Als Boris Johnson nach sieben Tagen aus dem Krankenhaus entlassen wurde, setzte er sich in Downing Street 10 mit wie immer kunstvoll verwuschelten Haaren vor eine Kamera und bedankte sich bei den Ärzten und besonders bei den Schwestern und Pflegern, die ihm das Leben gerettet hatten – so formulierte er es. Es war eine beeindruckende, bewegende Rede, in der nur ein Satz fehlte: „Ich bedaure, anfangs dieses Virus unterschätzt und durch leichtfertige Bemerkungen Menschen gefährdet zu haben, seien Sie klüger als ich!“
So wie der britische Premierminister entdecken auch der deutsche Bundespräsident, die Kanzlerin und der Gesundheitsminister die Heldinnen und Helden der Corona-Krise. Aber wie blicken die Schwestern und Pfleger auf sich? Und auf das, was ihr Leben bedroht?
Die Zeitschrift „Die Schwester, der Pfleger“ ist die monatliche Fachzeitschrift für Pflegeberufe und das Organ des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe. Zugegeben, unter normalen Umständen würde jemand, der keine Schwester oder kein Pfleger ist, nicht in das Heft schauen; da aber die Normalität pausiert und das April-Heft die Titelstory „Coronavirus, der unsichtbare Gegner“ hat, reizt der Blick hinter die Schutzbrillen und Atemmasken.
Über 2400 Ärzte und Pfleger haben sich allein in Deutschland mit COVID-19 infiziert, in Italien sind über 100 Ärzte am Coronavirus gestorben. Ein heroischer Ton ist dem Magazin der Schwestern und Pfleger dennoch fremd, es konzentriert sich darauf, über COVID-19 zu informieren und Schutzmaßnahmen zu beschreiben. „Stille Helden“ ist zwar ein Report über Pflegekräfte in Italien und Deutschland überschrieben, aber der Text von Uwe Herzog enthält sich der lauten Töne, die nun in Dankesreden von Politikern zu vernehmen sind.
Die Kolumne
Im wöchentlichen Wechsel gehen vier Autor/innen zum Bahnhofskiosk, entdecken dort Zeitschriften und schreiben drüber.
Cordt Georg Wilhelm Schnibben ist Wirtschaftswissenschaftler, war Redakteur bei der „Zeit“ und fast 30 Jahre lang beim „Spiegel“. Seit seinem Ausscheiden aus der Redaktion baut er die Lernplattform „Reporterfabrik“ auf. Er ist Mitbegründer des Reporterforums, das den Reporterpreis vergibt.
In den nächsten Wochen schreiben: Sigrid Neudecker, Arno Frank und Johanna Halt.
Eigentlich dürfe er sich nicht öffentlich äußern, schickt in dem Text der junge Assistenzarzt Dr. Daniele Macchini aus dem norditalienischen Bergamo voraus. Aber angesichts dessen, was die Coronavirus-Pandemie in seinem Krankenhaus, seiner Stadt und in ganz Italien angerichtet habe, wolle er nicht schweigen: „Ich verstehe die Notwendigkeit, keine Panik zu erzeugen. Aber wenn die Tragweite dieser Situation nicht erkannt wird und sich Leute beschweren, dass sie nicht zum Fußball oder ins Fitnessstudio gehen können, schaudert es mich“, sagt der Arzt.
Die Ignoranz bei einem Teil der Leute ist das eine Problem im Krankenhaus-Alltag, das Gravierendere ist allerdings die Unterversorgung vieler Krankenhäuser, die dem hohen Ton der Dankeshymnen widerspricht. Der Mangel etwa an Schutzausrüstung sei so groß, dass mancherorts bereits damit begonnen werde, provisorische Schutzanzüge aus festem Textilstoff zu nähen, berichtet die Sprecherin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe (DBfK), Johanna Knüppel.
Und DBfK-Präsidentin Prof. Christel Bienstein erklärt im Text: „Wenn es eines Beweises bedurft hätte, wie unverzichtbar gerade Pflegefachpersonen für die Versorgung und das Miteinander der Bevölkerung sind, dann sollte das spätestens jetzt jeder begriffen haben.“ Das Coronavirus sei ein Stresstest für das Gesundheitssystem – diesen gelte es im Krisenmodus zu bestehen und daraus zu lernen.
