kommentare

  1. Ich kann mit „Skandal“ gut leben. Es gab auch einen Watergate-Skandal, einen Neue-Heimat-Skandal und einen CDU-Parteispenden-Skandal, die mit Sicherheit nicht harmloser waren. Das Wort hat einen weiten Bedeutungsumfang, der das Haschisch in der Tasche einer Prominenten ebenso verträgt wie einen großangelegten Wirtschaftsbetrug.

    Was ich allerdings immer weniger vertrage, sind die ständigen Versuche, der Sprache ihre Ambiguität auszutreiben, indem man irgendeinen an sich völlig harmlosen, etablierten Sprachgebrauch („Verschwörungstheorie“, „Flüchtling“) mit weit hergeholten Argumenten als falsch brandmarkt, um dann dauerwoke mit dem moralischen Zeigefinger auf alle zu deuten, die ihn beibehalten.

    Ich warte schon auf das erste „Wenn Du das als einen Skandal bezeichnest, verharmlost Du die Täter!“

  2. Mein Sprachgefühl ist offensichtlich ziemlich anders als das des Autors. Das Wort „Skandal“ klingt für mich nicht unterhaltsam, sondern „schlimmer“ als „Betrug“. Ein Betrug ist im Allgemeinen auch kein Skandal, sondern eine ganz alltägliche Straftat, die in Deutschland jedes Jahr hunderttausende Male vorkommt. Bei Wirecard macht nicht nur die Größenordnung des Betrugs, sondern auch die Rolle der Aufsichtsbehörde den gesamten Vorgang zum Skandal.

    Insofern finde ich zum Beispiel die abgebildete Überschrift „Wirecard-Skandal: Bafin-Chef muss gehen“ treffend, denn der Bafin-Chef ist ja nicht für den Wirecard-Betrug ursächlich verantwortlich, sondern für Vorgänge in diesem Zusammenhang, die in seinem Haus stattgefunden (oder nicht stattgefunden) haben.

    Die Begriffe „Riesenbetrug“ oder „Milliardenbetrug“ finde ich für den Betrug zutreffend und übrigens auch nicht sensationsheischend. In ihnen spiegelt sich aber nur ein Teil des Skandals wider.

  3. Auch der soll vorkommen.

    Der hat einen Bart, muss trotzdem sein.
    Betrug im Sperrbezirk: Bezahlen und Gehen.

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