Weihnachten mit der Familie

Plötzlich … Liebe!

Kaum etwas nervte in den vergangenen Jahren so verlässlich wie die Berichterstattung über den Umstand, dass Weihnachten nervt.

Was „Last Christmas“ für Wham!, das ist die Weihnachtskritik für das Meinungsgeschäft. Sucks, läuft aber super.

Zuletzt kam als Endgegner noch der notorische „AfD-Onkel“ dazu, als Steigerung der üblichen buckligen und ohnehin schon übergriffigen Verwandtschaft.

„So übersteht ihr das Fest mit der Familie“

Würde man die zahllosen Dezembertexte mit Titeln wie „Diese Dinge nerven an Weihnachten“ („Hannoversche Allgemeine“), „Warum das Fest der Liebe häufig ein Graus ist“ („Welt“) oder „So übersteht ihr das Fest mit der Familie“ („Stern“) auf niedriger Flamme lange genug brutzeln lassen, wäre der Sud irgendwann immer auf ein gestöhntes „Soziales stresst!“ heruntergekocht.

Nicht selten schreibt an solchen Texten das Unterbewusste eifrig mit. Gerade dann, wenn sie in die Vorweihnachtszeit hineinveröffentlicht werden, wo ohnehin die Besetzung dünn und die Not an Themen groß ist. Wer dann noch sein Herz auf der Zunge trägt, spricht Wahres.

Wer besonders edgy erscheinen wollte, fand Weihnachten dann doch ganz okay. Die überwiegende Mehrheit der publizistischen Beschäftigungen mit den Feiertagen aber tendierte dazu, an Heiligabend keine gute Tannennadel zu lassen.

Familiäre Verlogenheit und Verfressenheit? Pah!

Diese Tendenz ist kein Weihnachtswunder. Selten wurden solche bissigen Kolumnen oder Ratgeber wie „Wie Weihnachtsmuffel das Fest überstehen“ („Spiegel“) oder „So überlebt ihre Liebe die Feiertage“ („Bild“) von einsamen Eltern oder noch einsameren Großmüttern verfasst – sondern vom Nachwuchs, den der Schreibdrang nach Köln, München, Berlin oder Hamburg verschlagen hat. Orte, von denen aus es sich trefflich über das Ritual schimpfen lässt. Über familiäre Verlogenheit, Verfressenheit. Über Kapitalismus und Konsumismus.

Am Ende fuhr man dann doch wieder hin, Stoff sammeln für nächstes Jahr, wenn es in der Redaktionskonferenz wieder heißt: „Wir brauchen noch was Kritisches zu Weihnachten, wer könnte denn …?“

Aber: Kommendes Jahr war und ist 2020 – und 2020 ist die komplette Berichterstattung gekentert.

Plötzlich sehnen wir angeblich alle „heilsame Feiertage“ („Die Zeit“) herbei, bekanntlich die „Zeit für den perfekten Spiele-Abend“ („Bild“). Kulturstaatsministerin Monika Grütters bekundet in einem frommen Interview, die stille Nacht stille ihre „Sehnsucht nach Trost und Hoffnung“. Ein Journalist packt gar die rhetorische Pumpgun aus („In diesem Fest meiner Familie hat der Staat nichts verloren“) und bringt die Kehre auf den paradoxen Punkt: „Zu Weihnachten drehen viele durch. Aber ohne Weihnachten drehen alle durch“.

Weihnachten ist der Aufsteiger des Jahres

Kaum ist Weihnachten (Stichwort: Lockdown) gefährdet, scheint es im Kurs enorm gestiegen zu sein. Als Endpunkt eines fürchterlichen Jahres, in dem sich die Familie endlich, endlich wieder in den Armen liegen kann. Der „AfD-Onkel“ ist ganz sicher mit dabei, weil er das Virus sowieso für einen Fake hält.

Was ist da passiert?

Drei künstliche Schneemänner in künstlichem Schnee
Foto: Myriam Zilles on Unsplash

Sind „wir“ wirklich, wie Bayerns Ministerpräsident Markus Söder bei „Anne Will“ sagte, eben doch ein „christliches Familienland“? Zunächst sind wir, was die vollen Fußgängerzonen und Media-Märkte kurz vor dem Lockdown belegen, ein konsumfreundliches Land.