Virologen, auf die jetzt die Öffentlichkeit starrt, passen noch ganz gut zu dem Bild, das man sich schon in der vorcoronaischen Gesellschaft von ihnen machte. Aber Pflegerinnen werden erst jetzt entdeckt und allabendlich von Balkonen aus beklatscht. Gewöhnlich finden sie nur Beachtung, wenn sie streiken. Sie sind zugleich auch die, deren Arbeit für sie selbst besonders gesundheitsgefährdend ist und besonders schlecht bezahlt wird.
Sind die Schwestern und Pfleger nun im Krieg, wie man es glauben könnte, wenn man den Reden von Politikern wie Johnson, Trump oder Macron glaubt? In ihrem Heft ist davon nichts zu hören und zu spüren. „Pflegefachpersonen gehören mit Medizinerinnen und Medizinern zu den Berufsgruppen, die die gegenwärtige Coronavirus-Krise am stärksten herausfordert,“ schreibt der Chef des Heftes, Stephan Lücke, in seinem Editorial. „Hoch motiviert kämpfen sie in vorderster Reihe gegen einen Gegner, der ebenso unsichtbar wie gefährlich ist. Tagtäglich stehen sie betroffenen Menschen bei und gehen dabei nicht zuletzt das Risiko ein, sich selbst zu infizieren.“
Die Infizierten sind ihnen anvertraut, getrennt von ihren Familien und deshalb besonders angewiesen auf die Zuwendung der Schwestern und Pfleger. In den großen Krisen der Menschheit wird die Familie normalerweise zur Schicksalsgemeinschaft. COVID-19 aber, und das beschreibt die tückische Angst, die es in der Generation der Großeltern auslöst, zerstört neben Lungen dieses Urvertrauen in die Familie: Um das Virus zu bekämpfen, muss der Mensch die Familien zerlegen in die Gefährder und die Gefährdeten, und er muss sie voneinander isolieren.
Der Feind ist im doppelten Sinn ein innerer Feind: Er attackiert unsere Körper, und er attackiert unser Denken; er attackiert unser Leben, auch wenn wir überleben, er attackiert unser Denken, auch wenn wir nicht infiziert sind.
Auch ich befinde mich im Krieg mit mir, die Front verläuft quer durch mein Hirn. Der besorgte Bürger in mir kämpft mit dem hoffnungsvollen Bürger. Da ist die Armee der verzweifelten Gedanken, die jeden Tag Zulauf bekommt aus den Medien und Gesprächen. Und da ist die Armee der Erinnerungen, die hofft und tröstet, die darum kämpft, auch in den kleinsten Dingen eine beruhigende Zukunft zu sehen. Der innere Bürgerkrieg zwischen Angst und Zuversicht, zwischen Verlust und Anpassung, zwischen Sehnsucht und Einsicht trägt jede und jeder aus, wer diesen inneren Streit nicht zulässt, belügt sich, wer sich das nicht eingesteht, hat kein Herz oder kein Hirn.
„In diesen Tagen erscheinen weltweit unzählige Veröffentlichungen, die den fachlich angemessenen Umgang mit dem Coronavirus betreffen. Laufend kommen neue Beiträge hinzu, sodass die Gesamtschau immer unübersichtlicher wird“, so beschreibt der Heft-Chef die Informationsschlacht, die in den Köpfen der Schwestern und Pfleger tobt. Es ist ein Krankenpfleger, der auf Infektiologie spezialisierte Fachjournalist Hardy-Thorsten Panknin, der in einem Report die Studienlage sichtet und die für Schwestern und Pfleger wichtigen Informationen zusammenträgt – darunter die aktuellen klinischen Informationen und alle Empfehlungen des Robert Koch-Instituts zu Hygienemaßnahmen im Rahmen der Behandlung von Patienten mit SARS-CoV-2.
Thomas Alipass arbeitet im Universitätsklinikum Düsseldorf auf der legendären Station MX Eins, die einst für den Kampf gegen HIV geschaffen wurde. Im Artikel von Herzog wird er so zitiert: „Damals gab es auch auf einen Schlag plötzlich sehr viele Patienten mit einer seinerzeit ebenfalls nahezu unbekannten Erkrankung und wir mussten zusehen, wie wir am besten damit umgehen. Für Corona haben wir unsere Station erst mal komplett geräumt und unsere letzten HIV-Patienten, Tuberkulosefälle und Tropenerkrankte auf anderen Stationen untergebracht.“
Wie real ist für die Pflegenden die Gefahr, sich selbst bei einem Patienten anzustecken? Alipass: „Wir werden regelmäßig von unserem Koordinator geschult und natürlich sind wir bereits durch AIDS oder auch durch die SARS-Erkrankungen, die 2003 auftraten, ge- wohnt, uns bestmöglich vor Ansteckungen zu schützen.“ Sie tragen wasserabweisende Kittel, Handschuhe mit langem Schaft, der über die Ärmelenden des Kittels gezogen wird, dazu eine Haube, eine Schutzbrille sowie einen Mundschutz der höchsten Sicherheitsstufe FFP3.
