Fußnoten (17)

Sich in die Tiefe zwingen

Falls es am Ende doch so sein sollte, dass ein Journalist einen Unterschied ausgemacht hat bei der Wahl zwischen Joe Biden und Donald Trump, dann wird es Bob Woodward gewesen sein, dessen Buch „Rage“ heute erscheint.

Es ist mehr als ungewiss, dass überhaupt irgendeine Information den harten Kern der Trump-Wähler in irgendeiner Weise erschüttern oder überhaupt erreichen kann, was viel über diese Zeit sagt, in der Information eigentlich freier fließen sollte als je zuvor. Aber es sagt auch viel, dass es vielleicht ein Buch gewesen sein wird, das älteste aller Massenmedien.

Weil die Zeiten unübersichtlich sind, noch einmal zusammenfassend: In einem der insgesamt 18 Interviews, die Woodward zu „Rage“ mit Trump geführt hat, hat der Präsident bereits am 7. Februar zum einen beschrieben, dass ihm die Gefährlichkeit des Corona-Virus bewusst ist1)Er beschreibt den Virus als „tödlich“ und „nicht die Grippe“ ebenso wie den Übertragungsweg („man atmet ihn ein“)., und dass er diese bewusst öffentlich herunterspielt, um keine Panik zu erzeugen.

In der Folge war die Antwort der US-Regierung auf das Virus sehr viel passiver als in anderen Ländern, was übermäßig viel mehr Ansteckungen und Todesfälle zur Folge hatte.2)Einige Länder, u.a. England und Schweden, taten ähnlich wenig in Bezug auf Social Distancing, Geschäftsschließungen und Maskenpflicht, allerdings deshalb, weil sie einer anderen Philosophie in Bezug auf so genannte Herdenimmunität anhingen – die sich inzwischen als Fehler herausgestellt hat.Man kann nur schätzen, wie viele Menschen in den USA noch leben würden, wenn Trump zum Beispiel gemacht hätte, was Angela Merkel gemacht hat, aber es sind höchstwahrscheinlich Zehntausende.

Trump lügt bewusst

Woodwards Interview und das daraus entstandene Buch beantworten nun zum ersten Mal die Frage, ob Trump eigentlich bewusst ist, wenn er lügt. Sein Auftreten hätte bis dahin durchaus den Schluss zugelassen, er wisse es vielleicht nicht und würde sich seine Lügen selbst glauben. Im Ergebnis macht das natürlich keinen Unterschied, in der Bewertung allerdings schon. Und seit diesem Gespräch ist klar: Trump lügt bewusst. Es ist keine Überraschung, aber die Bestätigung fehlte bisher. Nun haben wir sie.

Ein Buch also. Selbstverständlich nicht allein. Dass Informationen daraus längst diskutiert werden – schon vor dem Erscheinen des Buches – liegt natürlich daran, dass die wichtigsten Details auf allen Kanälen verbreitet werden, aber das ändert ja die Grundlage nicht: Auch Jahrhunderte nach Gutenberg ist das Buch ein besonderes – und besonders starkes – Medium, und ich bin sehr versucht zu denken, das läge daran, dass das Buch all das vereint, was wir sonst bei kaum einem Medium mehr erleben.

Ein Buch verlangt Ruhe, Konzentration und viel Zeit von mir, alles Dinge, die ich mag und zu denen ich trotzdem sonst nicht komme. Ein Buch zwingt mich dazu. Aber das ist nur ein kleiner Teil, in Wahrheit nehme ich mich dabei zu wichtig. Eigentlich entscheidend ist: Ein Buch zwingt den Autoren dazu.

Bob Woodward Foto: Lisa Berg / Simon and Schuster

Die entscheidende Information steckt hier in der bizarren Zahl von 18 Gesprächen, die Woodward von Trump zugestanden wurden. Selbst wenn jedes Interview nur eine halbe Stunde gedauert hat, ist das viel Zeit. So weit ich das weiß, hat Trump während seiner gesamten Präsidentschaft mit keinem Journalisten so lange on the record geredet, schon gar nicht allein mit einem Journalisten, der ihm gegenüber die kritische Distanz wahrt und sich nicht in die Irre führen oder ablenken lässt.3)Er hat allerdings ziemlich viel Zeit „on air“ bei seinen Anrufen in TV-Morgensendungen angesammelt, ich finde aber keine Liste, die mich die Zeiten vergleichen lässt.