Und: Zeitungen geizen mit launigen Meinungsbeiträgen auch deshalb, weil es (Stichwort: Krise!) um handfeste Informationen und Inzidenzwerte geht. Schon fragt das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) mit investigativem Ernst: „Weihnachten mit der Familie noch möglich?“. Die heiterere Variante kommt vom Fachmagazin „Chefkoch“, wo man in aller Unschuld die Frage klärt: „Wie schmeckt Weihnachten 2020?“ Auch „Fit for Fun“ baut vor: „Corona-Weihnachten ohne Familie? So wird es trotzdem ein schönes Fest“. Und sogar Jugendradionetzwerke (Das Ding), sonst eher Sprachrohr der Traditionsskeptiker, bieten plötzlich redaktionelle Tipps: „Wie Weihnachten mit deiner Familie aussehen könnte, checkst du hier!“

Exakt die irrwitzige Zumutung familiär-sozialer Festspiele, die sonst wortreich und nicht grundlos beklagt wird, erscheint plötzlich als Segen, den uns bitte der Staat nicht wegnehmen soll, der lecker schmeckt und irrsinnig wichtig ist für die seelische Volksgesundheit.

Was die Gesundheit der Eltern und Großeltern betrifft, empfehlen die einschlägigen Fachblätter, nach einem überwiegend in den eigenen vier Wänden verbrachten Jahr doch bitte auch noch die Woche vor Weihnachten in freiwilliger Quarantäne zu verbringen – um dann endlich über die Feiertage mal in überhitzten vier Wänden mit dem „AfD-Onkel“ über Maskenpflicht streiten zu können.

Tatü tata, die Bundeswehr ist da

In der höchsten Not hilft, natürlich, die Bundeswehr. An deren Universität hat eine dreijährige Weihnachtsstudie mit 2.700 Befragten ermittelt, „wie ein perfektes Wehrmachts-,“ pardon, „Weihnachtsfest gelingt“. In der entsprechenden Pressemitteilung heißt es bedauernd, „bei 44% der Deutschen“ komme „zu wenig Weihnachtsstimmung“ auf. Das sei aber, anders als anderen Jahren, „dieses Jahr nicht verwunderlich“.

Nach Erkenntnissen der Bundeswehr wird übrigens die Weihnachtsfeier in Firma oder Büro nur von „29% der Menschen vermisst“. Nicht verwunderlich: Die Weihnachtsfeier ist bekanntlich die verlogene, alkoholkranke und sexsüchtige kleine Schwester von Weihnachten – und völlig zurecht das zweitbeliebteste Mäkelthema der vergangenen Jahre gewesen.

Immerhin las man in diesem Dezember noch nirgendwo, wie das betriebliche Beisammensein noch irgendwie zu retten wäre. Was vielleicht ganz gut ist. Sonst drehen am Ende noch alle durch.

13 Kommentare

  1. Gut beobachtet und noch besser geschrieben:
    „Tatü tata, die Bundeswehr ist da“
    Ganz besonders übel, wie diese linken Gammler in Xhain, die Bundeswehr nicht dabeihaben wollten!
    „Nach Erkenntnissen der Bundeswehr wird übrigens die Weihnachtsfeier in Firma oder Büro nur von ‚29% der Menschen vermisst“
    „Eskalierende Weihnachtsfeiern“ braucht kein anständiger Mensch! Das sind ohne Diskussion einfach nur lockere Orgien:
    „Die Polizisten fanden den Arzt (35) und vier Frauen (26/28/38/59) vor“
    Pfui. Weisste Bescheid!

  2. Was soll weihnachten mitten in einer pandemie eigentlich anderes sein als bizarr? Da es 99 % der feiernden peinlicher wäre im zusammenhang mit dem fest den namen jesus christus auch nur auszusprechen ( der laut dem ursprünglichen skript der ganzen geschichte für familienwerte nichts übrig hatte), als auf einer entsprechenden betriebsfeier mit heruntergelassenen hosen und der jeweiligen miss moneypenny öffentlich erwischt zu werden, kann dass mögliche seuchentechnische trostpotential des ganzen brimboriums getrost mit nahe null angegeben werden. Vor allem, wenn weder glühwein noch shopping den gewohnten kollektiven selbstbetrug überdecken können. Also, erhalten wie bestellt. Pseudoreligiöses getue ist halt wie homöpathie gegen corona.

