RTL-Chefredakteure räumen ein: „Wir haben Fehler gemacht“
Was „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt in seiner Redaktion partout nicht sehen will, haben sie bei RTL offensichtlich erkannt: „Wir haben Fehler gemacht“, schreiben die Chefredakteurin Tanit Koch und die beiden Chefredakteure Michael Wulf und Jan Rudolph im Intranet des Senders.
Es geht um die Berichte über eine Mutter aus Solingen, die mutmaßlich fünf ihrer sechs Kinder getötet haben soll.
„Der Umgang mit dem Freund des überlebenden Jungen in Beiträgen bei RTL.de, ‚Punkt 12‘ und ‚Explosiv‘ entsprach nicht unserem generellen journalistischem Selbstverständnis“, heißt es in dem ausschließlich internen Statement.
RTL hatte den ebenfalls minderjährigen Freund des Jungen vor der Kamera interviewt, nachdem er private Chat-Nachrichten von ihm erhalten hatte, aus denen der Sender auch zitierte. In der Branche und beim Publikum sorgte das für Empörung.
Expertenkreis soll eingesetzt werden
Michael Wulf, Chefredakteur RTL TV, sagt nun, man habe die Sache „intensiv diskutiert und analysiert“: „Vor allem auch die Nennung des Namens des Jungen“ entspreche nicht dem Selbstverständnis.
Wulf kündigt an, „einen Expertenkreis aus Chefredaktion, Plattform-Spezialisten und Qualitätsmanagement“ einzurichten, „um zukünftig solche Fälle möglichst rasch übergeordnet klären“ zu können.
„Es wird allerdings keine Blaupause geben. Jeder Fall ist anders und muss auch in Zukunft entsprechend betrachtet werden.“
Jan Rudolph, Chefredakteur RTL interactive, weist darauf hin, auch Entscheidungen unter Zeitdruck dürften „uns nicht davon abhalten, Rechte und Interessen einzelner Betroffener ebenso zu gewichten wie das berechtigte öffentliche Interesse, dem wir als Journalisten dienen“.
Tanit Koch: „medienethische Fragen“
Noch weiter geht Tanit Koch, Chefredakteurin der RTL-Zentralredaktion und ehemalige „Bild“-Chefredakteurin: Es gehe „nicht nur um rechtliche, sondern ebenso um medienethische Fragen“, sagt Koch.
„Das Resultat unserer Berichterstattung reflektiert auf alle von uns, das müssen wir uns immer wieder bewusst machen. Umso wichtiger ist, dass Zweifel an bevorstehender oder bereits veröffentlichter Berichterstattung unverzüglich angesprochen und ernstgenommen werden. Von Praktikanten bis in die Chefredaktion – untereinander, in den Redaktionen und Ressorts, aber gerade auch mit Sonja [Schwetje, ntv-Chefredakteurin; Anm. d. Red.], Michael, Jan und mir.“
Koch schließt mit den Worten:
„Wir können künftige Fehler vermeiden, indem wir aus bisherigen lernen – und das wollen wir.“
Statements nur an die eigenen Mitarbeiter
Anders als „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt, der sich sowohl gegenüber dem Deutschlandfunk als auch der „NZZ“ öffentlich zur Berichterstattung seines Blatts äußerte – und die Verantwortung anderen zuschob, den Behörden und RTL –, sollten die Statements der RTL-Nachrichten-Chef*innen interne Nachrichten an die Mitarbeiter*innen bleiben.
Nach außen bleibt RTL bei seiner bisherigen Linie in der Sache Solingen und verweist auf die bereits seit Sonntag verbreiteten Sprecher-Statements:
„RTL hat mit Zustimmung und im Beisein seiner Mutter mit einem Freund des überlebenden Jungen über die Tragödie gesprochen. Wir haben bewusst darauf verzichtet, sensible WhatsApp-Nachrichten zu zeigen und bedauern, dass in einer ersten Fassung direkt aus einer Text-Nachricht des Jungen zitiert wurde. Dies wurde am Freitag korrigiert. Wir halten es jedoch – auch nach juristischer Rücksprache – für angemessen, die Hintergründe einer Tat von solch schrecklicher Dimension zu beleuchten, da ein berechtigtes öffentliches Interesse daran besteht.“
„Wir überprüfen uns und unsere Arbeitsweise jeden Tag aufs Neue und gestehen auch ein, wenn wir einen Fehler gemacht haben. Wir bedauern, dass in diesem Fall unter anderem der volle Namen des Jungen genannt wurde und entschuldigen uns dafür.“
Jeder normale Wald-und-Wiesen-Journalist hat genug Bauchgefühl, um zu wissen, dass solche Dinge nicht gehen.
Um simpelste ethische Fragen zu beantworten, braucht RTL eigens „einen Expertenkreis aus Chefredaktion, Plattform-Spezialisten und Qualitätsmanagement“.
Besser kann man kaum demonstrieren, wie unbedeutend solche Fragen im normalen RTL-Alltag sind.
@FBS:
Mit dem „Bauchgefühl“ von Wiesen- und Waldjournalist*innen habe ich so meine Zweifel. Das Kind muß erst einmal in den Brunnen fallen, damit frau/man sich beim nächsten Mal daran erinnert und etwas vorsichtiger ist.
Naja, RTL macht bessere Krisen-PR. Intern wird man nur mit den Schultern zucken und natürlich ohne Verhaltensanpassung weitermachen.
