Bahnhofskiosk

Eine angestrengte Geburt

Das Cover des Magazins "Fräulein"

„Geburt“ steht vorne drauf. Und: „Der Anfang von allem“. Und: „Die Lust.“ Und: „Der Schmerz.“ Die Poetin Rupi Kaur gibt dazu das Covergirl, in eine asymmetrische Lederklamotte mit Puffärmeln gewandet, die Augen geschlossen, die Hand beiläufig auf dem Bauch platziert. Schick in Schwarzweiß.

Der Magazinname hat so eine Optik, als hätte man ihn lässig mit einem halb vertrockneten Filzer aufgetragen. Alles sehr arty. Das Ding heißt „Fräulein“, und als ich mich über das Pony freue, das unscharf und flauschig in der ersten Werbeanzeige einer populären italienischen Modemarke platziert ist, ahne ich noch nicht, was mich alles erwartet.

Eine bessere Welt ist nah. Vielleicht.

Erstmal ist alles aufregend: Für die Ausgabe 29, der ersten des Jahres 2020, gibt es nicht nur unterschiedlich bunte Cover mit unterschiedlich dreinschauenden Frauen, sondern man hat sich entschlossen, die ganze Nummer auch auf Englisch auf den Markt zu werfen. Auf Facebook bedankt sich Götz Offergeld, der sich das Magazin 2010 ausgedacht hat und ihm auch diesen fröhlichen postmodernen Namen verpasst hat, zum Erscheinen bei seinen Mitarbeitern. Die Produktion stand schon deutlich unter dem Einfluss von Corona und er verspricht, dass man sich breiter aufstellen will: Eine App soll kommen, und mit der englischen Ausgabe will man eine größere Leserschaft ansprechen. Es sind harte Zeiten.

Im Editorial zeigt Offergeld sich kämpferisch-optimistisch: „Neues Gemeinschaftsgefühl über Klassen, Freundeskreise und Generationen hinweg“, fühlt er. „Es gibt viel mehr, was uns vereint, als was uns trennt.“ Das „eigene Ego“ erscheint plötzlich „unbedeutend gegenüber dem kollektiven Schmerz und der Bedrohung, aber auch gegenüber den Möglichkeiten, die sich gerade auftun.“ Er sprudelt förmlich über vor Hoffnung auf die Utopie, „in der rechte Populisten keine Macht mehr haben und Geld nicht mehr die härteste Währung ist“. „Ich bin mir sicher, sie ist zum Greifen nah“, diese bessere Welt, so wünscht er sich in seinem Schlusssatz.

Tja. Ich wünschte, Herr Offergeld würde Recht behalten, aber das Stimmungsbild der vergangenen Wochen lässt mich doch zweifeln, ob diese bessere Welt wirklich so um die Ecke ist.

Das Inhaltsverzeichnis des Magazins "Fräulein"

Der Blick ins Inhaltsverzeichnis verrät, was „Fräulein“ unabhängig von der Geburtssache alles will: reichlich Kunst der Gegenwart („Artists to Watch – Diese Künstler*innen sind Geschöpfe des digitalen Zeitalters“; „Im Wunderland – Die estnische Künstlerin Kris Lemsalu performt schamanistische Rituale für das 21. Jahrhundert“) und Modestrecken mit klangvollen Namen („Alter Egos“ von Richard Kern; „Private in Public“ von Thomas Hauser) zeigen. Außerdem Interviews mit Regisseurinnen und Schauspielerinnen und aufgedrehtes Layout. Der Kunstschwerpunkt unterscheidet das Magazin deutlich von anderen Frauenzeitschriften und blitzt auch beim Titelthema regelmäßig auf.

Sei niemals langweilig!

Als die erste Ausgabe herauskam, schrieb Sonja Pohlmann bei „Zeit Online“ über „Fräulein“, dass das Magazin unter „all den doppelten Lottchen am Kiosk“ auffällt, auch weil es auf „die üblichen Diät-, Sex- und Lebenshilfetipps“ verzichtet. Ja, das erfrischt wirklich. Von erfrischt zu angepisst ist der Weg allerdings nicht weit, als ich das „Über uns“ bei „Fräulein“ lese: „Fräulein spricht für starke und selbstbewusste Frauen, die mitten im Leben stehen, verzaubern und niemals langweilig werden.“ Immer schön verzaubern – und nie fad sein?!? Was ist das für ein überaus dämliche Vorstellung der eigenen Leser*in?