  3. „Exakt die irrwitzige Zumutung familiär-sozialer Festspiele, die sonst wortreich und nicht grundlos beklagt wird, erscheint plötzlich als Segen, den uns bitte der Staat nicht wegnehmen soll, der lecker schmeckt und irrsinnig wichtig ist für die seelische Volksgesundheit.“
    Exakt!

    Dinge sind so lange egal, bis man sie einem „wegnimmt“ (was ja nicht passiert). Kenn ich noch aus dem Kindergarten, da hat Björn dem Mario einen Spielzeugrasenmäher weggenommen weil „der ja eh nicht damit spielt“. Mario fand das nicht so toll und hat bei Mama gepetzt.

    Jetzt wird die Regierung als einfaches Ziel zum „Wegnehmer“ stilisiert und gut ist. Geht ja nicht darum, dass eine globale Pandemie eingedämmt werden soll, sonder um Weihnachten-wegnehmen.
    An Scheinheiligkeit und Größenwahn nicht zu übertreffen.

    Nächstes Jahr dann: „So schlimm war Corona-Weihnachten letztes Jahr! Zur besinnlichsten Zeit starben fast 1.000 Menschen täglich bei uns an Corona!“
    Als ob das heute irgendwen interessieren würde … Uns wird ja schließlich Weihnachten weggenommen. Aber nächstes Jahr beteuern dann alle, dass es ganz schlimm war, ganz schlimm mit den ganzen Toten. Man habe ja auch gerne darauf verzichtet weil man ist ja auch christlich und so … kotz.
    Aber die Kirchen dürfen Gottesdienste ausführen. Is‘ ja Weihnachten.

  4. @AndererMax
    Damit ist die „normale“ Sterblichkeit gemeint. Aber gibt ja einen ganz guten Eindruck, wie signifikant Corona diese erhöht.

    Wirklich schöne Beobachtung im Artikel aufzuzeigen, wie Weihnachten jetzt überhöht wird und ansonsten pseudo-ironisch runtergemacht. Sehr amüsant :-) Ersteres habe ich dieser Tage öfter mal gedacht, das zweite hatte ich nicht so präsent.

    @GC
    Nüchtern betrachtet hat sich das Christentum kultur-historisch betrachtet das heidnische Winterwende-Fest auch einfach zu eigen gemacht, gefeiert würde also auch ohne Jesus, irgendeinen Anlass gibts immer, also was solls. 99% ist aber doch zu hoch gesetzt.

  5. Jesus war nicht gegen Familie, sondern nur dagegen, diese biologisch zu definieren. Außerdem hat er genau den Weihnachtsstress prophezeit:
    „Denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen gegen seinen Vater und die Tochter gegen ihre Mutter und die Schwiegertochter gegen ihre Schwiegermutter.“ Mt 10, 35 Tja.

    Das mit dem Wintersonnenfest ist in der Tat von einem ehemaligen Sonnengottanhänger erfunden worden, die Weihnachtsgeschichte spielt wohl nicht im Winter.

    Aber die ganzen Artikel, die einem erzählen, dass Weihnachten eh‘ stressiger Mist ist, den keiner braucht, und deshalb ruhig ausfallen kann – dasselbe denke ich über Fußball.

  6. „Denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen gegen seinen Vater und die Tochter gegen ihre Mutter und die Schwiegertochter gegen ihre Schwiegermutter.“ Mt 10, 35
    Womit ja bewiesen wäre, dass Frauen für Jesus keine Menschen waren :-)

  7. @1:
    „„Die Polizisten fanden den Arzt (35) und vier Frauen (26/28/38/59) vor“
    Pfui. Weisste Bescheid!“
    Habe ich auch im WDR-Videotext gelesen. Denunziantentum feiert fröhliche Urständ.
    Da trinkt also ein Arzt zusammen mit seinen tagsüber maskentragenden Mitarbeiterinnen zum Feierabend und Jahresabschluss ein bischen was alkoholisches und sie hören Musik dazu, schon kommt die Polizei und nimmt Daten auf.
    Und ich wundere mich über die Leutchen, die auf Demos gehen.
    Irgendwelche haben hier ganz gewaltig einen an der Waffel.
    Frohes Fest…

  8. @Schiesser:
    Oder nur Matthäus, bei Lukas 12,53 steht da nämlich Sohn.
    Oder die Matthäusstelle soll heißen, das _alle_ gegen ihre Väter sind, nicht nur die Söhne. *g