Bob Woodward kann das machen, weil er Bob Woodward ist,4)Nur für den Fall, dass hier junge Menschen mitlesen: Bob Woodward ist ein legendärer Reporter der „Washington Post“ und deckte gemeinsam mit Carl Bernstein den „Watergate“-Skandal auf, der zum Rücktritt des Präsidenten Nixon führte. Er hat seitdem über jeden amtierenden Präsidenten extrem genau recherchierte Bücher geschrieben. Dieses ist bereits sein zweites über Trump, das erste, „Fear“, erschien bereits 2018.aber eben auch, weil es für ein Buch ist. Er braucht den Stoff und es steht ein Geschäftsmodell dahinter.

Zu den Details vordringen

Wir leben in Zeiten von Just-in-Time-Produktion, auch bei Medien. In der Regel gewähren Politiker Journalisten keine 18 Interviews, aber vor allem hätten Journalisten gar nicht die Zeit, sie zu führen, jedenfalls nicht für eine einzelne Geschichte, und 18 Geschichten hintereinander zum gleichen Thema kann kein Magazin drucken und kein Sender ausstrahlen.

Wir sind in der Regel darauf angewiesen, gerade genug von genau dem zu bekommen, was wir suchen, um damit die vorgesehene Zeit oder Zeilenzahl zu füllen. Es gibt ein paar Ausnahmen, bei denen eine gut ausgestattete und organisierte Redaktion mit einem besessenen Reporter grandiose Ausnahmen schafft.

Mir fallen Annette Ramelsberger mit ihrer Arbeit zum NSU ein oder Markus Feldenkirchen mit seiner epischen „Spiegel“-Geschichte über den Wahlkampf von Martin Schulz,5)Aus der danach auch ein Buch wurde.die Langzeit-Begleitungen des „SZ-Magazins“ und vielleicht noch Serien wie die von Dominik Stawski zum Thema Organspende im „Stern“,6)Ich schreibe „vielleicht“, weil so eine Serie am Ende schon Buchlänge hat, nur eben verteilt auf mehrere Ausgaben eines Magazins. Es ist damit die Ausnahme von dem, was ich oben behauptet habe, nämlich dass ein Magazin nicht 18 Geschichten zu einem Thema machen kann. Kann es doch, wenn sich die einzelnen Teile genug voneinander abheben, und das ist eben die Crux: 18 mal Trump löchern, erfüllt eben dieses Kriterium nicht.aber es sind wirklich Ausnahmen.

Sie stechen durch die Eigenschaften hervor, die ich oben angeführt habe: Ihre Autoren sind gezwungen, sich in einer Tiefe mit ihrem Thema zu beschäftigen, die erst ermöglicht, zu den Details vorzudringen, an denen sich das große Ganze erklärt. Je weniger Kollegen diese Möglichkeit haben, umso mehr verlieren wir diese Fähigkeit, denn wie jede andere auch muss sie geübt werden.

Die Verbissenheit am Leben halten

Es ist hoffentlich selbstverständlich: Ein Buch ist nicht per se gut, genau so wenig wie alte, mächtige Journalisten per se gut sind. Gerade erst hat Gabor Steingart beides gleichzeitig widerlegt. Aber es gibt beides, und ich halte es für eine der besten Möglichkeiten, guten Journalismus dadurch zu fördern, dass man Bücher von guten Journalisten kauft. Gar nicht so sehr, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, sondern um sie nicht aus dem Training zu entlassen, ihre Verbissenheit am Leben zu halten.

Ich habe „Rage“ bestellt, aber ich bereite mich mental auch schon auf die Welle der Corona-Bücher vor, die garantiert im nächsten Jahr auf uns zurollt. Irgendwo wird ein wichtiges Detail drin sein, und obwohl ich es schon vorher in wahrscheinlich allen Internet-Portalen werde lesen können, möchte ich die Arbeit belohnen, die darin steckt, ein Feld umzugraben, um es zu entdecken.

Denn das ist, was wir lernen müssen: Damit dieses System im richtigen Moment funktioniert, müssen wir es in jedem Moment am Laufen halten. Und hin und wieder ein (gutes) Buch lesen.