„Wenn wir sehr nah am Patienten arbeiten, wenn er zum Beispiel inhaliert oder wir Sekret absaugen, schützen wir zusätzlich unser Gesicht mit einem Visier aus durchsichtigem Kunststoff.“ Die Arbeit in den dichten Kitteln, Masken und Schutzbrillen ist anstrengend: „Das Atmen ist natürlich erschwert.“
Mehrmals am Tag „verkleiden“ sich die Pflegenden auf den Corona-Stationen für ihren Einsatz in den Patientenzimmern, prüfen den Sitz der Beatmungsschläuche, messen die Körpertemperatur, helfen den Patienten beim Abhusten oder erneuern Infusionen. Manchmal ist es erforderlich, dass Patienten – etwa zum Röntgen oder für einen Lungenfunktionstest – in andere Behandlungsräume gebracht werden müssen: „Dann sind wir zu dritt, zwei von uns stützen den Patienten und eine Kollegin geht voran, um mit dem Infektionstuch die Türen für uns zu öffnen“.
Angesichts des flächendeckenden Personalmangels sind bundesweit zusätzliche Überstunden und Sonderschichten durch die Pandemie programmiert. Wann sollten Pflegende trotz des erhöhten Bedarfs spätestens die Reißleine ziehen? „Wenn sie anfangen, wegen Ermüdung Fehler zu machen“, sagt Thomas Alipass. „Denn Fehler, besonders beim Hygieneschutz, können wir uns nicht leisten. Ich hätte neulich z. B. nach acht, neun Stunden in der Schicht beinahe vergessen, die Schutzbrille aufzuziehen, weil ich schnell zu einem Patienten wollte, der geklingelt hat. Da merkt man: Jetzt brauchst du eine Pause!“ Die Hoffnung: Dass nun der chronische Personalmangel der Vergangenheit angehört.
Natürlich tue es gut, wenn Pflegende in aller Welt für ihre tägliche Arbeit nun auch zunehmende Wertschätzung in der Bevölkerung erfahren. „Die Menschen, die in Italien oder Spanien singen und klatschen, das ist schon toll! Hier in Deutschland waren die Beifallsbekundungen bislang allerdings noch etwas zögerlich.“
Der eindringlicher Appell des Assistenzarztes Dr. Daniele Macchini aus dem norditalienischen Bergamo an die Bevölkerung: „Haben Sie Geduld, wenn Sie nicht ins Theater, Museum oder Fitnessstudio gehen können. Versuchen Sie, an die älteren Menschen zu denken, die man mit tödlichen Folgen anstecken kann.“
„Die Schwester, der Pfleger“ ist das Heft, das mehr bietet als das wohlige Schaudern, wenn man abends auf dem Balkon steht und Schwestern und Pfleger beklatscht. Es bietet den Blick in die Gegenwart, hinter die Türen der Intensivstationen, hinter die Atemschutzmasken. Und es bietet den Blick in die Zukunft, in der es darum gehen muss, Schwestern und Pfleger entsprechend ihrer Leistung und ihrer Bedeutung zu bezahlen, in der es darum gehen muss, das Gesundheitssystem so krisenfest zu machen, dass keine Intensivbetten, Masken und Beatmungsgeräte fehlen, wenn das nächste Virus uns heimsucht.
„Die Schwester, der Pfleger“
„Die Fachzeitschrift für professionell Pflegende“
Monatszeitschrift
Ausgabe 4/2020
98 Seiten
E-Paper
5,99 Euro
4 Kommentare
Sehr vielen Dank für diesen Artikel.