Wie jemand RTL (inkl. NTV) mit Journalismus in Verbindung bringen kann, will sich mir bis heute nicht erschließen.
Es ist nur ein Extrembeispiel wie Presse versagt. Häufig ist es eben nur kein kleines Kind und keine BILD, und schon laufen Falschberichterstattungen in die Allgemeinheit.
Vor wenigen Tagen gab es eine Art von Gegendarstellung beim NDR:
https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama3/Tierquaelerei-in-einem-Milchbetrieb-Berichterstattung-Panorama-3-vom-23062020,kuehe558.html
Aber der Betrieb ist wirtschaftlich vernichtet. Weil ich nicht glaube, dass dieser langer Text in der Sendung verlesen wird.
Und was ist eigentlich aus dem Offizier der BW geworden, der von PANORAMA in die rechte Ecke gestellt wurde? Hat sich da irgendjemand mal entschuldigt?
Merke, Skandale gibt es jede Menge in der Presse, aber bei Bild wird sie halt publik.
ich frage mich, wie die „kleinen“ Leute in der Produktion da mitgearbeitet haben? Nach dem Motto „Kopf aus, Schalter jetzt umlegen, Regler jetzt hochfahren“ oder „ist das nicht heftig, was wir gerade senden“.
Oder ob man danach im Make-Up zur Moderation sagt: „heute fand ich das Themas bisschen daneben zumindest so, wie wir es gesendet haben“.
Oder dann zu Hause beim PArtner oder bei Freunden: „Sag mal, du machst du auch Punkt 12. War das wirklich so nötig, wie ihr das heute gemacht habt?“
Was sollen denn da die Praktikanten und Volontäre lernen? Ist egal, Hauptsache Quote und bisschen Geld?
„Aber der Betrieb ist wirtschaftlich vernichtet. Weil ich nicht glaube, dass dieser langer Text in der Sendung verlesen wird. “
Bei einer tatsächlichen Gegendarstellung ist der Sender dazu verpflichtet. Der verlinkte Text ist allerdings keine Gegendarstellung im tatsächlichen Sinn, weder formal noch inhaltlich.
Für eine Entschuldigung im Fall Bohnert liegen mWn keine Gründe vor.
Mich würde ja noch interessieren, ob der Hof tatsächlich „wirtschaftlich vernichtet“ ist oder ob das nur eine ausgedachte Behauptung ist. In den weiterführenden Recherchen (keine Gegendarstellung) bescheinigt die Molkerei dem Betrieb ja Tadellosigkeit. Warum sollten die also nun keine Milch mehr von dort abnehmen?
@ Text:
Ist dieser Text hier vielleicht kalkulierte PR von RTL?
Der Gedanke kam mir eben: Die bei RTL wissen genau, dass die internen Dokumente durchgesteckt und (hier) prominent veröffentlicht werden. So kann man sich öffentlich ein bisschen reinwaschen, ohne von der offiziellen Linie abweichen zu müssen.
Wir reden hier immerhin von Tanit Koch, ich glaube die beherrscht ihr Game, sowohl nach innen, als nach außen.
Nur eine Theorie.
@Civichief: Vielleicht bin ich in all den Jahren in der Branche zu sehr zum Zyniker geworden, aber ich fürchte, in der Redaktion klopft man sich bei so etwas noch gegenseitig auf die Schulter und sagt: „Geiler Scoop“, während die Produktion ohne großes Nachdenken das filmt, schneidet, mischt was gerade anliegt.
Im schnellen Nachrichtengeschäft, gerade bei solch großen Themen, wird wenig reflektiert, da wird einfach gemacht.
„Der Deutsche Milchkontor könne sich nicht vorstellen, die Zusammenarbeit mit dem Skandal-Milchbetrieb bei Flensburg zu beenden. Dies erklärte das Unternehmen gegenüber dem Deutschen Tierschutzbüro mit der Begründung, dass sie bei eigenen Kontrollen im Milchbetrieb nichts zu beanstanden hätten.“
Zitat aus einem Artikel von „24hamburg“, die zum Milchhof in Flensburg und der Sendung des NDR berichten. Da der Großhändler offenbar weiter bei dem Bauern einkauft, ist die wirtschaftliche Vernichtung des Betriebs durch den NDR eine Schimäre.
Eine heftige Grenzüberschreitung des ÖR, die mir bis heute in trauriger Erinnerung blieb, war das „Amok Special“ des ZDF am 26.04.2002.
Johannes B. Kerner moderierte für das ZDF im Party-Zelt und musste unbedingt einen 11-jährigen Schüler live befragen, der wohl die Leiche einer Lehrerin gesehen hatte, die damals im Gutenberg-Gymnasium erschossen wurde.
Man versucht mal wieder mit journalistischen Standards, die man zwar auf der Zunge trägt aber nicht lebt, das Image zu bereinigen – intern, um die Corporate Identity zu pflegen und extern (Leak ist einkalkuliert), um nicht zu weit in der Schmuddelecke zu stehen. Bei RTL hat man offensichtlich doch Angst, dass man die unterste Latte gerissen hat.
Tatsächlich wird sich überhaupt nichts ändern. Man wird bei der nächsten Gelegenheit wieder so weit gehen – und noch weiter.
P. S.: Welches öffentliche Interesse hier bestehen soll, ist mir persönlich auch rätselhaft. Damit wird auch gern jede Grenzüberschreitung begründet – man musste ja.