Wundert es mich, bei dem in Wirklichkeit gar nicht witzig-ironischen Magazinnamen, den sich Offergeld ausgedacht hat? Nein. Aber: „Stark“ und „selbstbewusst“ und „Frau“ kommen doch auch vor, sagen Sie? Stimmt. Aber leider wird dieser „Frau“ hier halt von der Formulierung darüber, wie sie zu sein hat, von hinten in die Kniekehlen getreten.

Die Contributors von "Fräulein"

Mich irritiert schon die Entscheidung, Teile der „Contributors“ rot zu übersprühen. Sieht zwar cool aus, aber was soll das? Da freut man sich als Mitwirkender, oder? Ich verstehe nicht, wieso man einigen der Autoren und Fotografen diese Art von Credit auf diese merkwürdige Weise stiehlt. Besonders wenn der Chefredakteur sich bemüßigt fühlt, sich auf Facebook bei den Heftmachern zu bedanken.

Zur Einstimmung auf die Geburt, hihi, gibt’s ein zufällig zusammengewürfeltes Glossar mit dem Titel „Die Geburt in Kunst, Philosophie und Mythos“. Von „Tabula Rasa“ bis „In the town, where I was born / lived a man who sailed to sea“ geht es da hoch her; gewürzt mit Erläuterungen zur Renaissance und zur unbefleckten Empfängnis hangelt man sich zu Begriffen und Werken von Hannah Arendt und Michel Foucault.

Mal „Geburt in der Philosophie“ gegoogelt

Abgesehen davon, dass Liverpool nun wirklich nicht der Geburtsort der Popkultur des 20. Jahrhunderts ist, wie hier behauptet wird, sind das alles interessante Themen, große Werke, bedeutende Denker. Aber es wirkt auch so, als hätte man „Geburt in der Philosophie“ und „Geburt in der Kultur“ gegoogelt und die Suchergebnisse dann in unterschiedlichen Schriftgrößen und Typen und mit bisschen Bunt unterlegt beim Lehrer abgegeben.

Wo geht’s denn nun endlich zur echten Geburt? Ah, dort: „A star is born.“ Herrlich auf grellem Pink gedruckt, wurschtelt sich der Autor durch Biographie und Auftrag von Kylie Jenner, Billie Eilish und Greta Thunberg und ihren Umgang mit den sozialen Medien.

Doppelseite aus dem Magazin "Fräulein"

Das Problem: Mit Geburt hat das nichts zu tun. Ich bin enttäuscht und kann im Übrigen nur dazu raten, den Artikel in der englischen Ausgabe auf Englisch zu lesen: Die Übertragung ins Deutsche ist mehr als holprig – und genau damit versaut man mir den Spaß an der Lektüre, aber ich schüttle mich und mache weiter.

Bis man zu dem lesenswerten Interview mit Poetin Rupi Kaur gelangt, kann man noch die Seiten über „Die Geburt der sozialen Medien“ überblättern, äh, überfliegen. Hübsche Timeline gebastelt, mit Icons und Emojis und Bildchen, genau das Richtige für die kurze Aufmerksamkeitsspanne.

Doppelseite zur Geburt der Sozialen Medien im Magazin "Fräulein"

Was dann folgt, ist meine vollständige Ratlosigkeit über eine Fotostrecke einer zeitgenössischen Fotografin, deren Arbeiten (Sujet: nackte Schwangere, nackte Menschen) aus sich mir nicht erschließenden Gründen zwei Gedichten des britischen Dichters Percey Bysshe Shelley aus dem 19. Jahrhundert gegenübergestellt werden. Es wird behauptet, dass „dessen literarische Pole – Liebe und Freiheit – sich gemeinsam mit WYSES Bildern zu einem Bild- und Lichterrausch steigern“.

Ich kann mit Bestimmtheit sagen, dass sich da genau nix zu nix bei mir steigert, weil es einfach keinen erkennbaren Zusammenhang und deshalb auch kein sich befruchtendes Zusammenspiel gibt. Das fühlt sich leider hart nach Poesiealbum an.

Gedichte und Fotos im Magazin Fräulein

Mega wäre es übrigens gewesen, wenn man die Gedichte nicht völlig zerrissen gesetzt hätte, so dass ich mich nicht in der Hauptsache abmühen müsste, zu begreifen, was mir der Layouter sagen will, sondern mich tatsächlich der Durchdringung von Shelleys Lyrik machen könnte.