Fußnoten

Fußnoten
1 Er beschreibt den Virus als „tödlich“ und „nicht die Grippe“ ebenso wie den Übertragungsweg („man atmet ihn ein“).
2 Einige Länder, u.a. England und Schweden, taten ähnlich wenig in Bezug auf Social Distancing, Geschäftsschließungen und Maskenpflicht, allerdings deshalb, weil sie einer anderen Philosophie in Bezug auf so genannte Herdenimmunität anhingen – die sich inzwischen als Fehler herausgestellt hat.
3 Er hat allerdings ziemlich viel Zeit „on air“ bei seinen Anrufen in TV-Morgensendungen angesammelt, ich finde aber keine Liste, die mich die Zeiten vergleichen lässt.
4 Nur für den Fall, dass hier junge Menschen mitlesen: Bob Woodward ist ein legendärer Reporter der „Washington Post“ und deckte gemeinsam mit Carl Bernstein den „Watergate“-Skandal auf, der zum Rücktritt des Präsidenten Nixon führte. Er hat seitdem über jeden amtierenden Präsidenten extrem genau recherchierte Bücher geschrieben. Dieses ist bereits sein zweites über Trump, das erste, „Fear“, erschien bereits 2018.
5 Aus der danach auch ein Buch wurde.
6 Ich schreibe „vielleicht“, weil so eine Serie am Ende schon Buchlänge hat, nur eben verteilt auf mehrere Ausgaben eines Magazins. Es ist damit die Ausnahme von dem, was ich oben behauptet habe, nämlich dass ein Magazin nicht 18 Geschichten zu einem Thema machen kann. Kann es doch, wenn sich die einzelnen Teile genug voneinander abheben, und das ist eben die Crux: 18 mal Trump löchern, erfüllt eben dieses Kriterium nicht.

4 Kommentare

  1. Dass Trump glaubt, er könne 18 Interviews mit einem so ausgebufften Journalisten- und Politprofi unbeschadet überstehen, sagt mehr über ihn und sein Selbstverständnis aus, als alle verunfallten Pressekonferenzen zusammen.

  2. Das ist wirklich kompletter Wahnsinn, dass Trumps Team sowas zugelassen hat und dann auch noch zur Veröffentlichung freigibt.

    Fox „News“ hat ja schon gesagt, dass Trump von Lindsay Graham reingelegt wurde, die Interviews zu geben, als wenn Graham den Schwachsinn von sich gegeben hat.

    Aber im Artikel wurde es bereits gesagt, Trump Wähler werden immer Trump wählen, weil es einfacher ist mit dem Finger auf andere zu zeigen, statt sich mal zu reflektieren.

    Ab 4.11. gibt’s Bürgerkrieg in den USA, darauf kann man sich schonmal vorbereiten. Sollte Trump, wie auch immer, gewinnen, wird er eine diktatorische Regierung etablieren (wollen), sollte er, wie auch immer, verlieren, wird er seine Paramilitärs losschicken und seine NRA Freunde.

    Mal gucken wie dann China und Russland reagieren und was die EU diplomatisch zu bieten hat.

  3. Jetzt wird es eng für Trump. Diesmal wirklich. Also ganz wirklich. Wirklich ganz wirklich. So richtig voll total echt ganz 100% wirklich.

    Zwar wurden in den letzten fünf Jahren in gefühlt vierundzwanzigtausenddreihundertvierundachtzig Büchern aufgezeigt … ach was sag, ich … gerichtsfest bewiesen, dass Trump ein alter weißer Mann ist. Leider alles wirkungslos verpufft.
    Aber das vierundzwanzigtausenddreihundertfünfundachtzigste Buch, die Wichsvorlage fürs Wokemilieu, wird allen die Augen öffnen.
    Bob Woodward – die Greta des antitrumpistischen Widerstands.
    Ich drück ihr beide Daumen!

  4. Das Buch wird an der Wiederwahl Donald Trumps nichts ändern. Weshalb? Weil die Demokratische Partei mit ihrem Kandidaten Joe Biden und der voraussichtlichen Vizepräsidentin Kamala Harris einfach inhaltlich nichts zu bieten und noch nicht mal konsequent das Nichts, dass Donald Trump und seine Minister in den letzten Jahren produziert hat, konsequent vor Ort, an der Basis thematisieren und alternative Modelle aufzeigen, oder auf der Ebene der Bundesstaaten eine konkrete, anders ausgerichtete Politik umsetzen. Eine Politik, die sich an Identitäten ausrichtet, ist eine spalterische Politik.
    Wenn Donald Trump und seine Minister etwas machen, kann man manchmal zu dem Schluss kommen, der ist demokratischer und denkt mehr in den Kategorien eines Rechtsstaates als seine Konkurrenten (z.B. die Vorgabe, zukünftig bei hochschulinternen Untersuchungen die Seite des Angeklagten adäquat zu berücksichtigen). Was letztlich aber nicht zutrifft.

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