Was aber die Quintessenzen angeht: nach der Krise wird in der Rezession sein, das ist schon allenthalben zu hören/lesen. Ebenso, dass die Macher der Bertelsmann-Studie überhaupt keinen Grund sehen, von ihrer Forderung, Krankenhäuser in Deutschland zu schließen, abzusehen. Ergo wird es im Gesundheitssektor weiterhin beim tolerierten Notstand bleiben und das medizinische Fachpersonal sich weiterhin mit warmen Worten (und dem Applaus) begnügen müssen. Denn das Geld, nein, das wird anderswo gebraucht werden. Bis zur nächsten Pandemie
Bemerkenswert: Während der Rezensent den sachlichen Grundton der Zeitschrift lobt, drückt er selbst völlig enthemmt auf die Drama-Tube:
„Der Feind ist im doppelten Sinn ein innerer Feind: Er attackiert unsere Körper, und er attackiert unser Denken; er attackiert unser Leben, auch wenn wir überleben, er attackiert unser Denken, auch wenn wir nicht infiziert sind.
Auch ich befinde mich im Krieg mit mir, die Front verläuft quer durch mein Hirn. Der besorgte Bürger in mir kämpft mit dem hoffnungsvollen Bürger. Da ist die Armee der verzweifelten Gedanken, die jeden Tag Zulauf bekommt aus den Medien und Gesprächen.“
Bleibt zu hoffen, dass der/das nächste Virus nicht schneller kommt, als wir diese (völlig überzogene) Lockdown-Krise mit Millionen Arbeitslosen überwunden haben werden. Für die Pflegenden selbst mache ich mir keine Illusionen und Hoffnungen auf eine signifikante Besserung.
Schwestern und Pfleger – die besten ihrer Zunft – vereinen Professionalität mit Herz. Für ersteres verdienen sie anständige Gehälter und Arbeitsbedingungen, die sowohl Patienten-/Bewohnersicherheit als auch Arbeitsschutz gewährleisten. Für letzteres gebührt ihnen Respekt – denn Herz und Herzensbildung sind unbezahlte und unbezahlbare, frei geschenkte Leistungen, ohne die das Gesundheitswesen in kalte Technologie abgleiten würde. Es gilt den Betriebswirtschaftlern und Effizienzaposteln die Kandarre anzulegen, daß sie gehindert werden, einer menschenwürdigen Pflege die Luft zu nehmen, sie regelrecht zu strangulieren.
Sehr vielen Dank für diesen Artikel.
Was aber die Quintessenzen angeht: nach der Krise wird in der Rezession sein, das ist schon allenthalben zu hören/lesen. Ebenso, dass die Macher der Bertelsmann-Studie überhaupt keinen Grund sehen, von ihrer Forderung, Krankenhäuser in Deutschland zu schließen, abzusehen. Ergo wird es im Gesundheitssektor weiterhin beim tolerierten Notstand bleiben und das medizinische Fachpersonal sich weiterhin mit warmen Worten (und dem Applaus) begnügen müssen. Denn das Geld, nein, das wird anderswo gebraucht werden. Bis zur nächsten Pandemie
Bemerkenswert: Während der Rezensent den sachlichen Grundton der Zeitschrift lobt, drückt er selbst völlig enthemmt auf die Drama-Tube:
„Der Feind ist im doppelten Sinn ein innerer Feind: Er attackiert unsere Körper, und er attackiert unser Denken; er attackiert unser Leben, auch wenn wir überleben, er attackiert unser Denken, auch wenn wir nicht infiziert sind.
Auch ich befinde mich im Krieg mit mir, die Front verläuft quer durch mein Hirn. Der besorgte Bürger in mir kämpft mit dem hoffnungsvollen Bürger. Da ist die Armee der verzweifelten Gedanken, die jeden Tag Zulauf bekommt aus den Medien und Gesprächen.“
Bleibt zu hoffen, dass der/das nächste Virus nicht schneller kommt, als wir diese (völlig überzogene) Lockdown-Krise mit Millionen Arbeitslosen überwunden haben werden. Für die Pflegenden selbst mache ich mir keine Illusionen und Hoffnungen auf eine signifikante Besserung.
Schwestern und Pfleger – die besten ihrer Zunft – vereinen Professionalität mit Herz. Für ersteres verdienen sie anständige Gehälter und Arbeitsbedingungen, die sowohl Patienten-/Bewohnersicherheit als auch Arbeitsschutz gewährleisten. Für letzteres gebührt ihnen Respekt – denn Herz und Herzensbildung sind unbezahlte und unbezahlbare, frei geschenkte Leistungen, ohne die das Gesundheitswesen in kalte Technologie abgleiten würde. Es gilt den Betriebswirtschaftlern und Effizienzaposteln die Kandarre anzulegen, daß sie gehindert werden, einer menschenwürdigen Pflege die Luft zu nehmen, sie regelrecht zu strangulieren.