  9. Ich persönlich finde den Weihnachtszwang trotz Corona weiterhin fragwürdig. Vielmehr freu ich mich sogar darüber, dass ich mich dieses Jahr nicht erklären muss, warum ich weder Geschenke verteile, noch mit der scheinheiligen Familie verbringen möchte. Das Fest mag ja wahrlich schön sein für alle, die keine Misshandlungen in der Familie erfahren haben. Mein Umfeld ist voll von einst misshandelten Menschen, die durchaus auch Jahrzehnte danach noch unter den Folgen leiden. Viele reden es sich aber schön, haben Verständnis für die früheren Peiniger entwickelt oder halten es des Frieden willens einfach nur aus. Wenige haben sich wirklich versöhnt und ein Haltung des Verzeihens entwickelt und halten genau deshalb den Kontakt. Und nur wenige stemmen sich tatsächlich gegen den gesellschaftlichen Druck. Offenbar ist dann das Schreiben der kritischen Artikel ein entlastendes Ventil.

    Mit Misshandlungen meine ich übrigens nicht nur körperliche Gewalt, sondern der (oft unerkannte) Psychoterror, spirituelle Gewalt, Gehorsamsdoktrin, leistungsgebundene Erpressung (zum Beispiel gute Noten mit Belohnung verknüpfen), überwältigende Distanzlosigkeit (als Vertrauen oder Freundschaft verkauft) oder auch nur Einfluss auf Freundschaften.

    Zugegeben, ich bin ein gebranntes Kind und habe erst dank vieler Therapien erkannt, was mir als Kind angetan wurde. Vieles davon hielt ich für Nichtigkeiten und im Kontext meiner sehr gläubigen, extrem freundlichen und schon immer caritativ tätigen Eltern für nicht beklagbar. Gedanken wie „Sie wussten es nicht besser, sie waren selbst hilflos, ihre Kindheit im Krieg war ja viel krasser als meine …“ waren lange meine Begleiter. Und das sehe ich auch bei vielen meiner Bekannten, die im schlimmsten Fall sogar ihre eigenen Kinder so behandeln, wie sie einst behandelt wurden, nur noch subtiler und somit noch schwerer anklagbar.

    Mir ist natürlich klar, dass gemeinsame Rituale nicht unwichtig sind für funktionierende Gesellschaften, aber ob sie substanzlos und inszeniert sein müssen, frage ich mich ernsthaft. Ist es ein Naturgesetz, das einst sinnvolle Rituale mit der Zeit immer ausgehöhlt und nur noch nachgeäfft werden?

  10. @11: Nicht böse gemeint, aber ich glaube das Thema „Misshandlungen“ sprengt hier dann doch eher den Kontext. Dass die Weihnachts-Heuchelei in so einem Fall besonders wehtut kann ich gut nachvollziehen.

    Der letzt Absatz ist spannend. Wann wird eine gemeinsame Veranstaltung zum Ritual ohne Inhalt? Wer schenkt morgen weil es gesellschaftliche Konvention ist und wer schenkt morgen weil 3 heilige Könige ein Geschenk zur Geburt ihres Propheten mitbrachten? Denke das Verhältnis liegt so bei 97-3?

    Ein Naturgesetz ist das natürlich nicht, aber menschlich.
    Beten wir nun die Sandale an oder die Öllampe? Wissen wir heute noch, warum wir die Sandale anbeten? Haben alle, die die Sandale anbeten die gleichen Wertvorstellungen in diese Sandale hereinprojeziert?
    Unter dem Aspekt lässt sich m. E. auch das Zustandekommen von „Querdenkern“ erklären. Die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Bewegung projezieren jeweils was völlig anderes in Worte wie „Widerstand“ oder „Staatskontrolle“. So ergibt es sich, dass Biohof-Homöopathen neben NPD-Kadern laufen und das nicht mal schlimm finden. Man meint, man habe ein gleiches Ziel und betet halt die Sandale an. Die Sandale bedeutet für dich, was sie eben für dich bedeutet.

  11. Es ist nicht die Gesellschaft, die jemanden zwingt oder auch nur überredet, Weihnachten zu feiern.
    Alles Gejammer, warum man sich das jedes Jahr aufs Neue antäte, können mit dem achten Gebot des Satanismus‘ abgebügelt werden.

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