Eindrückliche Fotos

Was ist also mit dem Thema Geburt? Da gibt es zum einen Fotostrecke mit vielen faltig aussehenden, mal auch blutverschmierten Babyköpfen. Besonders beeindruckt mich das Bild eines blauangelaufenen Babykopfes zwischen weißen Schenkeln. Es fühlt sich merkwürdig an, diese intimen Momente im Leben von Mutter und Kind so konsumierend zu betrachten.

Mir gefällt, wie die Fotografin Heji Shin im Interview die Feststellung abwehrt, sie würde doch „eine Art Tabu bespielen“, weil sie „etwas sichtbar“ macht, „was sonst unsichtbar bleibt“. Bestimmt entgegnet sie: „Ich glaube wirklich nicht, dass die Arbeit an sich einen gesellschaftlichen oder sozialen Aspekt hat. Was mich interessiert, ist eine Kontemplation über die Natur.“

Das Gespräch zwischen der Künstlerin Pauline Curnier Jardin und ihrem Mann Tobias Haberkorn über Geburt und Kunst trägt passenderweise den Titel „Über die Schöpfung“. Damit man weiß, wann wer spricht, arbeitet man hier nicht mit so antiquierten Methoden wie Namen oder Kürzeln, sondern druckt die Aussagen der beiden Gesprächsteilnehmer in unterschiedlichen Schrifttypen. Ah. Diese Unruhe fürs Auge! Und dann erst der hübsch versteckte Rollenwechsel von der Befragten zur Befragenden im Mittelteil, boah!

Ein Interview in dem Magazin "Fräulein"

Wir! Sind! Besonders!

Wieso ist man bei diesem Magazin eigentlich so wahnsinnig bemüht, was den Look angeht? Warum muss alles so bunt sein? „Which body would you like to occupy today“ und auch der Text zu Kris Lemsalu wirken, als müsste die Grafikredaktion dringend beweisen, dass sie auch irgendwas kann.

Kris Lemsalu in dem Magazin "Fräulein"

Manchmal ist weniger mehr. Ziemlich oft sogar.

Was dagegen Caroline Rosales über ihre Mutter und sich selbst als Mutter schreibt, ist so schonungslos offen und persönlich, dass es mir fast unangenehm ist, diesen Text zu lesen. Ich komme mir ein bisschen vor, als hätte ich meine Nase in ein fremdes Tagebuch gesteckt und fühle mich unwohl. Das mag daran liegen, wie eindringlich Rosales beschreibt, dass man sich als werdende Mutter in Deutschland auch nur unwohl fühlen kann:

„So oder so sollte man mit seiner Schwangerschaft lieber nicht weiter auffallen, schon damit Familie, Freunde und Kollegen sich keine Sorgen machen. Aber auch, weil im Beruf und im öffentlichen Leben schon selbst jene belächelt werden, die von ihren Kindern auch nur erzählen – geschweige denn Platz oder Sorgfalt beanspruchen.“

English is schwierig

Das vierte Essay allerdings erbost mich. Es trägt den Titel „Die Leerstelle“, befasst sich mit dem Thema Fehlgeburt und beginnt so:

„Lastende Stille umgibt den Komplex weiblicher Gesundheit, wenn es um die Reproduktion des Lebens geht.“

Ein paar Zeilen weiter dann:

„Die Last fällt aber auch unsere Schultern. Diskussionen zum Thema Abtreibung waren (und sind) laut und werden mit stolzen Stimmen geführt, egal, ob frau Pro-Choice ist oder nicht.“

Weiter unten dann:

„Ungewollte Schwangerschaftsabbrüche durch Fehlgeburten sind gar nicht so selten.“

Was ist hier los? Wie klingen denn diese Sätze? Ich ahne es und schlage das Essay in der englischen Ausgabe auf. Und siehe da, dort liest es sich anders. Flüssig. Ich kann dem gesponnen Gedanken folgen:

„There is a thick and heavy silence that surrounds discussions on women’s reproductive health.“

Und weiter:

„That burden falls similarly heavy on our shoulders. Make no mistake, whether you are pro-choice or not, discussions around abortion have been loud and proud, but the unfortunate reality has been that it often falls on deaf ears.“

Und weiter:

„Miscarriage is so commonplace that 1 in 4 pregnancies ends in a miscarriage.“

Nicht nur, dass Teilsätze es erst gar nicht in den deutschen Text geschafft haben und damit der Sinn verfälscht wird, es fehlt grundsätzliches sprachliches Verständnis für Begrifflichkeiten, das ich gerade und besonders bei einem Text über ein solch sensibles Thema voraussetze. „Miscarriage“ mit „Ungewollter Schwangerschaftsabbruch“ zu übersetzen, ist falsch. Ich knirsche mit den Zähnen und lese weiter.

Die Autorin befasst sich damit, dass Frauen häufig nicht über Fehlgeburten sprechen und mit den Konsequenzen von Fehlgeburten für die psychische Gesundheit. Sie zitiert überwiegend die amerikanische Psychologin Jessica Zucker, die laut ihrem Instagram-Account auf „reproductive + maternal mental health“ spezialisiert ist und regelmäßig in englischsprachigen Zeitschriften dazu publiziert. Offenbar hat da ein Interview stattgefunden. Rate ich, denn so explizit wird das nicht erwähnt.

Woher kommen die Zahlen?

An einer Stelle erläutert die Autorin, dass Fehlgeburten bei einigen Frauen posttraumatische Belastungsstörungen auslösten. Die Zahlen dazu stammen, so die englische Version des Essays, aus einer Studie der American Gynecological & Obstetrical Society. Weil mich stört, dass in der englischen Version nur ein lapidares „recent“ auf die Aktualität der Studie hinweist und es im deutschen Text gar keine nähere Info zu dieser Studie gibt, google ich: Tatsächlich wurde die Studie im Januar 2020 im American Journal of Obstetrics and Gynaecology publiziert, durchgeführt wurde sie aber von Wissenschaftlern*innen des Londoner Imperial College und der belgischen KU Leuven.

Ich bin ehrlich: Solche Ungenauigkeiten bei einem Thema wie diesem führen nicht dazu, dass ich noch große Lust habe, mich weiter mit dem Text zu befassen. Die anderen Zahlen, mit der die Autorin ihren Text unterfüttert, „sind nun schon eine Weile bekannt“ heißt es dann später im Text, und auch hier hätte es nicht geschadet, zu erwähnen, wo man sie hergenommen hat.

Artikel im Magazin "Fräulein"

Sicher ist dieses Essay gut gemeint, und wenn die Autorin schreibt, „Frauen, die diesen Verlust, diese Trauer erleben, verdienen eine bessere Unterstützung“, dann widerspreche ich nicht. Aber leider führt die schlechte Übersetzung dazu, dass ich mich als Leserin in diesem Text verloren fühle und die mangelhaften Angaben zu Quellen von Fakten und Zahlen ärgern mich sehr, weil das Sorglosigkeit in der Auseinandersetzung mit einem bedeutenden Thema vermittelt.

Zum Glück wartet man noch mit einem Interview mit der feinen Barbara Sukowa auf, lässt mich die interessante Künstlerin Anne Bean kennenlernen und die kluge Publizistin Kübra Gümüşay zu Wort kommen. Sonst hätte ich das Heft nach der „Leerstelle“-Nummer weggelegt.

Bemalter Schwangerschaftsbauch im Magazin "Fräulein"

Richtiggehend Spaß machen mir Text und Artwork von Sonja Sofia Yakovleva: Sie schreibt so locker und witzig über das Thema Schwangerschaft und die von ihr bemalten Babybäuche: „Das im Paradies lebende Narzissten-iPhone-Junkie-Baby“ ist ein Knaller!

3 Kommentare

  1. Diese Zeitschrift wirkt so Chaotisch, dass es mir nochmal vor Augen führt, warum ich so lange keine Zeitschriften mehr gelesen habe. Lesefluss scheint ein Fremdwort zu sein.

    Sehr schön Zusammengefasst! Es endet ein bisschen abrupt, irgendwie fehlt ein Fazit, aber sonst, ehrlich super! Danke fürs durchquälen!

  2. Wenn mir Layouter – nein, Grafiker! – signalisieren, dass sie die Texte nicht respektieren, sondern nur als Dekomaterial betrachten, mit dem sie sich nach Belieben austoben können, fühlte ich mich auch als Leser nicht ernst genommen. Wahrscheinlich hatten die Grafiker ihre Ausbildung in einem Atelier, das sonst nur Sweatshirts und Einkaufstüten mit typografischer Ornamentik entworfen hat. Wer so ein Heft herausgibt, will gar nicht, dass es gelesen wird. Es soll nur in-ter-es-sant aussehen.

Einen Kommentar schreiben

Mit dem Absenden stimmen Sie zu, dass Ihre Angaben gemäß unseren Datenschutzhinweisen gespeichert werden. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.